I´ve got sunshine...
Ich kenne sie Inn- und auswendig, praktisch mein ganzes Leben lang. Sie sieht gern die Late Night Show auf Kanal 9. Sie sagt, Jay Lenno sei ein fabelhafter Typ. Und diese Show würde zu ihrer Entspannungstherapie gehören, ebenso wie die Spiele der Washington Redskins. Ich kenne Mr. Fluffy, ohne den sie niemals schlafen geht. Selbst heute noch. Er liegt rechts neben ihr auf seinem eigenen, kleinen Kissen. Unter seiner eigenen, kleinen Decke. Ein zotteliger Flofänger und das weiß Gott.
Wenn ich bei ihr übernachte reißt sie Mr. Fluffy jedes Mal exzentrisch von mir. Aus Angst, ich könnte versehentlich drüber rollen ... während ich von Denzel Washington in engen Boxershorts träume. Wenn wir zusammen sind, haben wir Gedankenübertragungen. Als wären wir seelisch miteinander verkabelt. Ich brauche sie nur anzusehen um zu wissen, was sie denkt oder fühlt. Sie liebt diese grünen, eklig sauren Apfelringe. Ich weiß, welchen Film sie niemals sehen würde, selbst wenn sie ´ne Karte geschenkt bekäme. Ich kenne ihren Lieblingswitz und ich weiß, welchen Nagellack sie besonders gern aufträgt. Und daß sie lieber Ketchup zu ihren Kartoffelstäbchen mag. Ich kenne ihre Macken, genauso wie sie meine kennt. Im Grunde wissen wir alles, was beste Freunde voneinander wissen sollten.
Libby und ich gingen zusammen in die erste Klasse der Junior High in Baytown / Houston. Von Anfang an saßen wir im Unterricht nebeneinander, teilten unsere Sandwiches, mochten die gleichen Fächer und hatten sie selben Freunde. Wir verbrachten den größten Teil unserer Kindheit gemeinsam. Libby wohnte eine Straße weiter, nur einen Katzensprung entfernt, in der Main Street Ecke Greenwich. Jeden Tag nach der Schule trafen wir uns. Wir rannten den ganzen Weg nach Hause, schmissen unsere vollen Rucksäcke in die nächst gelegene Ecke, zogen unsere Wohlfühljeans an und trafen uns anschließend in ihrem Baumhaus. Manchmal spielten wir Gericht, nur so zum Zeitvertreib. Das mag komisch klingen aber das war damals unsere Art Streitigkeiten zu beseitigen. Je nachdem wie die Strafe ausfiel mußte der Verurteilte einen Dollar oder fünfzig Cent in unser gemeinsames Sparschwein geben. Nach zwei, drei Wochen zerschlugen wir das Schwein und holten uns Eis und Süßigkeiten an der Ecke. So viel, daß wir nach der Freßorgie mit bösen Bauchschmerzen auf dem Rasen hin und her rollten. Für Mr. Wheeler, dem der Laden gehörte, waren wir eine gute Einnahmequelle, denn wir hatten oft Streit.
Im Winter fuhren wir Schlitten, rodelten kleine Berge hinunter und lieferten uns mit Freunden wilde Schneeballschlachten. Susan Hill hat es sogar einmal die Zahnspange raus geschleudert. Sie blieb im Schneemann stecken. Wir konnten es nie erwarten, ganz warm eingepackt, auf sie Straßen zu gehen und Unfug zu machen.
Im Sommer spielten wir bis spät, wenn der Himmel am Horizont begann sich glutrot zu färben, im Park Baseball. Einmal hatte sie fast einen Homerun. Der Wurf landete jedoch nicht im Innenfeld, sondern im Trinity River. Dakota sprang in das Wasser und brachte den Baseball schwanzwedelnd zu uns zurück. Das wäre Babe Ruth wohl nie passiert.
Wenn wir dann spät nach Hause kamen, sahen wir aus wie kleine Dreckteufel. Da standen wir. Mit zerschlissenem Sweatshirt, Grasflecken auf der Jeans, den Baseballschläger schlaff in der Hand hängend und mit Sand in der Boxershort, während eine engelsgleiche Unschuldsmiene auf unseren Gesichtern haftete.
Wir genossen es, im Baumhaus zu übernachten. Das taten wir meist, wenn ihre Eltern Aus waren. Dann nahmen wir Kekse und Milch mit aufs Dach, wickelten uns in dicke Decken und lasen bis in die Nacht Comics. Der Sommer brachte wunderbar milde Luft mit sich, als würde ein Engel über dein Gesicht streicheln.
Einen Sommer, das muß irgendwann in den 80ern gewesen sein, fuhren wir mit unserer Klasse in ein Camp nach Clarksdale / Tennessee. Es lag direkt am White River und alles blühte in den schönsten Farben. Ich teilte mit Libby ein Zelt, erkundete mit ihr die Pfade und wir verliebten uns in die selben Jungs. Tag und Nacht schwärmten wir von ihnen und dachten uns Tagträume aus. Nie hätten wir uns wegen eines Jungen gestritten. Nicht mal wegen Bobby James mit den schönen braunen Augen.
Am Lagerfeuer knabberten wir klebrige Marshmallows, steckten unsere Köpfe zusammen und heckten wieder lustige Streiche aus. Mrs. Rogers, eine der Betreuerinnen, war vollkommen abgetreten. Sie balancierte ihren kräftigen Körper wie in Trance hin und her, während sie mit finsterer Miene an ihrer Gitarre zupfte. In Gedanken war sie sicher in Woodstock und konnte die Glückseligkeit und die einhergehende Liebe der Sonnenkinder förmlich fühlen.
Ashley Henderson ging in unsere Klasse. Eine labile, blöde Kuh. Ständig hielt sie sich für etwas Besseres. Bis Libby Ashleys Mundwerk mit Sand stopfte. Das ist Libby, wie sie leibt und lebt. Immer offen für eine nette Konversation.
Daß Ashley Henderson auch bei der halben Lehrerschaft so beliebt gewesen war lag daran, daß der größte Teil Spenden der in die Schule floß vom Konto ihrer Eltern kam. Sie war hauptsächlich damit beschäftigt kund zu tun, wie begabt und schön sie war. Von klein auf nahm sie Balettunterricht und sang nebenbei in einem der angesehensten Kinderchöre Houstons. Pausenlos warf sie mit gelangweilter Geste ihre blonde Lockenpracht über die Schulter und ihre Art zu gehen sollte den Anmut eines Schwans verkörpern. Vergeblich, denn unglücklicher Weise wirkten die Versuche, als hätte sie einen Stock im Hintern oder eine grausame Infektion.
An einem Tag planten wir eine Nachtwanderung. Punkt ein Uhr trafen wir uns. Am Rande des Waldes an einem alten, verkommenen Wanderpfad. Ungefähr dreihundert Meter vom Camp entfernt. Mit Taschenlampen gaben wir uns gegenseitig Lichtsignale um uns nicht aus den Augen zu verlieren. Bei einer kleinen abenteuerlustigen Zwergentruppe weiß man nie ... Es war eine schöne Nacht, wie in einem Bilderbuch. Die Stimmung war perfekt und das Zusammengehörigkeitsgefühl riesig. Und das, obwohl Ashley sich eingeklinkt hatte. Wir sangen Lieder, unterhielten uns und erzählten einander schaurige Geschichten. Trevor Williams versuchte uns tatsächlich glaubhaft zu machen, er hätte erst vor ein paar Tagen irgendwo gelesen, daß ein Mann ganz in der Nähe umher geistern würde. Ein Mörder. Nicht gerade eine Geschichte für schwache Nerven ... oder kleine, reiche Kinder die mit elf Jahren schon Beruhigungstabletten zu sich nehmen.
Plötzlich knackte es bedrohlich dicht hinter uns. Wie vom Teufel besessen riß Ashley Henderson die Arme in die Luft, begann zu brüllen als hätte sie den Schlußverkauf bei Bloomingdales verpaßt und rannte in die falsche Richtung davon. Natürlich hatte Trevor gelogen, denn das Einzige was Trevor damals las waren Spiderman Comics. Sonst nichts.
Ashley war verdammt schnell, das mußte man ihr lassen. Wir riefen ihren Namen quer durch den Wald, sie solle gefälligst stehen bleiben. Wo sie lang rennt, das sei der falsche Weg. Keiner achtete mehr auf den Pfad. Uns war klar, daß wir uns jeder Zeit verlaufen konnten, würden wir Ashley nicht bald einholen. Nach minutenlanger Hetzjagd holten wir sie ein, griffen nach ihr und zogen sie schließlich zu Boden. Ashley war völlig aufgelöst, euphorisch und schrie uns an. Angestrengt und zwecklos versuchte sie sich nichts anmerken zu lassen, während sie hocherhobenen Hauptes, uns voran, zum Camp zurück lief. Obwohl keiner ein Wort verlor wußten wir alle, daß uns diese Nacht, ´89 in Clarksdale / Tennessee, noch lange Zeit im Gedächtnis bleiben würde. Aber auch wenn Ashley es niemals zugeben würde, hatte sie vermutlich mehr Spaß in dieser einen Nacht, als in ihrem ganzen bisherigen Leben.
Die Sommer waren die Besten.
Als es an der Zeit war, sich für ein Collage zu entscheiden, trennten sich unsere Wege. Libby zog in ein anderes Viertel und ich tat das Gleiche. Die Distanz wurde größer. Die Kindheit war vorbei. Es war an der Zeit, sich Gedanken über die Zukunft zu machen, das Nest zu verlassen und seinen eigenen Weg zu finden. Und ihn zu gehen. Mehr und mehr verloren wir uns aus den Augen. Wir telefonierten und schrieben uns zwar aber auch diese Abstände wurden größer. Nie hätte ich gedacht, daß es soweit kommen und unsere Freundschaft auf eine solch harte Probe gestellt werden würde. Wenn es unsere knapp bemessene Zeit zuließ trafen wir uns. Aber die Spannungen zwischen uns waren so unerträglich, daß ich einen Vorwand suchte, um nur schnell wieder zurück fahren zu können. Es war nicht mehr das selbe. Wir hatten uns nichts mehr zu sagen. In der Junior High konnte ich es gar nicht erwarten Libby am nächsten Tag wieder zu sehen. Und nun konnte ich nicht schnell genug von ihr los kommen?
Das Collage macht einen reifer und sehr viel nachdenklicher. Es bringt uns dazu Dinge zu hinterfragen und nicht alles einfach hinzunehmen oder blind zu akzeptieren. Zu den Auseinandersetzungen hat jeder seinen Teil beigetragen. So gut er konnte. Ich für meinen Teil war nicht länger bereit eine Stunde lang nach Freeport zu Libby hinaus zu fahren. Im Grunde für nichts. Ich fragte mich, wieso sie nicht Verständnis aufbringen und mir ein wenig entgegen kommen konnte. Ich suchte beinahe krampfhaft nach einem Grund sie sehen zu wollen. Fand jedoch keinen plausiblen der mich wenigstens glauben ließ es wäre nicht völlig umsonst. Bequemlichkeitsstreitereien und Frustbekämpfungsattacken bringen es tatsächlich fertig einen Keil in die wichtigste Beziehung eines Menschen zu treiben. Sie sollte endlich los lassen und neue Freunde finden. So wie ich es tat. Wie jeder Teenager. Ich gebe ja zu, daß ich mich aufführte wie Norman Bates am Muttertag. Was soll ich sagen. Ich war der neuen Situation nicht gewachsen. Eines Tages sagte ich ihr klipp und klar, daß ich glaube mein Leben langsam in den Griff zu kriegen. Ich mich so wohl fühle und nicht vor hätte daran etwas zu ändern. Ihretwegen. Daß ich nichts vermissen würde. In diesem Moment wußte ich, daß ich mich selbst belogen hatte. Natürlich fehlte sie mir! Wie auch nicht. Immerhin gehörte sie zu meinem Leben wie Dennis Rodman zu den Chicago Bulls. Ich hatte Probleme einzusehen, daß unsere gemeinsame Kindheit vorbei war. Und das Peter Pan Syndrom nur Fiktion. Keine Schneeballschlachten mehr in Baytown / Houston. Keine Pyjamapartys mit Popcorn und herzerweichenden Liebesschnulzen. Auch kein stundenlanges zurecht machen im Bad fürs Kino. Weder Wettrennen durch den Rasensprenger, noch nächtliche Aktivitäten mit Comics und Nat King Cole. Ich sträubte mich vehement dagegen einzusehen, daß von nun an alles anders werden würde. Das erwachsen werden begonnen hatte. Der Ernst des Lebens. Sein wir doch ehrlich. Das Leben überrollt uns. Es rollt also daher mit seinen Veränderungen und Schwierigkeiten und dabei ist es ihm scheißegal, wie wir uns dabei fühlen. Wer tauscht schon gern seine Comicsammlung gegen ein paar Schulbücher.
Wir haben eingesehen, einsehen müssen, daß es nun mal so läuft im Leben und wir nie wirklich zur Ruhe kommen. Was wir durchmachten war eine weitere Station auf dem Weg zum erwachsen werden. Die wir aber gemeinsam meistern konnten.
Nun habe ich die Gelegenheit eine völlig neue Libby, eine verantwortungsbewußte, selbstständige junge Frau kennen zu lernen, die offensichtlich genau weiß was sie vom Leben erwartet. Und das macht mich stolz. Irgendwann einmal möchte jeder mehr Unabhängigkeit erlangen. Von den Eltern, den Freunden und den anderen Menschen, die einen bis zu einem bestimmten Punkt im Leben immer begleitet haben. Ich möchte aber keine Unabhängigkeit in der Form, wenn ich dafür auf meine beste Freundin verzichten muß. Ich glaube jeder braucht jemanden, der sich zum x-ten Mal „Während du schliefst“ ansieht. Ihr wisst schon. Einen wirklich guten Freund, der uns zur Seite steht und für uns da ist, wenn wir ihn am dringendsten brauchen. Bei allem, was das Leben für uns bereit hält. Und außerdem ... was hätte denn Thelma bloß ohne Louise gemacht?