I have a dream...
I have a dream...
"...und zudem muss die Sachlage erst gründlich geprüft und ausgewertet werden, bevor wir Ihnen Kredit gewähren können, Herr Wunschel."
Während meine rechte Hand kleine Bleistiftzeichnungen auf eine der Myriaden von Akten kritzelt, hält meine Linke den Telefonhörer fest, aus dem nun erneut Herrn Wunschels infantile Überredungsversuche auf mein Ohr prasseln. Bei Phrasen wie "aber ich schwöre Ihnen, ich werde den Kredit gewinnbringend verwenden" oder "ich brauche das Geld so dringend, es ist ein Notfall" schaltet mein Gehör mittlerweile automatisch auf Durchzug und ich widme meine ganze Aufmerksamkeit dem reichlich gefüllten Dekolleté meiner Kollegin am anderen Ende des Zimmers.
Da der Raum eher klein ist, kann ich alles erkennen, was ich will. Das ist aber auch der einzige Vorteil des kleinen Zimmers. Ansonsten lässt sich unser Zustand durchaus passend mit "zusammengepfercht" beschreiben. Eng aneinander stehen die einfachen Schreibtische aller Angestellten, auf denen je ein PC, ein Telefon sowie ein Stapel Ordner peinlich genau angeordnet sind. Und alles grau in grau. Individuelle Veränderungen schmückender Art sind unerwünscht. Nur mit Hilfe des mit "Maximilian Klughardt" beschrifteten Namensschildes bin ich in der Lage, jeden Morgen meinen eigenen Arbeitsplatz auszumachen. Jeden Morgen, wenn ich unausgeschlafen an meinen Platz stürme, nur um ja pünktlich zu sein. Es strengt an und ich kann es nicht leiden, aber alles muss reibungslos ablaufen, alles muss funktionieren. "Ein Rädchen muss ins andere greifen, um den Firmenmotor am laufen zu halten", wie unser Chef zu sagen pflegt.
„...und deshalb müssen Sie mir einfach den Kredit gewähren, Herr Klughardt.“
Das langersehnte Schweigen des Kunden lässt mich aus meiner lethargischen Döserei erwachen und bietet mir die Chance, ihn abzuwimmeln.
„So leid es mir tut, Herr Wunschel, aber eine sofortige Auszahlung des von Ihnen geforderten Kredits ist aufgrund der Höhe des Geldbetrags unmöglich. Aber ich gehe davon aus, dass unsere Schätzer Ihre mit Sicherheit vorhandene Kreditwürdigkeit in wenigen Tagen bestätigen werden und einer Auszahlung dann nichts mehr im Weg steht. Auf Wiedersehen, Herr Wunschel.“
Entnervt lege ich auf und sinke in meinen Bürostuhl. Ich versuche die wenigen Minuten Pause, die mir bis zum nächsten Anrufer vergönnt sind, zu genießen.
Der heutige Tag war ungemein erschöpfend. Meine Augen verlangen nach einer Ruhephase, mein Geist nach Regeneration. Langsam senkt sich mein Kopf und meine Augen lassen sich auch mit größter Anstrengung nicht mehr öffnen.
Just in diesem Moment wird die Tür zum Nebenzimmer wuchtig aufgestoßen. Der Knall lässt mich unsanft aufschrecken und ich sehe den Chef durch die halbgeöffneten Augen geradewegs auf mich zu marschieren. Noch schlaftrunken sehe ich zwar wie er seine Lippen bewegt und wild gestikuliert, doch ich verstehe kein Wort. Was kann er von mir wollen? Habe ich etwas falsch gemacht? Ich kann es mir nicht vorstellen.
„Klughardt, sie dilettantischer Taugenichts. Aufwachen!!“ Jetzt habe ich ihn nur zu deutlich verstanden. „Was glauben Sie eigentlich, wozu Sie hier sind?!“ – glücklicherweise macht die Rhetorik hier eine Antwort unnötig. „Sie sollen arbeiten, nicht faulenzen!“ Ich bin zu keiner Antwort oder Erklärung fähig. Mir bleibt jedes Wort im Halse stecken. Wieso ist er bloß so außer sich?
„Dass Sie mit Ihrer Unprofessionalität und Inkompetenz auch Ihren Mitarbeitern schaden, daran verschwenden Sie keinen Gedanken, oder?“ Wie auf`s Stichwort schnellen alle anderen Angestellten synchron hoch. Roboterartig und mit ausdruckslosen Gesichtern schlagen sie im Chor vor: „Nicht reden, Chef. Bestrafen.“ Wie bitte? Bestrafen? Sind hier alle leicht fehlgesteuert? Mein Güte. „Sie haben wahrscheinlich Recht. Hören Sie, Herr Klughardt? Solch weise Ratschläge hat man von Ihnen noch nicht zu hören bekommen.“
Wie in Zeitlupe beobachte ich, wie der Kerl nun unter sein Sacko greift und dort etwas hervorzieht - eine Pistole. Die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich. Ich kann nichts mehr machen, niemand scheint mir in diesem Moment helfen zu können. Ist dies das Ende?
Ein kreischendes Geräusch zerreißt die Luft als der Kerl abdrückt. Zuerst merke ich nichts, doch dann spüre ich ein Brennen in meiner Brust, welches sich schnell in meinem ganzen Körper auszubreiten droht, um mir alle Sinne zu rauben. In diesen letzten Sekunden meines Lebens, die wie Stunden auf mich wirken, sehe ich nur noch die tristen Gesichter meiner Kollegen. Verdammt. Sollte in einem Moment wie diesem nicht mein gesamtes Leben an mir vorbei ziehen?
„Klughardt! Zurück an die Arbeit, wie es sich gehört!“
Was soll das? Sollte ich jetzt nicht eigentlich tot sein? Verwundert blicke ich an mir hinunter, dort wo mich ein Einschuß soeben tödlich verletzt hat. Blut quillt aus der Wunde hervor. Blut - und ein Kabel. Ein Kabel? Ja, ein Kabel. Diese Situation ist zu verwirrend, um mich wirklich beunruhigen zu können. Da stehe ich nun, der ich eigentlich sterben sollte und betrachte eine Wunde in meiner Brust, aus der das Ende eines Kabels hervortritt. Die Leute um mich herum kümmern sich bereits wieder um ihre Aufgaben, aber das ist mir im Moment egal. Ich ergreife den Draht und ziehe dann, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, mit zwei Fingern die Ränder meiner Wunde auseinander. Die Haut lässt sich ganz leicht lösen. Eine metallische Oberfläche kommt zum Vorschein. Dort, wo die Kugel das Metall durchschlagen hat, sind einige Schaltkreise zu erkennen und ein Gewirr aus künstlichen Adern, durch die Blut gepumpt wird. Immer weiter ziehe ich die Haut von meinem Oberkörper ab; sie fühlt sich zäh und gummiartig an.
In diesem Moment trifft es mich wie ein Blitz. Ich bin nicht der, für den mich alle halten. Ich bin nicht einmal der, für den ich mich bisher selbst gehalten habe. Genau genommen bin ich etwas ganz anderes. In großen Fetzen ziehe ich mir die Reste meiner Haut von meinem Leib bis ich ganz "nackt" dastehe. Eine silbrig glänzende Maschine mit der Gestalt eines Menschen.
Verdammt. Ich bin ein Android.
War denn alles nur Einbildung? Die Eltern, die mich großgezogen haben? Die Kindheit? Alles nie erlebt? Alles nur Programmroutinen, von einem kranken Gehirn erdacht und mir dann als Vergangenheit einprogrammiert? Programmiert zum Arbeiten? Wie lange existiere ich schon? Einen Tag? Ein Jahr? Eine Ewigkeit? Resignation macht sich in mir breit.
„Hey, Max. Der Chef kommt.“
Mit diesen Worten weckt mich einer meiner Kollegen. Hastig blicke ich mich um. Ich taste meinen Körper ab; alles in Ordnung. Bloß ist meine Kleidung von Schweiß durchnässt. Ich schnaufe tief durch. Was für ein seltsamer Traum. Erschreckende Vorstellung, nur ein Roboter zu sein, nur für die Arbeit geschaffen. Mittlerweise hat sich der Chef vor meinem Platz postiert.
„Klughardt, hier sind noch einige Akten, die sie heute noch überprüfen müssen. Eventuell bedeutet dies Überstunden für sie, aber zum Arbeiten sind wir ja hier, nicht wahr?“
Es läuft mir kalt den Rücken runter. Die Worte strömen wie von selbst aus meinem Mund: „Tut mir leid, Sir. Ich kündige.“
[ 27.05.2002, 16:09: Beitrag editiert von: Storyteller X ]