- Beitritt
- 12.04.2007
- Beiträge
- 6.508
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Hysteron proteron oder Die wirklich wahre Geschichte der O…
oder
Die wirklich wahre Geschichte der O…
Schlager & Volksmund / -weisheit
Dieser Roman ist nicht für dich, meine Tochter. In Ohnmacht!
Schamlose Posse! Sie hielt, weiß ich, die Augen bloß zu.«
H. v. K. auf erste Reaktionen auf die Novelle im Phöbus, 1808
Am Anfang war Eros.
Ohne ihn wäre nichts.
Gäb’ weder Wort noch Tat.
Allein Stille wäre.
Früher wurde gesagt, Aphrodite sei Mutter des Eros und Zeus sein Vater, was ebenso viel gilt wie die verrückte poetische Vorstellung, Eros entspringe einer Verbindung des Regenbogens mit dem Westwind. –
Doch könnte das sein?
Das dürfe nicht sein,
rufen aufgebrachte Bürger und trachten, die gute Ordnung wiederherzustellen. Im Namen des Vaters werden Väter ausgewechselt. An Stelle des Zeus rückt Ares. Will denn niemand sehen, wie unter seiner Regentschaft Bosheit wächst im Maße nackter Begierde, dass der Bruder des Eros obsiegt, Tartaros!?
Still wird es am Ende.
Nicht einmal vier Monate nach dem großen Gemetzel, das wegen seiner Dauer euphemistisch als ein weiterer Dreißigjähriger Krieg Eingang in die Annalen finden wird, hat eine seltsame Annonce in überregionalen Zeitungen selbst unter Siegermächten breite Aufmerksamkeit gefunden, lässt doch in dieser Anzeige die verwitwete Markgräfin von O…, eine Dame und Mutter vortrefflichen Rufs, bekannt machen, dass sie ohne Wissen in andre Umstände gekommen und dass der Vater zu dem Kinde, das sie gebären werde, sich melden solle, denn sie sei entschlossen, aus Rücksicht gegenüber der Familie ihn zu heiraten.
Der Markgraf, Nachkomme einer altehrwürdigen Familie von Ordensleuten in Kutte und Kettenhemd, welche als Eroberer gekommen waren und durch verbriefte Rechte und Sondervollmachten in den östlichen Reichsmarken Gott und Übermensch vertreten hatten, war an der östlichen Heimatfront gegenüber einem übermächtigen Heer der Rus den Heldentod gestorben, was einem Mann seines Standes auch angemessen erscheinen mag, insofern niemand von Kriegsadel und Ehre die Umwälzung aller Welt infolge der Schlächterei gelassen hinnehmen kann.
Diese außergewöhnliche Geschichte erregte nicht nur damals Aufsehen, sie ist auch heute noch bekannt in der Fassung, wie sie der gewesene Offizier und Finanzbeamte, der nachmalige, notorisch erfolglose Dichter Heinz K, ein dem lau mal hier, mal dort wehenden Zeitgeist abgeneigter, mutmaßlicher Vorfahr des an keinem der Fensterstürze zu P beteiligten Versicherungsangestellten Franz K, getreulich nach polizeilicher Aktenlage vorlegte, wobei er freilich den Fall vom Norden nach einer bedeutenden Stadt im Süden, nämlich nach M verlegte, vorgeblich, um die Betroffenen zu schützen, handelt es sich doch um eine wahre Begebenheit – woran dem aufmerksamen Beobachter schon einige Ungereimtheit auffallen muss.
Dem Vater der O kommt besagte Anzeige druckfrisch vor Augen und wird wortlos an die Mutter der O weitergereicht. Aufs lebhafteste betroffen über die Anzeige fragt die Frau den Gatten. „Was - in aller Welt – hältst du davon?“
Der antwortet, ohne seine Schreibarbeit zu unterbrechen: „Oh!, meine Liebe, alles spricht dafür, dass sie unschuldig ist.“
„Wie!“, ruft die verblüffte Frau, „unschuldig?“
„Sie hats im Schlaf getan“, sagt der Mann ohne aufzusehen – dass niemand weiß, ob er’s ironisch meint oder eher ernst. „Oder besser: ’s ist ihr im Schlaf angetan worden.“
„Im Schlaf!?“, versetzt ungläubig die Frau, „und was könnte an einem solchen Vorfall irgend ‚besser’ sein?!“
„Blödsinn!“, ruft der Mann, indem er die Papiere heftig übereinander schiebt und mit einem knurrigen „allzumal Narren“ sich erhebt und weggeht, um Taschenbillard zu spielen.
Am nächsten Morgen liest die Frau beim Frühstück in ihrem Intelligenzblatt eine Antwort dergestalt, wenn die Frau Markgräfin von O... sich am nächsten dritten, elf Uhr morgens, im Hause ihres Herrn Vaters einfinden wolle, so werde sich derjenige, den sie suche, ihr daselbst zu Füßen werfen.
Der Frau verschlägt’s die Sprache. Sie reicht das Blatt dem Gatten. Der aber muss dreimal lesen, um’s einmal zu begreifen, was immer da angekündigt wird, bis die Frau nahezu hysterisch ausstößt: „Nun sag um Himmels Willen, Viktor, was du davon hältst!“, worauf der versetzt: „Nix! - Schamlos und schändlich, die verschmitzte Heuchlerin! - Zehnmal schamloser als jede läufige Hündin, gepaart mit der zehnfachen List des geilen Fuchs’ reichen nicht an ihre! - Diese Miene und diese Augen - kein Engel trägt sie treuer!“, jammert und kann’s nicht fassen.
„Aber was um alles in der Welt, wenn es eine List wäre und zu welchem Zwecke?“, fragt die Frau.
„Was immer sie damit bezweckt“, sagt nun geradezu gelassen der Mann, „sie will den Betrug gewaltsam fortsetzen. – Lass dir sagen, liebe Victoria: Auswendig gelernt ist schon die Fabel von den beiden, die um elf am dritten hier auftreten wollen. Mein liebstes Töchterchen - wie anders soll ich es sagen“, und gackert als ein aufgescheuchtes Huhn, „dass sie es sage? – Dies und das wüsst sie nicht, wer nur könnt solches denken! - Vergebt mir, nehmt meinen Segen und seid mir wieder gut“, und wieder mit dem Ernst einer Bulldogge: „Aber dem die Kugel, der morgens um elf am nächsten dritten über unsre Schwelle kommt! Allzu schicklich wär, ihn durch Bedienstete mit den Füßen zuerst hinauszubefördern.“
Erneut liest die Frau den Artikel und will’s nicht glauben, vermutet lieber ein Spiel des Schicksals und Zufalls, als an die Niedertracht der eignen Tochter zu glauben. Noch bevor sie sich äußert, bellt der Gatte: „Tu mir die Liebe und schweig besser, Victoria!“, ums Zimmer zu verlassen. „Ich hass dies Theater immer mehr, je mehr ich davon hör.“
Wenige Tage später erhält der Mann einen Brief von der O, in welchem sie – da ihr die Gnade der Verzeihung versagt wäre – darum bittet, an besagtem dritten - wer immer da kommen mag - zu ihr heraus aufs Land zu schicken. Victoria bemerkt an seinem Mienenspiel, dass er irre zu werden droht, denn welches Motiv sollte er im Falle des Betruges unterstellen, da die verstoßne einzige Tochter keinen Anspruch auf Verzeihung stellt?
Als der Gatte zum wievielten Male in den Brief hineinschaut, hat die Frau einen Einfall: „Was hältst du davon, wenn ich auf ein’ oder zwei Tage zu ihr hinausfahre?“, dass der Mann befremdet schaut. Die Frau aber meint: „Wenn Ela den kennt, der da geantwortet hat, dann weiß ich, wie sie sich verraten wird und wäre sie gleich die abgebrühteste Verräterin …“
„Ach, geh mir weg!“, ruft der Mann und zerreißt wütend den Brief: „Du weißt, dass ich nichts mehr mit ihr zu schaffen hab! Also was sollt ich von deiner Idee halten?“, couvertiert die Schnipsel ein und adressiert den Umschlag an die Tochter. Victoria aber hat ihren eigenen Sinn und beschlossen, den Plan auch gegen seinen Willen durchzuführen.
Am nächsten Morgen, der Mann liegt noch im Bett, fährt sie aufs Land zur Tochter. Als diese die Stimme der Mutter erkennt, fliegt sie von Gefühlen überwältigt Victoria entgegen. Man umarmt sich und vergießt Tränen unter Ausrufen von Mutter, Mama, Mutti, Ela, Elli und mein Kind! Als die ersten Tränen getrocknet sind, fragt die Tochter vorsichtig, welchem glücklichen Zufall sie den Besuch verdanke und die Mutter fasst die Tochter bei der Hand: „Ich bin gekommen, um Verzeihung zu bitten …“, dass die Tochter ihr ins Wort fällt: „Verzeihung?!“, und will die Mutter küssen, was jedoch abgewehrt wird: „Es war zu hart, dich aus dem Schoß der Familie zu verstoßen. Das wissen wir nun, hatten es mit deiner Anzeige schon geahnt und wurden sicherer mit der Antwort darauf. – Nun - zu unserm großen freudigen Erstaunen hat sich bereits gestern ein Mann auf deine Anzeige hin im Hause gezeigt …“
„Was …?“, fragt verwundert und neugierig die Markgräfin, setzt sich zur Mutter nieder auf den Diwan und fragt angespannt: „Wer hat sich da gezeigt?“
„Er“, erwidert die Mutter, „der Verfasser der Antwort, an den dein Aufruf gerichtet ist.“
„Nun“, fragt die Tochter, „wer?“, und schwer atmend: „Sag, wer ist’s?! – Wer kann es sein?“
Und die Mutter gebraucht eine List: „Das möchte ich dich erraten lassen. –
Denn denke nur, da wir gestern beim Tee und noch über das seltsame Zeitungsblatt uns unterhalten, stürzt ein Mensch herein, den wir alle kennen, gebärden- und wortreich, will sich uns geradezu vor die Füße werfen. Wir wissen nicht, was wir davon halten sollen und Papa fordert ihn auf zu reden. Sein Gewissen lasse ihm keine Ruhe, sagt die Person. Er sei der Schändliche, der dich und uns alle betrogen habe und wisse doch zu genau, wie man Verbrecher beurteile. Wolle man Gerechtigkeit widerfahren lassen, so sei er gekommen, sich selbst darzubieten …“
„Aber wer!“, ruft die Tochter. „Wer?“
„Wie gesagt“, fährt die Mutter fort, „ ein junger, wohlerzogener Mann, dem wir es niemals zugetraut hätten, eine Schandtat zu begehen. Doch erschrecken wirst du nicht. Er ist aus guten, wenn auch einfachen Verhältnissen und frei von allen Forderungen, die sonst an deinen Gemahl gestellt würden.“
„Gleichviel“, ruft die Tochter, „kann er unwürdig sein, wenn er sich erst euch, statt mir zu Füßen wirft? Aber wer?, sage mir nur, wer!“
Nichts weiß die Tochter, dass der Mutter sich die Unschuld auftut. Es ist nicht, wie der Vater so leicht dahingesagt hat, dass sie keinen Namen nennen will, sondern gar nicht kann: „Nun, das wirst du doch am dritten wie verabredet um elf Uhr erfahren, allein schon, weil Scham und Liebe es ihm unmöglich machen, sich anderen als dir allein zu erklären. Doch wenn du willst, so öffnen wir dann alle Türen, denn auch wir erwarten mit klopfendem Herzen, wie die Sache ausgeht und du magst sehen, ihm sein Geheimnis zu entlocken.“
„Oh großer Gott!“, schreit die Tochter und ringt die Hände: „Papa! – War ich doch einst in der Sommerhitze eingeschlafen und sah ihn als ich erwachte vor mir stehen …“ und schlägt die Hände vors Gesicht und erneut drohen Ströme von Tränen sich zu ergießen, als die Mutter abbläst: „Oh, nein, nicht doch! Oh, du Liebe, Ahnungslose“, und umarmt und küsst die Tochter: „Oh, wir Nichtswürdigen!“, dass es nun an der Markgräfin ist besorgt zu fragen: „Was ist, Mama?“
„Ach, gibt es einen reineren Engel als dich? – Alles, was ich sagte, ist falsch. Da unsere verdorbenen Seelen an die reine Seele nicht glauben, gebrauchte ich eine List, und du hast mich überzeugt: du musst ohne Schuld sein!“, zu dem die Markgräfin etwas murmelt, was die Mutter nicht versteht, da sie sich nicht unterbrechen lässt: „Ach, könntest du mir die Niedrigkeit meines Verhaltens verzeihen …“
„Ich – verzeihen? Meiner Mutter? – Ich beschwöre dich …“
„Du hörst, ich will wissen, ob du mich noch lieben und uns ehren kannst, aufrichtig wie sonst?“
„Mama, liebe Mutter!“, ruft die Tochter: „Ehrfurcht und Liebe sind nie aus dem Herzen mir gewichen. Wer, ja wer, konnte mir unter den Umständen denn Vertrauen schenken? – Wie bin ich glücklich, dass du von meiner Unschuld überzeugt bist!“
„Du sollst dein Wochenlager bei uns halten und ich will dich pflegen. Keinen Tag will ich dir von der Seite weichen, biete Trotz der ganzen Welt. Ich will keine andre Ehre mehr als deine Schande!, auf dass du mir nur wieder gut wirst und der Härte, mit der wir dich verstießen, nicht mehr gedenkst …“
Es folgen nun Liebkosung und Beschwörung, dass wir die beiden allein lassen im wiedergefundnen kleinen Glück. Doch wer weiß schon, wer da am nächsten dritten um elf Uhr morgens käme … und doch ziehen Tochter und Enkelkinder wieder ins Vaterhaus und selbst der alte Wüterich weint still in seinem Zimmer, bittet wortreich um und findet Vergebung bei Tochter und Gattin, dass wir Zeit finden, wie es zu diesem Zerwürfnis hat kommen können – was uns im Rückgriff auf den Anfang unserer Geschichte gelingen mag.
Denn spätestens mit dem Tode des Markgrafen von O war selbst dem Vater der O, dem Junker Viktor von, einem Mann von großer Tugend und strengen Prinzipien, der darum den Volkssturm in östlichen Gauen zu organisieren hatte, ein Sieg in diesem Leben und Gemetzel wenig wahrscheinlich. Tatsache ist, dass der Junker einen geordneten Rückzug der Zivilbevölkerung aus den Stammgütern südlich der Seenplatte organisierte, da zu vermuten war, dass der Rus beim Vormarsch in seinem Siegestaumel und im Übermute jene Geschenke entgelten würde, welche zuvor die unter einem entfernten Verwandten, dem Marschall Pyrrhos Befehl stehende, weit ins Land der Rus vorgestoßenen, doch nun zurückgeschlagenen Heeresmacht mit freundlicher Unterstützung der Schutzstaffeln begangen hatte. Allein, es war schon zu spät, denn die auf modernstem Stand aufgerüsteten Rus und deren Verbündete waren beweglicher und schneller als jeder träge und mühselig dahin ziehende Flüchtlingstreck.
Vergebens rief die O, von einem entsetzlichen, sich untereinander selbst bekämpfenden Rudel Rus bald hier, bald dorthin gezerrt, ihre zitternden, weiterhin fliehenden Frauen, zu Hilfe. Man schleppte sie in den hinteren Hof einer Schlossruine, wo sie eben, unter schändlichsten Misshandlungen, zu Boden sinken wollte, als, von dem Zetergeschrei der Dame herbeigerufen ein Offizier der Rus erschien, und die geilen, nach solchem Raube lüsternen Hunde mit wütenden Hieben, Befehlen und Verwünschungen zerstreute. Der O schien er ein Engel des Himmels zu sein. Er stieß noch dem letzten viehischen Mordsknecht, der ihren schlanken Leib umfasst hielt, mit dem Pistolenknauf ins Gesicht, dass der mit aus dem Mund vorquellendem Blut und zertrümmerter Nase den Schwanz einzog und zurücktaumelte. Der Offizier bot dann der Dame unter einer verbindlichen deutschen Anrede den Arm, und führte sie, die von all diesen Auftritten sprachlos war, in einen anderen, kaum beschädigten Flügel des Palastes, wo sie entkräftet und bewusstlos niedersank. Hier traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauenzimmer erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen, versicherte indes, indem er sich die Mütze aufsetzte, dass sie sich bald erholen werde, und kehrte zu seiner Truppe zurück, nicht ohne spitz zu bemerken, das Land sei schneller zu erobern als die Frau …
Der Junker, der inzwischen in das Haus getreten war, geriet auf die Nachricht von dem Unfall der Tochter in äußerste Bestürzung. Die Markgräfin, die sich endlich ohne ärztlichen Beistand aus der Ohnmacht erholt hatte, wie der Offizier es vorher gesagt, freute sich, die ihren gesund und wohl zu sehen, und hütete das Bett nur noch, um die übermäßige Sorge der ihren zu beschwichtigen, und versicherte dem Vater, dass sie keinen andern Wunsch habe, als aufstehen zu dürfen, um dem Retter ihre Dankbarkeit zu bezeugen. Sie wusste schon, dass es der Obrist Lew K war, ausgewiesener Kenner und Liebhaber der deutschen Literatur.
Als der Tag anbrach, erschien der Befehlshaber der Rus, Schloss und Schaden zu besichtigen, bezeugte dem Junker seine Hochachtung und bedauerte das Malheur, nicht ohne dem Unterlegenen großmütig als Wiedergutmachung das Ehrenwort zu geben, dass seine Familie die Freiheit habe, sich hinzubegeben, wohin immer sie wolle. Viktor versicherte ihn und im Besonderen dem Obristen seiner Dankbarkeit und äußerte, wie viel er den beiden schuldig geworden. Der General, welcher um die Ereignisse wohl unterrichtet war, hatte vom Obristen Namen aus dem schändlichen Rudel sich geben lassen und befahl gleich zur Abschreckung fünf dieser räudigen Hunde, welche das Ansehen des Generalissimus und der Weltrevolution befleckten, am nächsten Baum aufzuknüpfen. Nach Verhängung der Sanktion und deren Durchführung gab der General Befehl zum Abmarsch und nach weniger als einer Stunde war der Ort frei von Truppen und Fremden - bis auf die fünf, die als traurige Seilschaft im mäßigen Wind als stumme Äolsharfe im gleichen Rhythmus hin und her schwangen.
Man gedachte, sobald als möglich dem Obristen Dankbarkeit zu bezeugen, bis man mit Schrecken von einem Augenzeugen erfuhr, dass der gute Mann noch am Abend des Aufbruchs vom Schloss durch den Volkssturm schwer verwundet wurde und verblichen sei. Der O wurd heiß und kalt zugleich. Sie war untröstlich und machte sich schwere Vorwürfe, die Gelegenheit verpasst zu haben, den Obristen aufzusuchen, um sich zu seinen Füßen zu werfen, da er, vielleicht aus Bescheidenheit, sich geweigert hatte, noch einmal im Schloss zu erscheinen.
Mit den Monaten verblasste die Erinnerung an den gefallenen Engel und die Familie räumte mitsamt dem Gesinde die Schlossruine, um in eine ihrer Villen zu L an der O sich niederzulassen und zu einer dauerhaften Wohnung einzurichten, obwohl Viktor, der nun westlich der Elbe den Junker wie ein schmutziges Hemd abstreifte, das Stadtleben nicht liebte, was freilich durch den Reiz weiter Wälder und Hochmoore ausgeglichen wurde, dass alles in die alte Ordnung zurückkehren konnte, bis zu dem Augenblick, da die Markgräfin beim Unterricht der Kinder von Unpässlichkeit überwältigt und für die Gesellschaft untauglich wurde in dem Maße, wie Übelkeit, Schwindel und dergleichen mehr bis hin zu gelegentlichen Ohnmachtsanfällen zunahmen.
Als eines Morgens der Vater sich vom Frühstück entfernte und das Zimmer verließ, erwachte die O aus tiefer Gedankenlosigkeit und sprach zur Mutter: „Wenn mir eine andere Frau nun das Gefühl beschreiben würde, das ich gerade hatte, als ich die Tasse ergreifen wollte, müsste ich denken, sie wäre in gesegneten Umständen.“
„Ich verstehe nicht …“, sagte die Mutter verwundert, dass die Tochter sich noch einmal erklärte, gerade jetzt eine Sensation gehabt zu haben, „wie während der Schwangerschaft mit Victoria“, dem zweiten und jüngsten Kind des Markgrafen, worauf die Mutter, deren Namen das genannte Kind trug, meinte „Vielleicht wirst du Sankt Phantasus gebären“ und lachte dabei, dass die Tochter darauf einging: „Oder doch den Bruder Morpheus, denn Hypnos stell ich mir durchaus als Vater vor“, womit das Gespräch im Gelächter unterging, da Viktor das Zimmer betrat und sich seiner fröhlichen Frauensleut’ freute.
Als die O sich nach wenigen Tagen wieder erholt hatte, wurde der Gegenstand des Gesprächs vergessen – bis zu dem Augenblick, da sich der Obrist Lew K im Hause anmeldete, was einen sonderbaren Schrecken und zugleich Sprachlosigkeit in der Familie auslöste. Und in der Tat erschien K wie ein junger Gott, wenn auch etwas blass um die Nase. Viktor fasste sich als erster und gestand, dass man nach allem, was man erfahren hatte, ihn, den Obristen, für tot halten musste, worauf der durchaus in elegantestem Deutsch antwortete, dass er sich durchaus lebendig fühle, wenn auch lädiert durch mancherlei Zipperlein, dass er einige Wochen in einer Matratzengruft am dürren Faden verleben musste, woselbst er immer nur an eines gedacht - um schlagartig von sich abzulenken und direkt die Markgräfin anzusprechen und nach ihrem Befinden zu fragen.
„Oh - mir geht’s gut“, antwortete diese und wollte wissen, wie er denn ins Leben erstanden sei, worauf der Rus gar nicht einging sondern offensiv meinte, sie sage wohl nicht die volle Wahrheit, denn sie sehe matt aus. Gut gestimmt durch die Offenheit versetzte die O: „Ja doch, gelegentlich unpässlich kränkel ich ein wenig vor mich hin. Aber ich fürchte nicht, dass es etwas Ernsthaftes ist. Es ist von selbst gekommen und wird von selbst wieder gehen.“
„Dass hoff ich doch!“, fuhr K dazwischen und fügte in großer Freude die Frage an, ob sie ihn heiraten wolle.
Die O wusste nicht, was sie darüber denken sollte, errötete und sah die Mutter an und die verlegen ihren Gatten, während der Rus die Hand der jungen Witwe ergriff und fragte, ob sie ihn verstanden habe. Viktor hingegen fasste sich zuerst und fragte, ob er nicht Platz nehmen wolle und Victoria wünschte zu erfahren, wie er denn dem Tod entronnen sei.
Er habe wenig Zeit und sei auf dem Weg nach Schloss C bei P, dass er sich kurz fassen müsse und der einzige Gedanke zwischen Weltschmerz und Lebenslust in der Matratzengruft habe der Markgräfin gegolten, dass „mir unmöglich ist, länger zu leben, ohne dass meine Seele im Reinen ist“, schloss er und fragte noch einmal nach der Hand der O, worauf nach einer Pause der Vater antwortete: „Ich zweifle nicht, dass der Antrag ernst und ehrenhaft gemeint ist, doch so schmeichelhaft und verführerisch er wirkt: beim Tode des Markgrafen von O, ihres Gemahls, hat meine Tochter sich entschlossen, keine weitere Heirat einzugehn. Gleichwohl mag sein, wenn man sich etwas näher kennenlernt, dass eine Änderung in ihrer Haltung erfolgt, doch bitt ich – wohl auch im Sinne von uns allen - im Stillen darüber nachdenken zu dürfen.“
Dem K erschien dies eine gütige Erklärung, wenn sie auch nicht all seine Hoffnungen erfüllte. Der Vater lud den Obristen nach L und als Gast des Hauses ein, wenn er die Mission zu P ausgeführt habe. „Wenn dann meine Tochter ihr Glück erkennt, so werden wir ihre Entscheidung mit Freude vernehmen.“
So machte sich der Rus äußerst bekümmert auf zu seinem Bestimmungsort. Aber einstweilen sorgte sich die Familie der O, wie der Obrist die unbestimmte Zeit überstünde. Gedämpft wurde die Sorge erst, als der Vater das geflügelte Wort in die Welt setzte, der Obrist werde nun nicht gerade das vollenden, was dem Volkssturm nicht gelungen! Gleichwohl kamen sie überein, dass sein Betragen sonderbar sei und wär’s nur, um Damenherzen wie Stellungen im Sturm zu erobern.
An diesem Abend fragte die Mutter sehr direkt, was denn die Tochter von dem Manne halte und ob sie sich zu einer Äußerung verstände, die jedwedes Unglück vermiede. „Aber liebste Mutter“, sagte die O, „das ist nicht möglich! Es tut mir leid, dass meine Dankbarkeit auf eine derart harte Probe gestellt wird. Doch es war mein Entschluss - wie Papa richtig bemerkt hat - mich nicht wieder zu vermählen. Ich mag mein Glück nicht ein zweites Mal herausfordern und aufs Spiel setzen.“
„Ela, Kindchen, wie würdest du dich erklären, wenn unsere Erkundigungen, welche wir über ihn einziehen, unserem guten Gesamteindruck, den wir bisher empfangen haben, nicht widersprechen und er von der Konferenz zurückkehren und seinen Antrag wiederholen würde? Ich selber bin von seinen vorzüglichen Eigenschaften überzeugt, die er schon im Schlosse zeigte. Warum sollte er gerade im Krieg einen weniger anstößigen Lebenswandel führen als zu Friedenszeiten?“
„In der Tat scheinen seine Wünsche derart heftig zu sein, dass ich“, sagte das Kind nun stockend, wobei die Augen glänzten, „in diesem Falle um meiner Verbindlichkeiten willen seine Wünsche erfüllen werde.“
Victoria hatte Mühe, ihre Freude zu verbergen, denn immer schon hatte sie gewünscht, die Tochter möge sich erneut vermählen. Viktor schwieg. Man könne ihm ja, so fuhr die Mutter fort, indem sie die Hand der Tochter ergriff, eine Erklärung nachsenden, dass sie bis zu seiner Rückkehr aus C bei P keine andere Verbindung eingehe, dass selbst die O jubelte: „Diese Erklärung, liebste Mama, kann ich ihm gerne geben. Ich fürchte nur, dass sie ihn weniger beruhigen als uns verwickeln wird …“
„Das, liebe Elli, lass nur meine Sorge sein!“, erwiderte die Mutter freudig und sah sich um nach dem Gatten: „Viktor, was meinst du?“, doch der stand auf, schaute schweigend über die Straße zum Kurpark und nach einer geringen Zeit klatschte er die Hände zusammen und rief: „Nun, so sei’s! Macht es endlich! - Also muss ich mich dem Rus zum zweiten Mal ergeben!“, dass die Mutter freudig aufsprang, und erst ihn, dann die Tochter herzte und küsste.
Die Tage verstrichen, in denen die Familie unter den unterschiedlichsten Empfindungen auf den Ausgang der sonderbaren Sache gespannt war. Die Erkundigungen über den Obristen fielen ausgesprochen vorteilhaft aus, dass man die Verlobung schon für abgemacht hätte halten können, als sich die Unpässlichkeiten der Markgräfin heftiger denn je einstellten und ihre Gestalt sich veränderte. Die Mutter war aufs heftigste besorgt, allein die Tochter weigerte sich eine ganze Woche lang, einen Arzt zu Rate zu ziehen. Als nun der Arzt, der das Vertrauen des Hauses genoss, für einen Augenblick mit ihr allein war, eröffnete die O ihm wie im Scherz, was sie von sich glaube. Der Mann warf nach eingehender Untersuchung einen forschenden Blick auf sie und meinte dann trocken, aber ernsthaft, dass sie richtig liege in ihrem Glauben.
„Wie darf ich das verstehen?!“, meinte die O, worauf der Arzt ein Lächeln nicht unterdrücken konnte: „Sie sind gesund und brauchen an sich keinen Arzt.“ –
„Gehen Sie, bitte, mir ist nicht zu scherzen …“, rief die O, dass der Mann erwiderte: „Sollt’ ich wünschen, dass Sie immer zum Scherzen so wenig aufgelegt wären wie jetzt?!“, und wollte gehen, als die Frau einwarf, ihren Vater von der Beleidigung zu unterrichten.
„Meine Aussage kann ich vor Gott und der Welt beschwören!“, wetterte nun der Arzt, ging und ließ die eingebildete Kranke wie vom Donner gerührt stehn, denn so sehr sie sich beim Vater beschweren wollte, der Ernst des Mannes, von dem sie sich beleidigt fühlte, hielt sie zurück, dass sie sich auf den Diwan warf und des verflossnen Jahres gedachte, bis die Mutter kam und fragte, warum sie so unruhig sei. Als die O den Vorfall erklärte, rief die Frau: „Unverschämter Kerl!, das hätte ich nie von ihm gedacht! Es ist unsere Pflicht, Viktor davon zu unterrichten!“
„Mama, ach Mutti! Es scheint ihm ernst, dass ich fürchte, er wird’s Papa kackfrech ins Gesicht wiederholen.“
„Glaubst du ihm?“, fragte nun die Mutter verwundert.
„Eher dies, als dass Gräber befruchtet würden und aus dem Schoß der Leichen auch nur eine Geburt sich entwickelte!“
„Du bist wunderlich“, stellte die Mutter fest und drückte sie fest an sich, „was aber beunruhigt dich dann? - Was kann dich da eine ganze Korona von Doktoren bekümmern, wenn dein Gewissen rein ist? Ob er sich irrt oder nicht, gilt es nicht gleichviel und doch wenig in diesem Falle? Schicklich wäre freilich, dass wir es Viktor entdecken“, worauf die Tochter in Konvulsion geriet.
„Wie zum Teufel kann ich mich beruhigen? Richten sich nicht alle meine Gefühle gegen mich selbst? Hätte ich ein anderes Empfinden, wüsste ich nicht, dass es seine Richtigkeit hat?“ Entsetzen packte die Mutter. „Irrtum und Bosheit“, fuhr die O fort. „Was hat der Mann, den wir alle bis heute schätzten, für Gründe, mich zu kränken?, da ich ihn nie beleidigt habe. - Die ihm vertraute und dankbar empfing? Der mit dem Willen zu helfen erschien und doch nur Schmerz und Widerwillen erzeugte? Weiß er denn nicht, dass auch Ärzte irren?“, doch hat die Mutter inzwischen das Gefühl, das da was sein könnte … Mit hochrotem Kopf ruft daher die Tochter: „Ich kann beschwören, dass mein Gewissen so rein ist wie das der Kinder und - deines, Mama - kann nicht reiner sein!“
Bevor man sich aber streite, bittet die Tochter, eine Hebamme zu Hilfe zu nehmen, „dass wir uns von dem, was ist, überzeugen, und gleichviel alsdann, was es sei, beruhigen.“
Und also sollt’s geschehn!
Was kam da für ein Plappermaul! Sprach von jungem Blut und Arglist der Welt. „Ja“, als sie ihr Geschäft vollbracht, „ähnliche Fälle sind mir schon untergekommen. Da glauben die jungen Dinger und Witwen, sie wären auf einer wüsten Insel in die Lage gekommen durch einen Robinson, der nächtens zufällig gestrandet und morgens ebenso zufällig wieder aufm Ozean verschwunden. - Aber wir werden den schon finden!“, dass die O in eine Ohnmacht sich flüchtete, doch durch Mutter und Hebamme wieder zurückfand. „Ela!“, rief die Mutter in ihrem Schmerz: „Willst du mir nicht endlich den Vater nennen?“, noch bereit zur Versöhnung. Doch als die O wahnsinnig zu werden vorgab, entlud sich das mütterliche Gewitter im „geh!“ – und im Fluch auf die Stunde ihrer Geburt. Damit verließ die Mutter den Raum und der Tochter wollte erneut das Tageslicht schwinden, dass sie zitternd die Hebamme zu sich herabzog und gebrochen fragte, wie die Natur denn auf ihren Wegen walte. „Könnte’s eine unwissentliche Empfängnis sein?“
Lächelnd befreite sich die Geburtshilfe: „Das vermag ich in Ihrem Falle nicht zu erkennen …“
„Nein, nein! Ich weiß es ja. Aber wäre es nicht immerhin möglich?“
„Soweit ich weiß, ist es noch keiner Frau auf dem ganzen Erdenball zugestoßen. – Sehn wir mal ab von der unbefleckten Empfängnis.“
Heftig zitterte die O, glaubte, augenblicklich niederzukommen und bat, indem sie sich in krampfhafter Verängstigung an die fremde Frau klammerte, sie nicht zu verlassen.
„Beruhigen Sie sich, Frau Markgräfin! Das Wochenbett ist noch ein Beträchtliches entfernt“, meinte die Hebamme und gab guten Rat, der aber wie ein Messerstich in der Brust der O wirkte, die sich dennoch sammelte und die Geburtshelferin verabschiedete.
Kaum war die gegangen, wurd ein Brief der Mutter vom Hausfaktotum gebracht. „Unter den obwaltenden Umständen wünsche ich, dass Sie, die Witwe des Markgrafen von O, das Haus unverzüglich verlassen. Mit gleicher Post erhalten Sie die über Ihr Vermögen lautenden Papiere. Ich hoffe, dass uns Gott den Jammer ersparen wird, uns je wieder zu sehen.
Ich spreche auch namens meiner Frau, dass unsere Tochter in den letzten Wirren des Krieges verloren ging und als vermisst gelten muss. Behauptungen bzgl. irgendwelcher verwandtschaftlichen Beziehungen Ihrerseits sind unter Androhung rechtlicher Schritte zu unterlassen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Viktor von“
Der Schmerz über den Irrtum der Eltern ergoss sich aus den Augen, als drohte selbst das geringste Glück darin zu ersäufen mitsamt der Ungerechtigkeit aller Welt. Die O schleppte sich mehr als sie ging zu den Räumen der Mutter, als das Hausfaktotum mitteilte, die Mutter sei beim Vater und alle Räume verschlossen. Alle Türen blieben geschlossen, auch als sie Gott, Jesus, die Jungfrau und alle Heiligen sowie alle Seelen zu Zeugen ihrer Unschuld anrief und auf dem Hausflur zusammenbrach. Sie mochte wohl einige Minuten gelegen haben, als der Angestellte des Hauses ihre Abschiebung aufs Land bereits organisiert hatte, wobei sie immerhin die Kraft fand, die beiden Kinder des Markgrafen an sich zu nehmen und dem Faktotum an den Kopf zu werfen: „Sagen Sie meinem werten Herrn Vater, dass er mich erschießen muss, bevor ich die Kinder hergebe“, womit sie sich in gerechter Wut quasi am eigenen Schopf übern familiären Sumpf empörte. Ungezählte Male küsste sie nun ihre liebste Beute, welche ihr wie der Sieg des reinen Gewissens erscheinen musste. Sie begriff, dass sie sich selbst trösten müsste, wollte sie nicht untergehen. Der Trennungsschmerz wich mühselig und langsam dem Stolz, sich gegen die Ausfälle der Welt zu rüsten und zu wehren. Die O beschloss, sie selbst zu werden, sich den beiden Kindern zu widmen und das dritte als Geschenk anzusehn und in mütterlicher Liebe zu pflegen, plante schon, den Landsitz nach ihren Bedürfnissen umzubilden und gleichsam in klösterlicher Zurückgezogenheit zu leben, als sie während des Strickens in der Gartenlaube von einem sonderbaren Gedanken überfallen wurde, dass sie die folgenden Nächte durchwachte, denn immer noch sträubte sie sich gegen den Menschen, der sie hintergangen hatte. Doch war ihre Selbständigkeit am Widerstand der Welt gewachsen, dass sie sich an dem Morgen, da sich das neue Leben aufs heftigste bemerkbar machte, die Initiative übernahm und eine Annonce in die Welt setzte, die wir vor einigen vierhundert Zeilen zur Kenntnis nehmen durften und klinken uns wieder ins aktuelle Geschehen ein und harren der Dinge, die da am nächsten Morgen um elf Uhr im Hause der Familie Viktor von kommen mögen. So oder anders, gleichviel der Liebkosungen und Beschwörung im wiedergefundnen kleinen Glück, es ist wohl alles dem alten Herrn zu viel, dass die Mutter zunächst einen Arzt rufen will, sich aber des letzten ärztlichen Besuches erinnert und es unterlässt. Also bereitet das Personal unter ihrer strengen Anleitung alles Stärkende und doch zugleich Beruhigende für die Abendtafel zu, für die reichlich aufgedeckt wird. Selbst das Ehebett wird vorgewärmt, dass der Herr sich sogleich nach dem Abendbrot hineinlege. Als schließlich das Abendmahl bereitet und aufgetischt ist, wird der Hausherr immer noch vermisst, dass Victoria entgegen sonstiger Gewohnheit nicht das Hausfaktotum nach dem Herrn schickt, sondern ihn selber holen will. Aus dem Zimmer der O kommt freilich Gesäusel, dass die Frau nicht umhin kann, wider aller Gewohnheit, das Ohr an die Tür zu legen. Da lispelt gerade, wie’s der Hausfrau scheinen will, die Tochter und es brummt – der Hausherr, dass die Frau aufs äußerste widerstrebend durchs Schlüsselloch schaun muss.
Und siehe, da trägt der Junker von die Markgräfin von O auf dem Schoß, was er in seinem Leben nicht zugegeben hätte!, und das Kind scheint sich in Abrahams Schoß zu wähnen. Darauf öffnet die gutgläubige Frau Mutter die Tür und weiß nicht, ob ihr das Herz ob der heftigen Versöhnung vor Freude überquillt oder im Tränenmeer aufquellen wird!
Und dies ist, was das Hausfaktotum, als er kurz darauf zum Essen rufen will, als Augenzeuge zu Protokoll geben wird: „Die Tochter still, mit zurückgebeugtem Nacken, die Augen fest geschlossen, in des Vaters Armen liegen[d]; indessen dieser, auf dem Lehnstuhl sitzend, lange, heiße und lechzende Küsse, das große Auge voll glänzender Tränen, auf ihren Mund drückt[.]: gerade wie ein Verliebter! Die Tochter [spricht] nicht, er [spricht] nicht; mit über sie gebeugtem Antlitz [sitzt] er, wie über das Mädchen seiner ersten Liebe, und legt[.] ihr den Mund zurecht, und [küsst] sie.“
Die Mutter will selig sich fühlen, ob der himmelhoch jauchzend gelungenen Versöhnung, die dem Haus vergönnt wäre. Beim Anblick der Frau schlägt der Mann die Augen nieder und zieht das Gesicht kraus. Die Mutter küsst nun ihrerseits Tochter und Vater und führt beide zum Abendmahl nackt gleich den ersten Brautleuten überhaupt, dem alten Adam und seiner Elektra.
Um Mitternacht werden Bewohner in L an der O durch einen Schuss aufgeschreckt.
Doch wer zum Teufel wird am Vormittag um elf erscheinen? ’s ist – wen hätten Sie, verehrter Leser, denn erwartet? - der Obrist Lew K, der noch einen Monat zuvor zur Schaffung eines gerechten und dauerhaften Friedens mit Alliierten konferiert hat und so bald als möglich den Dienst quittieren will, doch nicht bevor ihm nicht das im Kleinen gelingt, was im Großen zu misslingen droht. Was er vorfindet im Haus der Familie Viktor von kann ihm nicht gefallen: Victoria, die Mutter, entblößt und aufgeknüpft am Kronleuchter des großräumigen Ess- und Wohnzimmers über den Resten eines üppigen, von ihr bereiteten letzten Abendmahls,. Der Vater, Junker Viktor von, keineswegs ein Sieger, wie’s der Name verheißt, von eigener Hand gerichtet, den Pistolenlauf noch im Munde, erschossen im Ehebett.
Das Objekt der Begierde spielt mit den zwei markgräflichen Kindern und Essensresten zu Füßen der Großmutter. Elektra greift nach dem Tischtuch und schnäuzt dort kräftiger als zu erwarten wäre hinein. Vom Kronleuchter herab tönt es wie ein „Trösten Sie jene, so wären alle versöhnt, so würde alles vergeben und dürfte vergessen werden“, dass der gestandene und einiges gewohnte Obrist Lew K ans Heulen kommt. Leise lässt er sich vor der O nieder und fasst behutsam eine Hand, dass sie nicht durch seine geschändet werde.
Denn sie jammert ihn wie eine ganze Welt.
„Lassen Sie die schlimme Tat, meine Liebe. Ich wollt, ich hätt die Maskerade entlarvt, die Masken entzwei geschlagen. So bleibt mir nur das alte Wort zu wiederholen, mögen die Toten die Toten begraben! –
Hingegen will ich Sie auf Händen tragen, wohin immer Sie wollen –
und hieße es: Amerika.“
Doch faucht Elektra zurück: „Pfui, schämen Sie sich, mein Herr, dass Sie je gewünscht hätten, die Marskerade zu zerschlagen!
Wie sollt ich Ihnen da vertraun, wo Sie die Tat mir zutraun? –
Wollt ich nicht die Hand Ihnen geben? Doch hätten Sie statt der Mama durchs Schlüsselloch den Gatten mit dem Kind gemeinsam aus dem Krug des Lebens genießen sehn, -
wer wär da brav, wer da böse? Was könnt zum Guten sich da wenden, und wär’s nicht im Leben, so im Jenseits. Doch wenn wir auferstehn wird wieder ein Tag und auch Gericht.“ –
„Bei meiner Seel, das dauert mir zu lang!“, ruft der Obrist, „was ich mit Händen greif und trag, das weiß ich, ’s braucht keines Glaubens. -
Leere Worthülsen, dass ein Leben sei nach dem Tode mit einer Lohnzahlung fürs Leben! Wie würd’ der Tugendsame belohnt und wie der Lasterhafte gestraft? Bloße Sätze, weder zu beweisen, noch zu widerlegen. So können wir des göttlichen Willens getrost entbehren. Eine sanktionierende Instanz ohne Bild und namenlos lässt – verständlich - sich nicht greifen. Zudem würd’s mit jeder Generation enger in Himmel wie Hölle, dass Gott von seinem Thron gedrängt in die tiefste Stelle stürzte und der siebenarmige Leuchter vom zwölfarmigen Kraken um- und verschlungen würde. Doch hätt’ ein Piccard je von einem Gott, statt Garnelen berichtet? -
Tät denn einer von uns nicht mehr was recht ist, wenn Gott und Unsterblichkeit Traum bleiben? –
Nicht Sie, meine Liebe, und erst recht ich nicht! -
Wir werden wohl wieder vom Baum der Erkenntnis nehmen müssen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen. Doch wäre das ein letztes Kapitel für die Geschichte dieser Welt.“ Dass Elektra ruft „gehen Sie!“, und kehrt die Markgräfin hervor: „Auf einen Lasterhaften bin ich gefasst, nicht aber auf den Teufel!“
Mögen andere die Geschichte sich zurechtlegen wie die wohlgefaltete, frische Wäsche zum vorgewärmten Ehebett. Der Obrist ist vernichtet und verbringt sein Lebtag klösterlich in der Kutte des Rotarmisten.
Indes behauptet Frau Üble Nachrede im Intelligenzblättchen, noch als Engel hätte der Rus seinen Mann gestanden.