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I now walk into the wild
Es gibt auch große Momente, Momente, auf die du dich lange vorbereitet hast, die sich so anfühlen. Das kann ein Konzert sein, das kann der erste Ton eines Liedes sein, das für dich die Welt bedeutet, deine Welt. Das Jahre deines Lebens in sich trägt, die es dir jetzt vor die Füße wirft, während du nicht mal ansatzweise in der Lage bist, diesen Jahren in die Augen zu sehen. Weil du sie in eben diesem Lied versteckt hast. Und dann kommt der erste Ton und dein Haus fällt zusammen. All die Jahre, die du daran gebaut hast, sind dahin. Du stehst nur noch vor Trümmern. Vor Trümmern, die dir die Möglichkeit geben, ein ganz neues Haus zu bauen. Du weißt, es wird irgendwann, in genau so einem Moment, wieder einstürzen, aber jetzt, jetzt gerade bist du dankbar, dass du es neu aufbauen darfst. Und dann kannst du dich fallen lassen, es ist wie eine Tragödie, aus der du am Ende gereinigt emporsteigst, wie der Phoenix aus der Asche. In diesem Moment siehst du dein Leben wie einen Film. Und es ist ja auch ein kleiner Tod, den du erlebst, ein kleiner Tod der Dinge, die vorher waren und nie wieder sein werden.
Du siehst dich, siehst dich selbst, in einem fremden Land, in einer fremden Stadt, wie du ratlos durch die Straßen ziehst. Nebel vermischt sich mit Regen im zwiespältigen Licht der Straßenlaternen. Du hebst den Kopf und kannst ein paar Schuhe sehen. Ein paar Schuhe, das dir anzeigt, dass du hier keine Drogen verkaufen könntest, wenn du es denn wolltest. Dieses Gebiet ist besetzt. Langsam werden deine Schuhe nass, aber du weißt ja gar nicht wo du hingehst.
Es ist drei Uhr nachts, du hast Feierabend und könntest nachhause gehen, solltest nachhause gehen. Aber du willst nicht. Da ist nichts, was auf dich wartet. Jemand, der auf dich wartet, ja, aber du wartest nicht auf ihn. Du hältst den Kopf in den immer stärker werdenden Regen, bleibst langsam stehen, setzt deine Kopfhörer auf und hörst genau dieses eine Lied, in das du jetzt alles hineinlegst, was du fühlst, in das du dich selbst hineinlegst.
Du hast Heimweh, du erlebst gerade dein großes Abenteuer, aber du hast Heimweh. Dir fehlt das Meer und wie es dir in seiner tosenden Brandung die Gischt vor die Füße wirft. Dir fehlt die Gewalt der Natur, die dich jedes Mal aufs Neue zur Besinnung bringt. Die dich Mensch sein lässt. Du willst um Vergebung flehen für ein verlorenes Menschenkind, aber das Meer ist nicht gütig, es ist tragisch. Und es spuckt dich an Land ein jedes Mal aufs Neue. Und so verdammt es dich dazu, ein jedes Mal aufs Neue um Erlösung zu flehen und doch zu wissen, dass es dir diese nicht geben kann. Dass du sie selbst finden musst. Dass du dich selbst finden musst. Also steigst du doch in den Bus, deine Füße nass vom Regen, und fährst nach Hause. Legst dich ins Bett, zu jemanden der auf dich wartet. Aber du wartest auf niemanden.
An einem anderen Abend, es ist drei Uhr nachts, du hast Feierabend und könntest nachhause gehen, solltest nachhause gehen. Aber du willst nicht. Da ist nichts, was auf dich wartet. Jemand der auf dich wartet, ja, aber du wartest nicht auf ihn. Du hast den ganzen Tag nichts gegessen und hast noch immer keinen Hunger. Nur Durst. Also steuerst du aus der Küche direkt an die Bar und lässt dir einen Wodka geben. Und noch einen. Und noch einen. Einen nach dem anderen. So lange, bis auch deine Freunde Feierabend haben. Und dann lassen auch sie sich Wodka geben. Und noch einen. Und noch einen. Einen nach dem anderen. Einer nach dem anderen bedient die Jukebox. Ein Meer aus Stimmen, das dich einhüllt, in das du dich fallen lassen kannst. Ein Meer, das dein Heimweh und deinen Durst verschlingt. Ein Meer, das dich nach Stunden wieder ausspuckt, wenn alle nachhause gehen. Zu Menschen, die auf sie warten.
Du kannst nicht mehr nachhause gehen, dein Durst war zu groß und du hast ihn gestillt. Du bleibst im Hostel, deine Freundin nimmt dich mit auf ihr Zimmer, aber da kannst du nicht bleiben, weil du es nicht aushältst. Du bist so betrunken, dass du nicht klar denken kannst und der Schmerz langsam beginnt, auf dich einzustürzen. Du wolltest dich doch immer ins Meer stürzen, denkst du dir. Jetzt stürzt sich das Meer auf dich und du kannst es nicht ertragen. Flehst um Erbarmen für das verlorene Menschenkind, aber das Meer ist nicht gütig, sondern tragisch und reißt dich nach unten. Immer und immer wieder, bis du vor lauter Tränen nicht mehr atmen kannst. Irgendwie hast du es in die Dusche geschafft, ausziehen konntest du dich nicht mehr. Das Wasser prasselt auf dich ein, während du am Boden liegst. Nach dir die Sintflut.
Also beginnst du, die Steine zu betrachten und zu überlegen, was sich daraus bauen lässt. Lange sitzt du zwischen den Ziegeln und
denkst einfach nur nach. Du willst was Gutes bauen, etwas das bleibt. Etwas, das nicht in sich zusammenfällt.
Und dann gibt es noch andere Momente. Momente in denen du verstehst, dass du Dinge nicht ändern kannst. In denen du begreifst, dass Dinge Zeit brauchen, dass aber Zeit Wunden heilen kann. In solchen Momenten sitzt du vielleicht gerade im Auto, nachts um drei. Du bist wieder zuhause, nicht mehr auf der anderen Seite der Welt. Und während du mit deinem Auto durch die Nacht fährst, niemand, keine Menschenseele weit und breit zu sehen ist, musst du auf einmal das Fenster herunterkurbeln. Weil dir heiß ist, viel zu heiß in diesem engen Auto. Kalt und beißend strömt dir die Luft durch das Fenster entgegen und du beginnst zu frieren, aber dein Kopf wird endlich klar. Endlich kannst du wieder atmen, ein Zug nach dem anderen.
Für einen Moment überlegst du, dir eine Zigarette anzuzünden, aber dafür hast du keine Hand frei, müsstest rechts ran fahren. Also lässt du das Fenster noch ein Stück weiter nach unten und streckst den Kopf in den Fahrtwind.
Und in diesem Moment stürzt dein Haus nicht zusammen, in diesem Moment reißt du alles, was du sorgfältig aufgebaut hast, Stein für Stein, wieder ein. Zerschlägst es aus eigener Kraft, solange bis alles in Trümmern liegt. Rasend vor Wut schaffst du es endlich, nach so vielen Monaten, Ruhe in dein Chaos zu bringen.
In so wenigen Sekunden fluten so unendlich viele Gefühle auf dich ein. Trauer, weil du nicht mehr am anderen Ende der Welt bist, weil du wieder krank geworden bist, weil du wieder aufgehört hast zu essen. Weil du wieder begonnen hast, zu hungern aus Angst. Angst, davor, allein zu sein. Angst vor so vielen Abenteuern. Angst vor dem Gedanken, dass du so viele Abenteuer nie erleben wirst. Und Wut. Wut, weil genau diese Angst wieder einmal wahr geworden ist. Wut auf dich selbst.
Und dann tust du das, was du schon vor so vielen Monaten hättest tun sollen, in so vielen anderen Momenten. Du hältst den Kopf in den Wind und schreist, schreist in die Nacht. Schreist in die Stille bis du keine Stimme mehr hast. Schreist Leben in die Dunkelheit, so wie das Leben damals in dich hinein geschrien hat, um dich endlich aus dieser Dunkelheit zu zerren.
Und in dem Moment, in dem dir klar wird, wo du eigentlich hingefahren bist, auf dem Weg, der eigentlich nachhause führen sollte, ist da nur noch Stille. An dir vorbei ziehen kilometerweite Salzwiesen, auf denen die Schafe friedlich schlafen. Die Scheinwerfer deines Autos die einzige Lichtquelle in dieser tiefschwarzen Dunkelheit.
Weiter und weiter, bis du beinahe das Gefühl hast, die Nacht hätte dich bei lebendigem Leibe verschlungen. In dieser Finsternis lässt du den Motor ersterben, verlässt das Auto, ohne abzuschließen und atmest die salzige Luft ein. Während du die wenigen Stufen den Deich hinauf läufst, hörst du die Brandung schon auf der anderen Seite mit roher Gewalt dagegen schlagen. Stufe für Stufe gehst du weiter, bis dich und das Meer nur noch wenige Schritte trennen. Und dann im Mondschein stehst du das erste Mal nach so viel Verwirrung allein im Angesicht der Natur. Das Meer spuckt dir seine Gischt vor die Füße und du beginnst, dich auszuziehen. Stück für Stück, ein Stück nach dem anderen. Schritt für Schritt, ein Schritt nach dem anderen, bewegst du dich Richtung Wasser. Es ist ganz still. Deine Gedanken sind still.
Irgendwann, irgendwann wenn das alles einmal ganz weit weg ist, wird dich mal jemand nach dem Moment fragen, in dem du dich das erste Mal lebendig gefühlt hast. In dem du das erste Mal Freiheit geatmet hast. In dem du das erste Mal du selbst warst. Der Moment, in dem die Wolken sich gelichtet haben und du den Mondschein sehen konntest.