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Hysteron proteron oder Die wirklich wahre Geschichte der O…

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12.04.2007
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Hysteron proteron oder Die wirklich wahre Geschichte der O…

Hysteron proteron
oder
Die wirklich wahre Geschichte der O…

»Die Liebe ist ein seltsames Spiel«
Schlager & Volksmund / -weisheit​

»Die Marquise von O …
Dieser Roman ist nicht für dich, meine Tochter. In Ohnmacht!
Schamlose Posse! Sie hielt, weiß ich, die Augen bloß zu.«
H. v. K. auf erste Reaktionen auf die Novelle im Phöbus, 1808​

Am Anfang war Eros.
Ohne ihn wäre nichts.
Gäb’ weder Wort noch Tat.
Allein Stille wäre.

Früher wurde gesagt, Aphrodite sei Mutter des Eros und Zeus sein Vater, was ebenso viel gilt wie die verrückte poetische Vorstellung, Eros entspringe einer Verbindung des Regenbogens mit dem Westwind. –

Doch könnte das sein?
Das dürfe nicht sein,
rufen aufgebrachte Bürger und trachten, die gute Ordnung wiederherzustellen. Im Namen des Vaters werden Väter ausgewechselt. An Stelle des Zeus rückt Ares. Will denn niemand sehen, wie unter seiner Regentschaft Bosheit wächst im Maße nackter Begierde, dass der Bruder des Eros obsiegt, Tartaros!?

Still wird es am Ende.

Nicht einmal vier Monate nach dem großen Gemetzel, das wegen seiner Dauer euphemistisch als ein weiterer Dreißigjähriger Krieg Eingang in die Annalen finden wird, hat eine seltsame Annonce in überregionalen Zeitungen selbst unter Siegermächten breite Aufmerksamkeit gefunden, lässt doch in dieser Anzeige die verwitwete Markgräfin von O…, eine Dame und Mutter vortrefflichen Rufs, bekannt machen, dass sie ohne Wissen in andre Umstände gekommen und dass der Vater zu dem Kinde, das sie gebären werde, sich melden solle, denn sie sei entschlossen, aus Rücksicht gegenüber der Familie ihn zu heiraten.
Der Markgraf, Nachkomme einer altehrwürdigen Familie von Ordensleuten in Kutte und Kettenhemd, welche als Eroberer gekommen waren und durch verbriefte Rechte und Sondervollmachten in den östlichen Reichsmarken Gott und Übermensch vertreten hatten, war an der östlichen Heimatfront gegenüber einem übermächtigen Heer der Rus den Heldentod gestorben, was einem Mann seines Standes auch angemessen erscheinen mag, insofern niemand von Kriegsadel und Ehre die Umwälzung aller Welt infolge der Schlächterei gelassen hinnehmen kann.

Diese außergewöhnliche Geschichte erregte nicht nur damals Aufsehen, sie ist auch heute noch bekannt in der Fassung, wie sie der gewesene Offizier und Finanzbeamte, der nachmalige, notorisch erfolglose Dichter Heinz K, ein dem lau mal hier, mal dort wehenden Zeitgeist abgeneigter, mutmaßlicher Vorfahr des an keinem der Fensterstürze zu P beteiligten Versicherungsangestellten Franz K, getreulich nach polizeilicher Aktenlage vorlegte, wobei er freilich den Fall vom Norden nach einer bedeutenden Stadt im Süden, nämlich nach M verlegte, vorgeblich, um die Betroffenen zu schützen, handelt es sich doch um eine wahre Begebenheit – woran dem aufmerksamen Beobachter schon einige Ungereimtheit auffallen muss.

Dem Vater der O kommt besagte Anzeige druckfrisch vor Augen und wird wortlos an die Mutter der O weitergereicht. Aufs lebhafteste betroffen über die Anzeige fragt die Frau den Gatten. „Was - in aller Welt – hältst du davon?“
Der antwortet, ohne seine Schreibarbeit zu unterbrechen: „Oh!, meine Liebe, alles spricht dafür, dass sie unschuldig ist.“
„Wie!“, ruft die verblüffte Frau, „unschuldig?“
„Sie hats im Schlaf getan“, sagt der Mann ohne aufzusehen – dass niemand weiß, ob er’s ironisch meint oder eher ernst. „Oder besser: ’s ist ihr im Schlaf angetan worden.“
„Im Schlaf!?“, versetzt ungläubig die Frau, „und was könnte an einem solchen Vorfall irgend ‚besser’ sein?!“
„Blödsinn!“, ruft der Mann, indem er die Papiere heftig übereinander schiebt und mit einem knurrigen „allzumal Narren“ sich erhebt und weggeht, um Taschenbillard zu spielen.

Am nächsten Morgen liest die Frau beim Frühstück in ihrem Intelligenzblatt eine Antwort dergestalt, wenn die Frau Markgräfin von O... sich am nächsten dritten, elf Uhr morgens, im Hause ihres Herrn Vaters einfinden wolle, so werde sich derjenige, den sie suche, ihr daselbst zu Füßen werfen.
Der Frau verschlägt’s die Sprache. Sie reicht das Blatt dem Gatten. Der aber muss dreimal lesen, um’s einmal zu begreifen, was immer da angekündigt wird, bis die Frau nahezu hysterisch ausstößt: „Nun sag um Himmels Willen, Viktor, was du davon hältst!“, worauf der versetzt: „Nix! - Schamlos und schändlich, die verschmitzte Heuchlerin! - Zehnmal schamloser als jede läufige Hündin, gepaart mit der zehnfachen List des geilen Fuchs’ reichen nicht an ihre! - Diese Miene und diese Augen - kein Engel trägt sie treuer!“, jammert und kann’s nicht fassen.
„Aber was um alles in der Welt, wenn es eine List wäre und zu welchem Zwecke?“, fragt die Frau.
„Was immer sie damit bezweckt“, sagt nun geradezu gelassen der Mann, „sie will den Betrug gewaltsam fortsetzen. – Lass dir sagen, liebe Victoria: Auswendig gelernt ist schon die Fabel von den beiden, die um elf am dritten hier auftreten wollen. Mein liebstes Töchterchen - wie anders soll ich es sagen“, und gackert als ein aufgescheuchtes Huhn, „dass sie es sage? – Dies und das wüsst sie nicht, wer nur könnt solches denken! - Vergebt mir, nehmt meinen Segen und seid mir wieder gut“, und wieder mit dem Ernst einer Bulldogge: „Aber dem die Kugel, der morgens um elf am nächsten dritten über unsre Schwelle kommt! Allzu schicklich wär, ihn durch Bedienstete mit den Füßen zuerst hinauszubefördern.“
Erneut liest die Frau den Artikel und will’s nicht glauben, vermutet lieber ein Spiel des Schicksals und Zufalls, als an die Niedertracht der eignen Tochter zu glauben. Noch bevor sie sich äußert, bellt der Gatte: „Tu mir die Liebe und schweig besser, Victoria!“, ums Zimmer zu verlassen. „Ich hass dies Theater immer mehr, je mehr ich davon hör.“
Wenige Tage später erhält der Mann einen Brief von der O, in welchem sie – da ihr die Gnade der Verzeihung versagt wäre – darum bittet, an besagtem dritten - wer immer da kommen mag - zu ihr heraus aufs Land zu schicken. Victoria bemerkt an seinem Mienenspiel, dass er irre zu werden droht, denn welches Motiv sollte er im Falle des Betruges unterstellen, da die verstoßne einzige Tochter keinen Anspruch auf Verzeihung stellt?
Als der Gatte zum wievielten Male in den Brief hineinschaut, hat die Frau einen Einfall: „Was hältst du davon, wenn ich auf ein’ oder zwei Tage zu ihr hinausfahre?“, dass der Mann befremdet schaut. Die Frau aber meint: „Wenn Ela den kennt, der da geantwortet hat, dann weiß ich, wie sie sich verraten wird und wäre sie gleich die abgebrühteste Verräterin …“
„Ach, geh mir weg!“, ruft der Mann und zerreißt wütend den Brief: „Du weißt, dass ich nichts mehr mit ihr zu schaffen hab! Also was sollt ich von deiner Idee halten?“, couvertiert die Schnipsel ein und adressiert den Umschlag an die Tochter. Victoria aber hat ihren eigenen Sinn und beschlossen, den Plan auch gegen seinen Willen durchzuführen.
Am nächsten Morgen, der Mann liegt noch im Bett, fährt sie aufs Land zur Tochter. Als diese die Stimme der Mutter erkennt, fliegt sie von Gefühlen überwältigt Victoria entgegen. Man umarmt sich und vergießt Tränen unter Ausrufen von Mutter, Mama, Mutti, Ela, Elli und mein Kind! Als die ersten Tränen getrocknet sind, fragt die Tochter vorsichtig, welchem glücklichen Zufall sie den Besuch verdanke und die Mutter fasst die Tochter bei der Hand: „Ich bin gekommen, um Verzeihung zu bitten …“, dass die Tochter ihr ins Wort fällt: „Verzeihung?!“, und will die Mutter küssen, was jedoch abgewehrt wird: „Es war zu hart, dich aus dem Schoß der Familie zu verstoßen. Das wissen wir nun, hatten es mit deiner Anzeige schon geahnt und wurden sicherer mit der Antwort darauf. – Nun - zu unserm großen freudigen Erstaunen hat sich bereits gestern ein Mann auf deine Anzeige hin im Hause gezeigt …“
„Was …?“, fragt verwundert und neugierig die Markgräfin, setzt sich zur Mutter nieder auf den Diwan und fragt angespannt: „Wer hat sich da gezeigt?“
„Er“, erwidert die Mutter, „der Verfasser der Antwort, an den dein Aufruf gerichtet ist.“
„Nun“, fragt die Tochter, „wer?“, und schwer atmend: „Sag, wer ist’s?! – Wer kann es sein?“
Und die Mutter gebraucht eine List: „Das möchte ich dich erraten lassen. –
Denn denke nur, da wir gestern beim Tee und noch über das seltsame Zeitungsblatt uns unterhalten, stürzt ein Mensch herein, den wir alle kennen, gebärden- und wortreich, will sich uns geradezu vor die Füße werfen. Wir wissen nicht, was wir davon halten sollen und Papa fordert ihn auf zu reden. Sein Gewissen lasse ihm keine Ruhe, sagt die Person. Er sei der Schändliche, der dich und uns alle betrogen habe und wisse doch zu genau, wie man Verbrecher beurteile. Wolle man Gerechtigkeit widerfahren lassen, so sei er gekommen, sich selbst darzubieten …“
„Aber wer!“, ruft die Tochter. „Wer?“
„Wie gesagt“, fährt die Mutter fort, „ ein junger, wohlerzogener Mann, dem wir es niemals zugetraut hätten, eine Schandtat zu begehen. Doch erschrecken wirst du nicht. Er ist aus guten, wenn auch einfachen Verhältnissen und frei von allen Forderungen, die sonst an deinen Gemahl gestellt würden.“
„Gleichviel“, ruft die Tochter, „kann er unwürdig sein, wenn er sich erst euch, statt mir zu Füßen wirft? Aber wer?, sage mir nur, wer!“
Nichts weiß die Tochter, dass der Mutter sich die Unschuld auftut. Es ist nicht, wie der Vater so leicht dahingesagt hat, dass sie keinen Namen nennen will, sondern gar nicht kann: „Nun, das wirst du doch am dritten wie verabredet um elf Uhr erfahren, allein schon, weil Scham und Liebe es ihm unmöglich machen, sich anderen als dir allein zu erklären. Doch wenn du willst, so öffnen wir dann alle Türen, denn auch wir erwarten mit klopfendem Herzen, wie die Sache ausgeht und du magst sehen, ihm sein Geheimnis zu entlocken.“
„Oh großer Gott!“, schreit die Tochter und ringt die Hände: „Papa! – War ich doch einst in der Sommerhitze eingeschlafen und sah ihn als ich erwachte vor mir stehen …“ und schlägt die Hände vors Gesicht und erneut drohen Ströme von Tränen sich zu ergießen, als die Mutter abbläst: „Oh, nein, nicht doch! Oh, du Liebe, Ahnungslose“, und umarmt und küsst die Tochter: „Oh, wir Nichtswürdigen!“, dass es nun an der Markgräfin ist besorgt zu fragen: „Was ist, Mama?“
„Ach, gibt es einen reineren Engel als dich? – Alles, was ich sagte, ist falsch. Da unsere verdorbenen Seelen an die reine Seele nicht glauben, gebrauchte ich eine List, und du hast mich überzeugt: du musst ohne Schuld sein!“, zu dem die Markgräfin etwas murmelt, was die Mutter nicht versteht, da sie sich nicht unterbrechen lässt: „Ach, könntest du mir die Niedrigkeit meines Verhaltens verzeihen …“
„Ich – verzeihen? Meiner Mutter? – Ich beschwöre dich …“
„Du hörst, ich will wissen, ob du mich noch lieben und uns ehren kannst, aufrichtig wie sonst?“
„Mama, liebe Mutter!“, ruft die Tochter: „Ehrfurcht und Liebe sind nie aus dem Herzen mir gewichen. Wer, ja wer, konnte mir unter den Umständen denn Vertrauen schenken? – Wie bin ich glücklich, dass du von meiner Unschuld überzeugt bist!“
„Du sollst dein Wochenlager bei uns halten und ich will dich pflegen. Keinen Tag will ich dir von der Seite weichen, biete Trotz der ganzen Welt. Ich will keine andre Ehre mehr als deine Schande!, auf dass du mir nur wieder gut wirst und der Härte, mit der wir dich verstießen, nicht mehr gedenkst …“
Es folgen nun Liebkosung und Beschwörung, dass wir die beiden allein lassen im wiedergefundnen kleinen Glück. Doch wer weiß schon, wer da am nächsten dritten um elf Uhr morgens käme … und doch ziehen Tochter und Enkelkinder wieder ins Vaterhaus und selbst der alte Wüterich weint still in seinem Zimmer, bittet wortreich um und findet Vergebung bei Tochter und Gattin, dass wir Zeit finden, wie es zu diesem Zerwürfnis hat kommen können – was uns im Rückgriff auf den Anfang unserer Geschichte gelingen mag.

Denn spätestens mit dem Tode des Markgrafen von O war selbst dem Vater der O, dem Junker Viktor von, einem Mann von großer Tugend und strengen Prinzipien, der darum den Volkssturm in östlichen Gauen zu organisieren hatte, ein Sieg in diesem Leben und Gemetzel wenig wahrscheinlich. Tatsache ist, dass der Junker einen geordneten Rückzug der Zivilbevölkerung aus den Stammgütern südlich der Seenplatte organisierte, da zu vermuten war, dass der Rus beim Vormarsch in seinem Siegestaumel und im Übermute jene Geschenke entgelten würde, welche zuvor die unter einem entfernten Verwandten, dem Marschall Pyrrhos Befehl stehende, weit ins Land der Rus vorgestoßenen, doch nun zurückgeschlagenen Heeresmacht mit freundlicher Unterstützung der Schutzstaffeln begangen hatte. Allein, es war schon zu spät, denn die auf modernstem Stand aufgerüsteten Rus und deren Verbündete waren beweglicher und schneller als jeder träge und mühselig dahin ziehende Flüchtlingstreck.
Vergebens rief die O, von einem entsetzlichen, sich untereinander selbst bekämpfenden Rudel Rus bald hier, bald dorthin gezerrt, ihre zitternden, weiterhin fliehenden Frauen, zu Hilfe. Man schleppte sie in den hinteren Hof einer Schlossruine, wo sie eben, unter schändlichsten Misshandlungen, zu Boden sinken wollte, als, von dem Zetergeschrei der Dame herbeigerufen ein Offizier der Rus erschien, und die geilen, nach solchem Raube lüsternen Hunde mit wütenden Hieben, Befehlen und Verwünschungen zerstreute. Der O schien er ein Engel des Himmels zu sein. Er stieß noch dem letzten viehischen Mordsknecht, der ihren schlanken Leib umfasst hielt, mit dem Pistolenknauf ins Gesicht, dass der mit aus dem Mund vorquellendem Blut und zertrümmerter Nase den Schwanz einzog und zurücktaumelte. Der Offizier bot dann der Dame unter einer verbindlichen deutschen Anrede den Arm, und führte sie, die von all diesen Auftritten sprachlos war, in einen anderen, kaum beschädigten Flügel des Palastes, wo sie entkräftet und bewusstlos niedersank. Hier traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauenzimmer erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen, versicherte indes, indem er sich die Mütze aufsetzte, dass sie sich bald erholen werde, und kehrte zu seiner Truppe zurück, nicht ohne spitz zu bemerken, das Land sei schneller zu erobern als die Frau …
Der Junker, der inzwischen in das Haus getreten war, geriet auf die Nachricht von dem Unfall der Tochter in äußerste Bestürzung. Die Markgräfin, die sich endlich ohne ärztlichen Beistand aus der Ohnmacht erholt hatte, wie der Offizier es vorher gesagt, freute sich, die ihren gesund und wohl zu sehen, und hütete das Bett nur noch, um die übermäßige Sorge der ihren zu beschwichtigen, und versicherte dem Vater, dass sie keinen andern Wunsch habe, als aufstehen zu dürfen, um dem Retter ihre Dankbarkeit zu bezeugen. Sie wusste schon, dass es der Obrist Lew K war, ausgewiesener Kenner und Liebhaber der deutschen Literatur.
Als der Tag anbrach, erschien der Befehlshaber der Rus, Schloss und Schaden zu besichtigen, bezeugte dem Junker seine Hochachtung und bedauerte das Malheur, nicht ohne dem Unterlegenen großmütig als Wiedergutmachung das Ehrenwort zu geben, dass seine Familie die Freiheit habe, sich hinzubegeben, wohin immer sie wolle. Viktor versicherte ihn und im Besonderen dem Obristen seiner Dankbarkeit und äußerte, wie viel er den beiden schuldig geworden. Der General, welcher um die Ereignisse wohl unterrichtet war, hatte vom Obristen Namen aus dem schändlichen Rudel sich geben lassen und befahl gleich zur Abschreckung fünf dieser räudigen Hunde, welche das Ansehen des Generalissimus und der Weltrevolution befleckten, am nächsten Baum aufzuknüpfen. Nach Verhängung der Sanktion und deren Durchführung gab der General Befehl zum Abmarsch und nach weniger als einer Stunde war der Ort frei von Truppen und Fremden - bis auf die fünf, die als traurige Seilschaft im mäßigen Wind als stumme Äolsharfe im gleichen Rhythmus hin und her schwangen.
Man gedachte, sobald als möglich dem Obristen Dankbarkeit zu bezeugen, bis man mit Schrecken von einem Augenzeugen erfuhr, dass der gute Mann noch am Abend des Aufbruchs vom Schloss durch den Volkssturm schwer verwundet wurde und verblichen sei. Der O wurd heiß und kalt zugleich. Sie war untröstlich und machte sich schwere Vorwürfe, die Gelegenheit verpasst zu haben, den Obristen aufzusuchen, um sich zu seinen Füßen zu werfen, da er, vielleicht aus Bescheidenheit, sich geweigert hatte, noch einmal im Schloss zu erscheinen.
Mit den Monaten verblasste die Erinnerung an den gefallenen Engel und die Familie räumte mitsamt dem Gesinde die Schlossruine, um in eine ihrer Villen zu L an der O sich niederzulassen und zu einer dauerhaften Wohnung einzurichten, obwohl Viktor, der nun westlich der Elbe den Junker wie ein schmutziges Hemd abstreifte, das Stadtleben nicht liebte, was freilich durch den Reiz weiter Wälder und Hochmoore ausgeglichen wurde, dass alles in die alte Ordnung zurückkehren konnte, bis zu dem Augenblick, da die Markgräfin beim Unterricht der Kinder von Unpässlichkeit überwältigt und für die Gesellschaft untauglich wurde in dem Maße, wie Übelkeit, Schwindel und dergleichen mehr bis hin zu gelegentlichen Ohnmachtsanfällen zunahmen.
Als eines Morgens der Vater sich vom Frühstück entfernte und das Zimmer verließ, erwachte die O aus tiefer Gedankenlosigkeit und sprach zur Mutter: „Wenn mir eine andere Frau nun das Gefühl beschreiben würde, das ich gerade hatte, als ich die Tasse ergreifen wollte, müsste ich denken, sie wäre in gesegneten Umständen.“
„Ich verstehe nicht …“, sagte die Mutter verwundert, dass die Tochter sich noch einmal erklärte, gerade jetzt eine Sensation gehabt zu haben, „wie während der Schwangerschaft mit Victoria“, dem zweiten und jüngsten Kind des Markgrafen, worauf die Mutter, deren Namen das genannte Kind trug, meinte „Vielleicht wirst du Sankt Phantasus gebären“ und lachte dabei, dass die Tochter darauf einging: „Oder doch den Bruder Morpheus, denn Hypnos stell ich mir durchaus als Vater vor“, womit das Gespräch im Gelächter unterging, da Viktor das Zimmer betrat und sich seiner fröhlichen Frauensleut’ freute.
Als die O sich nach wenigen Tagen wieder erholt hatte, wurde der Gegenstand des Gesprächs vergessen – bis zu dem Augenblick, da sich der Obrist Lew K im Hause anmeldete, was einen sonderbaren Schrecken und zugleich Sprachlosigkeit in der Familie auslöste. Und in der Tat erschien K wie ein junger Gott, wenn auch etwas blass um die Nase. Viktor fasste sich als erster und gestand, dass man nach allem, was man erfahren hatte, ihn, den Obristen, für tot halten musste, worauf der durchaus in elegantestem Deutsch antwortete, dass er sich durchaus lebendig fühle, wenn auch lädiert durch mancherlei Zipperlein, dass er einige Wochen in einer Matratzengruft am dürren Faden verleben musste, woselbst er immer nur an eines gedacht - um schlagartig von sich abzulenken und direkt die Markgräfin anzusprechen und nach ihrem Befinden zu fragen.
„Oh - mir geht’s gut“, antwortete diese und wollte wissen, wie er denn ins Leben erstanden sei, worauf der Rus gar nicht einging sondern offensiv meinte, sie sage wohl nicht die volle Wahrheit, denn sie sehe matt aus. Gut gestimmt durch die Offenheit versetzte die O: „Ja doch, gelegentlich unpässlich kränkel ich ein wenig vor mich hin. Aber ich fürchte nicht, dass es etwas Ernsthaftes ist. Es ist von selbst gekommen und wird von selbst wieder gehen.“
„Dass hoff ich doch!“, fuhr K dazwischen und fügte in großer Freude die Frage an, ob sie ihn heiraten wolle.
Die O wusste nicht, was sie darüber denken sollte, errötete und sah die Mutter an und die verlegen ihren Gatten, während der Rus die Hand der jungen Witwe ergriff und fragte, ob sie ihn verstanden habe. Viktor hingegen fasste sich zuerst und fragte, ob er nicht Platz nehmen wolle und Victoria wünschte zu erfahren, wie er denn dem Tod entronnen sei.
Er habe wenig Zeit und sei auf dem Weg nach Schloss C bei P, dass er sich kurz fassen müsse und der einzige Gedanke zwischen Weltschmerz und Lebenslust in der Matratzengruft habe der Markgräfin gegolten, dass „mir unmöglich ist, länger zu leben, ohne dass meine Seele im Reinen ist“, schloss er und fragte noch einmal nach der Hand der O, worauf nach einer Pause der Vater antwortete: „Ich zweifle nicht, dass der Antrag ernst und ehrenhaft gemeint ist, doch so schmeichelhaft und verführerisch er wirkt: beim Tode des Markgrafen von O, ihres Gemahls, hat meine Tochter sich entschlossen, keine weitere Heirat einzugehn. Gleichwohl mag sein, wenn man sich etwas näher kennenlernt, dass eine Änderung in ihrer Haltung erfolgt, doch bitt ich – wohl auch im Sinne von uns allen - im Stillen darüber nachdenken zu dürfen.“
Dem K erschien dies eine gütige Erklärung, wenn sie auch nicht all seine Hoffnungen erfüllte. Der Vater lud den Obristen nach L und als Gast des Hauses ein, wenn er die Mission zu P ausgeführt habe. „Wenn dann meine Tochter ihr Glück erkennt, so werden wir ihre Entscheidung mit Freude vernehmen.“
So machte sich der Rus äußerst bekümmert auf zu seinem Bestimmungsort. Aber einstweilen sorgte sich die Familie der O, wie der Obrist die unbestimmte Zeit überstünde. Gedämpft wurde die Sorge erst, als der Vater das geflügelte Wort in die Welt setzte, der Obrist werde nun nicht gerade das vollenden, was dem Volkssturm nicht gelungen! Gleichwohl kamen sie überein, dass sein Betragen sonderbar sei und wär’s nur, um Damenherzen wie Stellungen im Sturm zu erobern.
An diesem Abend fragte die Mutter sehr direkt, was denn die Tochter von dem Manne halte und ob sie sich zu einer Äußerung verstände, die jedwedes Unglück vermiede. „Aber liebste Mutter“, sagte die O, „das ist nicht möglich! Es tut mir leid, dass meine Dankbarkeit auf eine derart harte Probe gestellt wird. Doch es war mein Entschluss - wie Papa richtig bemerkt hat - mich nicht wieder zu vermählen. Ich mag mein Glück nicht ein zweites Mal herausfordern und aufs Spiel setzen.“
„Ela, Kindchen, wie würdest du dich erklären, wenn unsere Erkundigungen, welche wir über ihn einziehen, unserem guten Gesamteindruck, den wir bisher empfangen haben, nicht widersprechen und er von der Konferenz zurückkehren und seinen Antrag wiederholen würde? Ich selber bin von seinen vorzüglichen Eigenschaften überzeugt, die er schon im Schlosse zeigte. Warum sollte er gerade im Krieg einen weniger anstößigen Lebenswandel führen als zu Friedenszeiten?“
„In der Tat scheinen seine Wünsche derart heftig zu sein, dass ich“, sagte das Kind nun stockend, wobei die Augen glänzten, „in diesem Falle um meiner Verbindlichkeiten willen seine Wünsche erfüllen werde.“
Victoria hatte Mühe, ihre Freude zu verbergen, denn immer schon hatte sie gewünscht, die Tochter möge sich erneut vermählen. Viktor schwieg. Man könne ihm ja, so fuhr die Mutter fort, indem sie die Hand der Tochter ergriff, eine Erklärung nachsenden, dass sie bis zu seiner Rückkehr aus C bei P keine andere Verbindung eingehe, dass selbst die O jubelte: „Diese Erklärung, liebste Mama, kann ich ihm gerne geben. Ich fürchte nur, dass sie ihn weniger beruhigen als uns verwickeln wird …“
„Das, liebe Elli, lass nur meine Sorge sein!“, erwiderte die Mutter freudig und sah sich um nach dem Gatten: „Viktor, was meinst du?“, doch der stand auf, schaute schweigend über die Straße zum Kurpark und nach einer geringen Zeit klatschte er die Hände zusammen und rief: „Nun, so sei’s! Macht es endlich! - Also muss ich mich dem Rus zum zweiten Mal ergeben!“, dass die Mutter freudig aufsprang, und erst ihn, dann die Tochter herzte und küsste.
Die Tage verstrichen, in denen die Familie unter den unterschiedlichsten Empfindungen auf den Ausgang der sonderbaren Sache gespannt war. Die Erkundigungen über den Obristen fielen ausgesprochen vorteilhaft aus, dass man die Verlobung schon für abgemacht hätte halten können, als sich die Unpässlichkeiten der Markgräfin heftiger denn je einstellten und ihre Gestalt sich veränderte. Die Mutter war aufs heftigste besorgt, allein die Tochter weigerte sich eine ganze Woche lang, einen Arzt zu Rate zu ziehen. Als nun der Arzt, der das Vertrauen des Hauses genoss, für einen Augenblick mit ihr allein war, eröffnete die O ihm wie im Scherz, was sie von sich glaube. Der Mann warf nach eingehender Untersuchung einen forschenden Blick auf sie und meinte dann trocken, aber ernsthaft, dass sie richtig liege in ihrem Glauben.
„Wie darf ich das verstehen?!“, meinte die O, worauf der Arzt ein Lächeln nicht unterdrücken konnte: „Sie sind gesund und brauchen an sich keinen Arzt.“ –
„Gehen Sie, bitte, mir ist nicht zu scherzen …“, rief die O, dass der Mann erwiderte: „Sollt’ ich wünschen, dass Sie immer zum Scherzen so wenig aufgelegt wären wie jetzt?!“, und wollte gehen, als die Frau einwarf, ihren Vater von der Beleidigung zu unterrichten.
„Meine Aussage kann ich vor Gott und der Welt beschwören!“, wetterte nun der Arzt, ging und ließ die eingebildete Kranke wie vom Donner gerührt stehn, denn so sehr sie sich beim Vater beschweren wollte, der Ernst des Mannes, von dem sie sich beleidigt fühlte, hielt sie zurück, dass sie sich auf den Diwan warf und des verflossnen Jahres gedachte, bis die Mutter kam und fragte, warum sie so unruhig sei. Als die O den Vorfall erklärte, rief die Frau: „Unverschämter Kerl!, das hätte ich nie von ihm gedacht! Es ist unsere Pflicht, Viktor davon zu unterrichten!“
„Mama, ach Mutti! Es scheint ihm ernst, dass ich fürchte, er wird’s Papa kackfrech ins Gesicht wiederholen.“
„Glaubst du ihm?“, fragte nun die Mutter verwundert.
„Eher dies, als dass Gräber befruchtet würden und aus dem Schoß der Leichen auch nur eine Geburt sich entwickelte!“
„Du bist wunderlich“, stellte die Mutter fest und drückte sie fest an sich, „was aber beunruhigt dich dann? - Was kann dich da eine ganze Korona von Doktoren bekümmern, wenn dein Gewissen rein ist? Ob er sich irrt oder nicht, gilt es nicht gleichviel und doch wenig in diesem Falle? Schicklich wäre freilich, dass wir es Viktor entdecken“, worauf die Tochter in Konvulsion geriet.
„Wie zum Teufel kann ich mich beruhigen? Richten sich nicht alle meine Gefühle gegen mich selbst? Hätte ich ein anderes Empfinden, wüsste ich nicht, dass es seine Richtigkeit hat?“ Entsetzen packte die Mutter. „Irrtum und Bosheit“, fuhr die O fort. „Was hat der Mann, den wir alle bis heute schätzten, für Gründe, mich zu kränken?, da ich ihn nie beleidigt habe. - Die ihm vertraute und dankbar empfing? Der mit dem Willen zu helfen erschien und doch nur Schmerz und Widerwillen erzeugte? Weiß er denn nicht, dass auch Ärzte irren?“, doch hat die Mutter inzwischen das Gefühl, das da was sein könnte … Mit hochrotem Kopf ruft daher die Tochter: „Ich kann beschwören, dass mein Gewissen so rein ist wie das der Kinder und - deines, Mama - kann nicht reiner sein!“
Bevor man sich aber streite, bittet die Tochter, eine Hebamme zu Hilfe zu nehmen, „dass wir uns von dem, was ist, überzeugen, und gleichviel alsdann, was es sei, beruhigen.“
Und also sollt’s geschehn!
Was kam da für ein Plappermaul! Sprach von jungem Blut und Arglist der Welt. „Ja“, als sie ihr Geschäft vollbracht, „ähnliche Fälle sind mir schon untergekommen. Da glauben die jungen Dinger und Witwen, sie wären auf einer wüsten Insel in die Lage gekommen durch einen Robinson, der nächtens zufällig gestrandet und morgens ebenso zufällig wieder aufm Ozean verschwunden. - Aber wir werden den schon finden!“, dass die O in eine Ohnmacht sich flüchtete, doch durch Mutter und Hebamme wieder zurückfand. „Ela!“, rief die Mutter in ihrem Schmerz: „Willst du mir nicht endlich den Vater nennen?“, noch bereit zur Versöhnung. Doch als die O wahnsinnig zu werden vorgab, entlud sich das mütterliche Gewitter im „geh!“ – und im Fluch auf die Stunde ihrer Geburt. Damit verließ die Mutter den Raum und der Tochter wollte erneut das Tageslicht schwinden, dass sie zitternd die Hebamme zu sich herabzog und gebrochen fragte, wie die Natur denn auf ihren Wegen walte. „Könnte’s eine unwissentliche Empfängnis sein?“
Lächelnd befreite sich die Geburtshilfe: „Das vermag ich in Ihrem Falle nicht zu erkennen …“
„Nein, nein! Ich weiß es ja. Aber wäre es nicht immerhin möglich?“
„Soweit ich weiß, ist es noch keiner Frau auf dem ganzen Erdenball zugestoßen. – Sehn wir mal ab von der unbefleckten Empfängnis.“
Heftig zitterte die O, glaubte, augenblicklich niederzukommen und bat, indem sie sich in krampfhafter Verängstigung an die fremde Frau klammerte, sie nicht zu verlassen.
„Beruhigen Sie sich, Frau Markgräfin! Das Wochenbett ist noch ein Beträchtliches entfernt“, meinte die Hebamme und gab guten Rat, der aber wie ein Messerstich in der Brust der O wirkte, die sich dennoch sammelte und die Geburtshelferin verabschiedete.
Kaum war die gegangen, wurd ein Brief der Mutter vom Hausfaktotum gebracht. „Unter den obwaltenden Umständen wünsche ich, dass Sie, die Witwe des Markgrafen von O, das Haus unverzüglich verlassen. Mit gleicher Post erhalten Sie die über Ihr Vermögen lautenden Papiere. Ich hoffe, dass uns Gott den Jammer ersparen wird, uns je wieder zu sehen.
Ich spreche auch namens meiner Frau, dass unsere Tochter in den letzten Wirren des Krieges verloren ging und als vermisst gelten muss. Behauptungen bzgl. irgendwelcher verwandtschaftlichen Beziehungen Ihrerseits sind unter Androhung rechtlicher Schritte zu unterlassen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Viktor von“
Der Schmerz über den Irrtum der Eltern ergoss sich aus den Augen, als drohte selbst das geringste Glück darin zu ersäufen mitsamt der Ungerechtigkeit aller Welt. Die O schleppte sich mehr als sie ging zu den Räumen der Mutter, als das Hausfaktotum mitteilte, die Mutter sei beim Vater und alle Räume verschlossen. Alle Türen blieben geschlossen, auch als sie Gott, Jesus, die Jungfrau und alle Heiligen sowie alle Seelen zu Zeugen ihrer Unschuld anrief und auf dem Hausflur zusammenbrach. Sie mochte wohl einige Minuten gelegen haben, als der Angestellte des Hauses ihre Abschiebung aufs Land bereits organisiert hatte, wobei sie immerhin die Kraft fand, die beiden Kinder des Markgrafen an sich zu nehmen und dem Faktotum an den Kopf zu werfen: „Sagen Sie meinem werten Herrn Vater, dass er mich erschießen muss, bevor ich die Kinder hergebe“, womit sie sich in gerechter Wut quasi am eigenen Schopf übern familiären Sumpf empörte. Ungezählte Male küsste sie nun ihre liebste Beute, welche ihr wie der Sieg des reinen Gewissens erscheinen musste. Sie begriff, dass sie sich selbst trösten müsste, wollte sie nicht untergehen. Der Trennungsschmerz wich mühselig und langsam dem Stolz, sich gegen die Ausfälle der Welt zu rüsten und zu wehren. Die O beschloss, sie selbst zu werden, sich den beiden Kindern zu widmen und das dritte als Geschenk anzusehn und in mütterlicher Liebe zu pflegen, plante schon, den Landsitz nach ihren Bedürfnissen umzubilden und gleichsam in klösterlicher Zurückgezogenheit zu leben, als sie während des Strickens in der Gartenlaube von einem sonderbaren Gedanken überfallen wurde, dass sie die folgenden Nächte durchwachte, denn immer noch sträubte sie sich gegen den Menschen, der sie hintergangen hatte. Doch war ihre Selbständigkeit am Widerstand der Welt gewachsen, dass sie sich an dem Morgen, da sich das neue Leben aufs heftigste bemerkbar machte, die Initiative übernahm und eine Annonce in die Welt setzte, die wir vor einigen vierhundert Zeilen zur Kenntnis nehmen durften und klinken uns wieder ins aktuelle Geschehen ein und harren der Dinge, die da am nächsten Morgen um elf Uhr im Hause der Familie Viktor von kommen mögen. So oder anders, gleichviel der Liebkosungen und Beschwörung im wiedergefundnen kleinen Glück, es ist wohl alles dem alten Herrn zu viel, dass die Mutter zunächst einen Arzt rufen will, sich aber des letzten ärztlichen Besuches erinnert und es unterlässt. Also bereitet das Personal unter ihrer strengen Anleitung alles Stärkende und doch zugleich Beruhigende für die Abendtafel zu, für die reichlich aufgedeckt wird. Selbst das Ehebett wird vorgewärmt, dass der Herr sich sogleich nach dem Abendbrot hineinlege. Als schließlich das Abendmahl bereitet und aufgetischt ist, wird der Hausherr immer noch vermisst, dass Victoria entgegen sonstiger Gewohnheit nicht das Hausfaktotum nach dem Herrn schickt, sondern ihn selber holen will. Aus dem Zimmer der O kommt freilich Gesäusel, dass die Frau nicht umhin kann, wider aller Gewohnheit, das Ohr an die Tür zu legen. Da lispelt gerade, wie’s der Hausfrau scheinen will, die Tochter und es brummt – der Hausherr, dass die Frau aufs äußerste widerstrebend durchs Schlüsselloch schaun muss.
Und siehe, da trägt der Junker von die Markgräfin von O auf dem Schoß, was er in seinem Leben nicht zugegeben hätte!, und das Kind scheint sich in Abrahams Schoß zu wähnen. Darauf öffnet die gutgläubige Frau Mutter die Tür und weiß nicht, ob ihr das Herz ob der heftigen Versöhnung vor Freude überquillt oder im Tränenmeer aufquellen wird!
Und dies ist, was das Hausfaktotum, als er kurz darauf zum Essen rufen will, als Augenzeuge zu Protokoll geben wird: „Die Tochter still, mit zurückgebeugtem Nacken, die Augen fest geschlossen, in des Vaters Armen liegen[d]; indessen dieser, auf dem Lehnstuhl sitzend, lange, heiße und lechzende Küsse, das große Auge voll glänzender Tränen, auf ihren Mund drückt[.]: gerade wie ein Verliebter! Die Tochter [spricht] nicht, er [spricht] nicht; mit über sie gebeugtem Antlitz [sitzt] er, wie über das Mädchen seiner ersten Liebe, und legt[.] ihr den Mund zurecht, und [küsst] sie.“
Die Mutter will selig sich fühlen, ob der himmelhoch jauchzend gelungenen Versöhnung, die dem Haus vergönnt wäre. Beim Anblick der Frau schlägt der Mann die Augen nieder und zieht das Gesicht kraus. Die Mutter küsst nun ihrerseits Tochter und Vater und führt beide zum Abendmahl nackt gleich den ersten Brautleuten überhaupt, dem alten Adam und seiner Elektra.
Um Mitternacht werden Bewohner in L an der O durch einen Schuss aufgeschreckt.
Doch wer zum Teufel wird am Vormittag um elf erscheinen? ’s ist – wen hätten Sie, verehrter Leser, denn erwartet? - der Obrist Lew K, der noch einen Monat zuvor zur Schaffung eines gerechten und dauerhaften Friedens mit Alliierten konferiert hat und so bald als möglich den Dienst quittieren will, doch nicht bevor ihm nicht das im Kleinen gelingt, was im Großen zu misslingen droht. Was er vorfindet im Haus der Familie Viktor von kann ihm nicht gefallen: Victoria, die Mutter, entblößt und aufgeknüpft am Kronleuchter des großräumigen Ess- und Wohnzimmers über den Resten eines üppigen, von ihr bereiteten letzten Abendmahls,. Der Vater, Junker Viktor von, keineswegs ein Sieger, wie’s der Name verheißt, von eigener Hand gerichtet, den Pistolenlauf noch im Munde, erschossen im Ehebett.
Das Objekt der Begierde spielt mit den zwei markgräflichen Kindern und Essensresten zu Füßen der Großmutter. Elektra greift nach dem Tischtuch und schnäuzt dort kräftiger als zu erwarten wäre hinein. Vom Kronleuchter herab tönt es wie ein „Trösten Sie jene, so wären alle versöhnt, so würde alles vergeben und dürfte vergessen werden“, dass der gestandene und einiges gewohnte Obrist Lew K ans Heulen kommt. Leise lässt er sich vor der O nieder und fasst behutsam eine Hand, dass sie nicht durch seine geschändet werde.
Denn sie jammert ihn wie eine ganze Welt.
„Lassen Sie die schlimme Tat, meine Liebe. Ich wollt, ich hätt die Maskerade entlarvt, die Masken entzwei geschlagen. So bleibt mir nur das alte Wort zu wiederholen, mögen die Toten die Toten begraben! –
Hingegen will ich Sie auf Händen tragen, wohin immer Sie wollen –
und hieße es: Amerika.“
Doch faucht Elektra zurück: „Pfui, schämen Sie sich, mein Herr, dass Sie je gewünscht hätten, die Marskerade zu zerschlagen!
Wie sollt ich Ihnen da vertraun, wo Sie die Tat mir zutraun? –
Wollt ich nicht die Hand Ihnen geben? Doch hätten Sie statt der Mama durchs Schlüsselloch den Gatten mit dem Kind gemeinsam aus dem Krug des Lebens genießen sehn, -
wer wär da brav, wer da böse? Was könnt zum Guten sich da wenden, und wär’s nicht im Leben, so im Jenseits. Doch wenn wir auferstehn wird wieder ein Tag und auch Gericht.“ –
„Bei meiner Seel, das dauert mir zu lang!“, ruft der Obrist, „was ich mit Händen greif und trag, das weiß ich, ’s braucht keines Glaubens. -
Leere Worthülsen, dass ein Leben sei nach dem Tode mit einer Lohnzahlung fürs Leben! Wie würd’ der Tugendsame belohnt und wie der Lasterhafte gestraft? Bloße Sätze, weder zu beweisen, noch zu widerlegen. So können wir des göttlichen Willens getrost entbehren. Eine sanktionierende Instanz ohne Bild und namenlos lässt – verständlich - sich nicht greifen. Zudem würd’s mit jeder Generation enger in Himmel wie Hölle, dass Gott von seinem Thron gedrängt in die tiefste Stelle stürzte und der siebenarmige Leuchter vom zwölfarmigen Kraken um- und verschlungen würde. Doch hätt’ ein Piccard je von einem Gott, statt Garnelen berichtet? -
Tät denn einer von uns nicht mehr was recht ist, wenn Gott und Unsterblichkeit Traum bleiben? –
Nicht Sie, meine Liebe, und erst recht ich nicht! -
Wir werden wohl wieder vom Baum der Erkenntnis nehmen müssen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen. Doch wäre das ein letztes Kapitel für die Geschichte dieser Welt.“ Dass Elektra ruft „gehen Sie!“, und kehrt die Markgräfin hervor: „Auf einen Lasterhaften bin ich gefasst, nicht aber auf den Teufel!“
Mögen andere die Geschichte sich zurechtlegen wie die wohlgefaltete, frische Wäsche zum vorgewärmten Ehebett. Der Obrist ist vernichtet und verbringt sein Lebtag klösterlich in der Kutte des Rotarmisten.
Indes behauptet Frau Üble Nachrede im Intelligenzblättchen, noch als Engel hätte der Rus seinen Mann gestanden.

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Friedel,

das ist eigenartig: vor einem Vierteljahrhundert hab ich in die Marquise von O. (Punkt, nicht Punkt Punkt Punkt, oder welchen Scherz hab ich jetzte übersehen?) reingeschnuppert, weil ich hoffte, versaute Szenen drin zu finden. Das war nicht, stattdessen Gelaber ohne Ende. Und hier fehlt mir dazu die Eigenständigkeit Deiner Alice-Bearbeitung. Der Text steht auch noch in R/E, und es gibt weder Romantik noch Erotik. Der eingezogene Schwanz macht den (Mai)Bock auch nicht fett.

Schade. Der Text gibt mir nichts, er ist zu lang und zu belanglos. Das ist echt schade, denn die Vorlage ist schon ein Langweilerbuch ohne Gleichen (auch, wenn man einen interessanten plot statt Sex sucht), das sich mit Deinem schön skurrilen Humor sehr gut hätte verarbeiten lassen. Die Dialoge wirken eitel auf mich - nicht wie in 'stolz', sondern im alten Sinn des Wortes.

Mach was draus! Da geht noch was. Irgendwo da steckt ne lustige Geschichte drin. ;) Laß die Leut net so viel schwätze, sondern was Spritziges erzählen.

Außerdem verwechselt Du was: Rus ist das russische Wort für die aus Skandinavien eingewanderte nord-westrussische Volksgruppe, wird heute in Rußland von der neoheidnischen Bewegung für das Volk allgemein verwendet; und im Dt. als Synonym für Waräger. Was ja schon ne kleine Weile her ist. Du meinst wohl den Russ(')? Short for Russe und dann sicher mit zwo S.

Früner sagte man, Aphrodite wäre die Mutter des Eros und Zeus der Vater, was genauso viel Gültigkeit hätte wie die verrückte poetische Vorstellung, der Eros entspränge der Verbindung des Regenbogens mit dem Westwind. –
Früher
Darüber stolpere ich jedes Mal: warum 'wäre'? Man sagte, es sei ... ist das nicht so wie die Beschreibung eines Photos: Er sagte mir, dass sie auf dem Bild nach links schaue. Und nicht schaute, weil das Bild quasi immer noch da ist, und sich das Gucken dort nicht verändern kann. Und wenn die Leute sagten, etwas ist soundso ...? Denn ab dem Moment des Sagens bleibt doch die Allgemeingültigkeit bestehen durch die Zeit hindurch. Ich meine, das braucht K I nicht K II. Oder?
Die Formulierungen danach find ich sehr sperrig - die der des des der der des und so. Das läßt sich bestimmt entschlacken.
„Das darf nicht sein!“,
ruft aufgebracht der Bürger und trachtet,
Zeilenumbruch raus

Hm. Unbefriedigend, damals wie heute. :D
Liebe Grüße,
Katla

 
Zuletzt bearbeitet:

Moin Friedel,

glaube ich glatt, dass es eine tatsächlich echte Geschichte ist. Mythische Figuren haben die Körper von achtzehnhundertirgendwas geborenen übernommen und sich als neunzehnhundertfünfundvierziger verkleidet. :) Wirklich wahre Literatur. Diese Mischungen erinnern mich an Castorfs Dämonen, der hat die Nihilisten aus dem Russland von vllt cirka 1870 in das Mecklenburg der Gegenwart versetzt. Super Idee!
Deine Hakenschläge im dritten Absatz verstehe ich als Kommentar zu der Frage, inwieweit Literatur authentisch sein kann. Dass die niemand nach kurzem Nachdenken für ein eins-zu-eins-Abbild von gleichwelcher Wirklichkeit halten wird, darüber brauchen wir nicht reden, es geht doch eher um die Frage, ob man aus eigener Erfahrung schreibt oder ob der Autor schlecht imitiert. Sind so meine drei Groschen dazu.

Beim ersten Lesen kam mir die sehr dichte Geschichte uneingängig und verkryptet vor, irgendeinen Absatz las ich mehrmals, beim dritten Mal habe ich mich beim Kopfschütteln erwischt und musste lachen. Das Schwierige liegt mit an den vor Ironie triefenden Seitenhieben, die müssen erstmal aufgelöst werden - und der teils vergessenen Sprache und sicher auch an der Erzähltechnik.

Der zweite Durchgang hat dann ein bisschen Klarheit in dies verschattete Kernthema gebracht. Wenigstens bilde ich mir das ein. Reicht ja. Die Marquise wird ohnmächtig und ist in diesem Zustand mit dem Obristen allein. Wäre eine Möglichkeit. Dagegen spricht sein Spruch:

das Land sei schneller zu erobern als die Frau …
Sehr seltsam fand ich die Versöhnungsszene von Viktor mit seinem dann doch geliebten Naivling. Das geht ja doch etwas über das übliche zwischen Vater und Tochter hinaus, so wie du es darstellst - dazu noch mit der Zeugenaussage des Faktotums. Elektra. Du wirst wohl die Tocher des Agamemnon meinen. Den Faden verfolge ich aber nicht weiter. Passt wenigstens auf den ersten Blick nicht. Unabhängig davon hab ich die leise Ahnung, der Vater könnte mit ihrer Empfängnis selbst zu tun gehabt haben.

Die Frau erinnert mich teils an Cosette von Hugo, ihre Unschuld (trotz der zwei Kinder!?) und Naivität immerhin und vielleicht auch die ungebrochene Kindesliebe zu dieser Schlangengrube von Familie. Der Vergleich mag auf wackligen Beinen stehen, die Lektüre ist mittlerweile vier Jahre her, spielt aber auch keine große Rolle, auf jeden Fall scheint sie die einzig unverdorbene hier zu sein und die lässt du davonkommen und spendierst ihr zum Schluss sogar einen Hauch Verruchtheit. Recht so, soll ja authentisch sein!

Allein Stille wär.
wär wär verzichtbar

Markgräfin von O…
was solln denn die Punkte immer? Schön find ich die nicht und sinnvoll schon gar nicht. O und K lebten glücklich in L an der T. Geht doch.

östlichen Reichsmarken Gott und Übermensch vertreten hatten
Gott und Übermensch? Das ist aber phantastisch.

Franz K…
Und was macht er hier? Das muss doch nicht, das passt doch nicht.

dass er irre zu werden droht, denn welches Motiv sollte er im Falle des Betruges unterstellen, da die verstoßne einzige Tochter keinen Anspruch auf Verzeihung stellt?
Könnte so ein auf Verschwörung geeichter Alter nicht nach einer in Ruhe gerauchten Pfeife vermuten, dass sie genau denkt, was ich da zitiert habe. Dass das ihr raffinierter Plan, ihr doppeltes Spiel ist. Dass sich der Paranoiker in seinem Wahn fängt? Und später wird er von seiner Frau überzeugt, dass die Tochter doch unschuldig ist. Um hier noch ein bisschen die Schrauben anzuziehen.

ruft der Mann und zerreißt mit heftiger Bewegung den Brief
zerreißen finde ich schon heftig, die heftige Bewegung nimmt Wirkung.

will sich uns geradezu vor die Füße werfen.
zu oft.

bittet wortreich um und findet Vergebung bei Tochter und Gattin
um kann weg.

Tatsache ist, dass der Junker einen geordneten Rückzug der Zivilbevölkerung aus den Stammgütern südlich der Seenplatte organisierte
Mecklenburg! Bismarck sagte, dass selbst die Welt dort hundert Jahre später untergeht. Deswegen sprechen die so komisch.

dahin ziehende
würde ich zusammen schreiben

zertrümmerter Nase den Schwanz einzog und zurücktaumelte
diese ganze Hunde-Bildebene ist doch murks. Kein Tier würde sich so verhalten. Das kriegt nur die Krone der Schöpfung auf die Reihe. Dazu nehmen diese Spielereien der Szene Wirkkraft.

wo sie entkräftet und bewusstlos niedersank
trägt sie ein Korsett? Sie macht gar nicht so einen prinzessinnenhaften Eindruck.

„Vielleicht wirst du Sankt Phantasus gebären“ und lachte dabei, dass die Tochter darauf einging: „Oder doch den Bruder Morpheus, denn Hypnos stell ich mir durchaus als Vater vor“,
Kruder Dialog. Witzig!

wie ein junger Gott, wenn auch etwas blass um die Nase
:D

Es ist von selbst gekommen und wird von selbst wieder gehen.
Hach ja! Nannte man solche Gemütsmenschen?

der Obrist werde nun nicht gerade das vollenden, was dem Volkssturm nicht gelungen!
Er spricht in Rätseln.

„Mama, ach Mutti! Es scheint ihm ernst, dass ich fürchte, er wird’s Papa kackfrech ins Gesicht wiederholen.
Kackfrech? Sagt sie?

Warum sollte er gerade im Krieg einen weniger anstößigen Lebenswandel führen als zu Friedenszeiten?
Die quatschen ja fast alle doppelzüngig, da muss man vorsichtig sein. Aber das passt in keiner Lesart. Nicht zu der Figur.

Sehn wir mal ab von der unbepfleckten Empfängnis
Ich habe einen Tippfehler gepfunden! Preiset mich! Ganz oben ist auch noch einer, fällt mir gerade ein.

müsse, wolle sie nicht untergehen
müsste, wollte

So was wie "eingebildete Kranke" und "letztes Abendmahl" - würde ich nur reinnehmen, wenn weitere Bezüge im Text existieren. Sonst muss man sich was anderes und im Zweifel schwächeres einfallen lassen. Mir kamen die im Text verloren vor. Was wollt ich noch gesagt haben?

Anspruchsvoll und lohnend. Wem das Thema nicht gefällt, der kann das Lesen sportlich nehmen und als Hirn-Jogging betrachten. Mir hats auch Spaß gemacht. Empfehlenswert!

Schönen Abend
Kubus

 

Oh je, ich habe den bösen Verdacht es ist eine Persiflage, ganz in Goethes Geist, das Stück des armen Heinrich von Kleist demaskierend. Dazu noch Connie Francis kopulativ einbeziehend.

Lieber Friedel

Ich werde noch vertiefter darauf zurückkommen, um dich nach dem Motiv zu hinterfragen. Was treibt dich, dem russischen Offizier den Degen vorzuenthalten und ihn stattdessen die Jahre zuvor erfolgte Defloration der Marquise – was er natürlich nicht wissen kann -, mit einer Pistole um sich schlagend abzuwehren.

Vorab nur kurz, zwei Hinweise und ein gedankliches Fragezeichen.

Früner sagte man, Aphrodite wäre die Mutter des Eros

Früher

des an keinem der Fensterstürze zu P… beteiligten Versichrungsangestellten

Versicherungsangestellten

Doch wenn du willst, so öffnen wir dann alle Türen, denn auch wir erwarten mit klopfendem Herzen, wie die Sache ausgeht und du magst sehen, ihm sein Geheimnis zu entlocken.“

Wohl weder Goethe noch Kleist, oder irre ich mich in eigener Fabulierung?

Da du ein buntes Wortspiel treibst mit Kleists Original, Goethes Schweigen zu dem Stück damals beinah in Gedanken fassend, wie mir scheint, werde ich heute Nacht die Marquise wohl noch ins Gebet nehmen. Ich hoffe nur, im Schlaf spreche ich dann nicht mit dem Sonnendach des Balkons, dem wir im französischen auch Marquise sagen. Oh.

Gruss

Anakreon

 

Oh Friedel,

ausgerechnet die O., deren Geschichte ich nur lesen konnte, weil dein Heinz K. sie offenbar mit ironischem Augenzwinkern schrieb, um seinen Frust über die verweigerten Anerkennungen seines talentierten Schattens Heinrich von … und dessen Frauenverehrung (und Verachtung, weil die Frauenzimmer im Leben nicht so frei sein wollten/konnten/durften, wie sein Geist es sich erträumte) zu Papier zu bringen.
Und nun kommt ein F... daher und plagt mich mit vom Hundertstel zum Tausendstel führenden Hirnwindungsgeschwätzigkeiten. Ich weiss nicht, ich weiss nicht. Wie würde das alles lesbarer, wenn du kürzen, schnippeln, verdichten, entklausulieren würdest? Tja, dann käme wieder das Original zum Vorschein und alle Liebesmüh wär umsonst – oder doch nicht?
Immerhin bewundere ich deinen Fleiss und deinen Mut. Es ist ein schönes Lehrstück für ‚kreatives Schreiben‘. Wozu Heraklit passend gesagt haben könnte:
„Den Übermut muss man mehr auslöschen als die Feuersbrunst.“
Elektra: Niemals – bei Artemis‘ / Ewiger Reinheit - / kann mich des Hauses / Ewiges, müssiges / Weibsvolk erschrecken! (Sophokles)
So könnte sie angesichts der Ohnmachtsanfälle der Tragödin O. wohl gesprochen haben.

Mehr weiss ich zu deiner Geschichte nicht zu sagen. Textkram haben die Anderen schon gemacht. Da bleiben mir
wohlwollend liebe Grüsse,
Gisanne

 

Lieber Friedel

Du setzt es im Titel zwar voraus, es ist das spätere Werk, im griechischen hysteron proteron genannt. Doch assoziierte ich lateinisch es in Kleists Geiste, als hystericus prōterreō, das Hysterische wegscheuchend, was sich als grober Trugschluss weist, ist es doch gerade hierin konzentriert.

Stark gekürzt ist das Geschehen um die Marquise von O… Zwar lässt du Kleist weitgehend in originaler Wiedergabe seiner Worte aus der Erzählung sprechen, doch in Friedel’scher Manier, beinah anakoluth zersetzend. Darum beim ersten lesen gestern, mein Gedanke, diese Umdeutung könntest du im Geiste Goethes vorgenommen haben. Wenngleich dies annähernd eine posthume Versöhnlichkeit der beiden Dichter eingefordert hätte, die mir doch undenkbar scheint. So bleibt mir nur es als Friedels Regiearbeit anzuerkennen, wie bühnenreif für Fritz Marquardt inszeniert, der auch schon mal Penthesilea brachte.

Doch wendest du dich hier von Kleist auch ab, über Phantasus und Morpheus hinaus die griechische Mythologie als Inspiration vertiefend. Es war wohl doch nicht Goethe, der dir Pate stand, es sei denn als Abwehr in einer Reflexion von Über-Ich, Ich und Es.

Aus meiner bescheidenen Sicht ist es originell umgeschrieben, was ja nicht aktuell zeitgemäss bedeuten soll. Das Erotische ist wie bereits bei Kleist im Zeitgeist von damals, dem Übergang von der Klassik zur Romantik gefangen. Keine Fesseln, die hierin gesprengt wurden.

Eigentlich fehlte mir zur einleitenden Notiz der Reaktion auf die Novelle, die erstmals Ende 1807 im Cotta’schen Morgenblatt, einer Tageszeitung, erschien, ein Hinweis. Die Monatsschrift Phöbus, die nicht über den ersten Jahrgang hinaus kam, wurde von Heinrich von Kleist und Adam H. Müller herausgegeben. Insofern also eine Selbstdarstellung.

Insofern eine Kleist-Interpretation, die ich gern gelesen habe, in der Lesbarkeit aber nicht vom Original abhebt, keine Modernisierung erfuhr.

Gruss

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Ihr Lieben,

da hab ich mir doch was eingebrockt ... und auf die Menge der RS-Fehler (Flüchtigkeit?) muss ich erst mal schlucken, warn's die schlimmen Zeigefinger oders eintrocknende, weil bei 29 Celsiusgraden verdampfende bissken Hirn? Ich werd's ergründen und dank Euch vorweg fürs Lesen und erste Kommentieren -

ja, so gefällt’s mir: keine Lobhudelei, und wenn, dann geschmackvoll in Ironie gekleidet, dass selbst Eitelfriedrichard nicht der Reihe nach, sondern vom Einfachen zum Schwierigen sich abarbeiten muss, um schließlich doch der Reihe nach vorzugehn.

Da reicht’s vom Langweiler übers Geschwätzige bis zum vielleicht ironisch gemeinten – aber das ist doch mein Job!, lieber Kubus

Anspruchsvoll und lohnend. Wem das Thema nicht gefällt, der kann das Lesen sportlich nehmen und als Hirn-Jogging betrachten. Mir hats auch Spaß gemacht. Empfehlenswert!,
vom Ruf nach mehr Eigenständigkeit und der vielleicht sogar wehmütigen Erinnerung an die Kakophonie bis zum Hinweis auf Persiflage, wobei das Original selbst schon die sich wandelnden Verhältnisse in revolutionärer Zeit (politisch & wirtschaftlich) nicht nur in Frage stellte, sondern gleich verspottet, eine Zeit, die später in der Strafkolonie und einer überhaupt kafkaesker werdenden Welt keineswegs ihr Ende erreicht hat. Nun, eine Figur aus schwerem Traum erwachen zu lassen, dass sie sich als Ungeziefer fühle, wäre dann doch zu deutlich geworden.
Zudem ist die Geschichte so authentisch wie’ne Leberwurst nur sein kann und so glaubwürdig wie Finanzdienstleister, Quacksalber / Wunderheiler, Religionsgemeinschaften und der Konsumismus. Und immer herrscht im Bürgertum Karneval. Statt der Nihilisten von 1870, lieber Kubus, zög ich freilich Kommunarden vor – ob damals in Paris oder später in Berlin und Ffm.

Der Text mutet der einen und dem andern einiges zu, sowohl dem ursprünglichen Schöpfer als auch dem Publikum - beginnt er doch schon mit einem Rundumschlag wider Johannesevangelium und Faust I unter strengen Formvorschriften. Weils Lyrisch daherkommt, wirkt’s sperrig, und ließe sich sicherlich entschlacken, liebe Katla, und bräuchte ein anderes Korsett. Die Rhythmik ginge dahin. Eros ist quasi der im Hegelschen Sinne auf den Begriff gebrachte JHWH, genauso gewalttätig und rachsüchtig. Man kann die Geschichte der O (mit drei Punkten) als auf ein Kammerspiel zusammengedampftes Nibelungenlied eineinhalb Jahrtausend später ansehn, wie Horkheimer / Adorno die Odyssee ins Bürgerliche transportieren und interpretieren. Es kann aber auch als eine Variante des zerbrochenen Kruges gelesen werden, in dem der Sündenfall sich spiegelt.

Zeilenumbruch raus,
liebe Katla, ist darum wegen des Korsetts schwierig zu realisieren. Und ob im Schlusssatz der Verzicht aufs Hilfsverb sinnvoll wäre, lieber Kubus, weiß ich nicht so recht. Konsequent wärs sicherlich, aber es ist ja gar nicht still.

… das ist eigenartig: vor einem Vierteljahrhundert hab ich in die Marquise von O. (Punkt, nicht Punkt Punkt Punkt, oder welchen Scherz hab ich jetzte übersehen?)
Nunja,

liebe Katla,

da hastu wohl eine (gekürzte?) Ausgabe erwischt, an der selbst an den Punkten gespart wurde. Aber Scherz beiseite: dass Erwartungshaltungen enttäuscht werden, kommt immer wieder vor, und Kleist gefällt idR nicht, da er anstrengend ist und doch EIGENTLICH wegen seiner Gewalt der Sprache und der Szenerie was für Horrorfreaks wäre, die aber lieber Dämonen anrufen und Geister beschwören.

… hier fehlt mir dazu die Eigenständigkeit …
was von mir gar nicht gewollt wäre, schließlich stammt das Original von H(v)K und Anakreon hat's in seinem zweiten Beitrag aufgedeckt. Hinzu kommt, dass die Zeit der Originalität eh vorbei ist (sinnigerweise ein Thema in Kellers Rahmenhandlung zu den Zürcher Novellen). Nothing you can say, that isn’t said, zitier ich gerne Lennon’s All You Need …, wenn auch nicht richtig.

Der Text steht auch noch in R/E, und es gibt weder Romantik noch Erotik,
[genauso wenig] versaute[n] Szenen,
also Alltag oder Gesellschaft. Wie, Familienleben hätt’ nix romantisches, und Eros herrschte nicht in Elternliebe? Selbst im Inzest lässt er sich finden (übrigens gilt Zeus als der Vater der A., also Modell dieser Variante der O...). Was wäre in Historik geschehn, schließlich ist – vielleicht hat’s einer schon rausgefunden – der nächste dritte der 3. September 1945, wenn als grundlegender Hinweis der Bestimmungsort des Rus P(otsdam) ist.

Schade. Der Text gibt mir nichts, er ist zu lang und zu belanglos. …Mach was draus!
Bei vielen andern hätt’ ich das „echt schade“ für unglaubwürdig gehalten, wegen des an sich verräterischen Adj. „echt“ beim zunächst verbalisierten und hernach adjektivierten Schaden. Dir nehm ichs ab. Und da ich nie fertig werd (sehn wir mal derzeit von Steuererklärungen ab), darfstu schon geradezu auf Änderungen gefasst sein, die mehr werden als Reparaturen – aber „lustig“ wird’s bestimmt nicht.
Was letztlich den Begriff der „Rus“ betrifft, weiß ich schon um die Söhne Ruriks, von denen sich der Name Russlands ableitet.


Moin Kubus,

oben hab ich’s schon angerissen: schlag den F… mit seinen eigenen Mitteln: Ironie, dass selbst ich’s nicht weiß, wie ernst etwas gemeint sei wie bei der Behauptung / Festsetllung<

die sehr dichte Geschichte,
was von Katla und Gisanne gänzlich anders wahrgenommen wird.

Elektra. Du wirst wohl die Tocher des Agamemnon meinen.
So isset. E… ist die Tochter des Mannes, über den Karl Kraus spottet, dass der Leser eines Tages „angenommen“ hineinläse, wie er den Kyffhäuser mit Kaufhäusern verwechseln werde. Und wer wollte daran zweifeln, dass es in der Medienlandschaft so weit ist?

Unabhängig davon hab ich die leise Ahnung, der Vater könnte mit ihrer Empfängnis selbst zu tun gehabt haben.
Dir gebührt der Wäschetrockner!

was solln denn die Punkte immer? Schön find ich die nicht und sinnvoll schon gar nicht. O und K lebten glücklich in L an der T. Geht doch.
s. o. bei Katla. Selbstverständlich ginge’s. Aber ich trau mich nicht zu emanzipieren. Wo würd ich das Komma setzen?

Gott und Übermensch? Das ist aber phantastisch.
So ist es – wie die gekürzte Volksausgabe des Tausendjährigen Reichs durch den Anstreicher und seine Gehülfen, die Kleist (!) für sich vereinnahmen und sich als Nietzsches Übermensch wähnen.
Und was macht er hier? Das muss doch nicht, das passt doch nicht.
Doch, doch. S. o.
zerreißen finde ich schon heftig, die heftige Bewegung nimmt Wirkung.
Da denk ich drüber nach. Aber so ists Theater: übertrieben, und Kleist zog’s eher zum Theater als ins Prosaische ... darum auch einiges
zu oft

um kann weg.
Eher nicht, Kubus. Schau den auslösenden Satz noch einmal an!

Mecklenburg! Bismarck sagte, dass selbst die Welt dort hundert Jahre später untergeht. Deswegen sprechen die so komisch.
Das wäre noch ein halber Wäschetrockner … Der Schlüssel liegt da auch bei Elektra (= Bernstein). Aber noch weiter nordöstlich finden sich noch Seen mit Landschaft M(asuren), was natürlich den Fluchtweg zum nächsten Punkt und nach L an der O arg verlängert. Was uns zum nächsten Problem führt "dahin ziehende / dahinziehende"
würde ich zusammen schreiben
Der Duden führt’s zwar nicht weiter aus, aber mit dem Verb Gehen wäre dann ein Modell vorhanden: die neue RS ist da wieder kompromissbereit, das dem geneigten Nutzer die Entscheidung obliegt.
Ich neig, wo Du mich drauf gestoßen hast, für die Unterscheidung vom (eher) ziellosen Flüchtigen zu Fliehenden mit einem bestimmten Ziel, der ein Ort oder auch ein abstrakter Begriff sein kann. Erstgenanntes wäre dann im Unterschied zu letztgenannter Variante zusammenzuschreiben. Diese Situation ergäbe sich aber erst mit der garantierten Bewegungsfreiheit durch den Befehlshaber der Rus.

diese ganze Hunde-Bildebene ist doch murks. Kein Tier würde sich so verhalten.
Murks kann man vertreten, aber als Alpharüde, sprich: Hundehalter, erlebt man schon erstaunliches. Alles, was menschlich ist, haben unsere besten Freunde übernommen, kann auch gar nicht anders sein, werden sie doch im Gegensatz zu ihren wilden Verwandten idR schon nach acht Wochen von ihrer tatsächlichen Lehrmeistern weggenommen und in Haushalten der Krone der Schöpfung in preußischem Gehorsam gedrillt(mancher hält sich ja so'n dann wirklich armes Vieh, weil ihm dann mal endlich einer gehorcht und folgt). Bei den Züchtern obsiegt zudem immer noch der Rassismus, der dann auch missionarisch vertreten wird …

trägt sie ein Korsett?
Weiß ich nicht, bin selten dabei, wenn E. die Kleidung wechselt. Da wäre auch meine Frau vor!

Nannte man solche Gemütsmenschen?
Bingo! Jetzt gehn mir die Wäschetrockner aus.

Er spricht in Rätseln.
Man, jetzt musstu nochmals lesen … Aber da kommt wieder der warmherzige Samariter bei mir hervor mit Selbstzitat:
… , bis man mit Schrecken von einem Augenzeugen erfuhr, dass der gute Mann noch am Abend des Aufbruchs vom Schloss durch den Volkssturm schwer verwundet wurde und verblichen sei.

Kackfrech? Sagt sie?
Behaupt ich mal.

Die quatschen ja fast alle doppelzüngig, da muss man vorsichtig sein. Aber das passt in keiner Lesart. Nicht zu der Figur.
Ich denk drüber nach.

müsste, wollte
Oh man, das ist für mich schlimmer als die Tippfehler!, obwohl das abgebrochene h im früner auch was hat!

So was wie "eingebildete Kranke" und "letztes Abendmahl" - würde ich nur reinnehmen, wenn weitere Bezüge im Text existieren. Sonst muss man sich was anderes und im Zweifel schwächeres einfallen lassen. Mir kamen die im Text verloren vor.
Auch hier denk ich drüber nach.

Oh je, ich habe den bösen Verdacht es ist eine Persiflage, ... , das Stück des armen Heinrich von Kleist demaskierend. Dazu noch Connie Francis kopulativ einbeziehend,
bringt’s schön auf den Punkt,

lieber Anakreon,

und beim

Versicherungsangestellten
schau ich mal, obwohl ich K13 (K14 ist hierzulande die politische Polizei) Wahlfreiheit zuließe …

Wohl weder Goethe noch Kleist, oder irre ich mich in eigener Fabulierung?
Wüsst ich jetzt nicht einmal mehr zu sagen.

Schöne Assoziation

hystericus prōterreō, das Hysterische wegscheuchend, was sich als grober Trugschluss weist, ist es doch gerade hierin konzentriert,
und klarer Schluss.

Ja, ich denk auch dass Goethe und Kleist unversöhnlich gegeneinander standen, was sich ja bei Heinz zum Wahnwitz sich steigerte, dem AQlten in Weimar die Krone zu entreißen. Uralte Tragödie um den Olymp ... Und in der Tat: die Marquise ist zum bürgerlichen Kammerspiel zusammengedampft, selbst wenn sie alle von & zu oder auch auf & davon heißen. Man erinnere sich der Bewunderung der authentischen Leberwurst von Guttenberg.


Eigentlich fehlte mir zur einleitenden Notiz der Reaktion auf die Novelle, die erstmals Ende 1807 im Cotta’schen Morgenblatt, einer Tageszeitung, erschien, ein Hinweis.
Schau'n mer ma', wie der Kaiser so sagt.

Hallo Gisanne,

gern erinner ich mich des Ikarus (ist der tatsächlich einfacher gestrickt?) und der Schillerparodie –
und jetzt ist Dir seit einigen Texten das Lachen vergangen. Ich arbeite am nächsten Irrtum, der wieder offensichtlicher komische Elemente enthalten wird.

Versprochen!

Gruß und Dank Euch allen für die Arbeit & Mühe

Friedel

 
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Nun,

Ihr Lieben,

was lange währt, wird, sofern man dem Volksmund glauben darf, gut.

Dennoch habe ich mir einige Worte der vergangenen Kommentare / Bemerkungen zu Herzen genommen, pardon, wär’ ich krank am Herzen?, nee, eher am Kopf!. Ich hab also nachgedacht und einiges nun übernommen – wobei die mythischen Zeilen zu Beginn die größte Änderung erfuhren – überwiegend auf Katlas und Kubus’ Verweise hin.

Ist noch der erste Satz unverändert, so steigten wir sofort ein: Wo es ursprünglich heißt:

Nichts wär ohne ihn, weder Wort noch Tat. Allein Stille wär,
wird nun das Mobiliar umgestellt und aus zweien drei Sätze genacht: „Ohne ihn wäre nichts. Gäb’ weder Wort noch Tat. Allein Stille wäre.“
Ähnliches widerfährt den nächsten Versen, wobei hier die Artikel eingeschränkt bzw. ersetzt werden. Hieß es vorher
Früher sagte man, Aphrodite wäre die Mutter des Eros und Zeus der Vater, was genauso viel Gültigkeit hätte wie die verrückte poetische Vorstellung, der Eros entspränge der Verbindung des Regenbogens mit dem Westwind –
so steht nun „Früher wurde gesagt, Aphrodite sei Mutter des Eros und Zeus sein Vater, was ebenso viel gilt wie die verrückte poetische Vorstellung, Eros entspringe einer Verbindung des Regenbogens mit dem Westwind. -“

Das

Doch: Kann das sein?
wandelt sich nun in den Konjunktiv irrealis, weil wir der mythischen Welt staunend und zweifelnd gegenüberstehen: „Doch könnte das sein?“, der gutbürgerliche Aufschrei wird nun in indirekter Rede und vom Einzelnen zu den Vielen gebracht.
„Das darf nicht sein!“, / ruft aufgebracht der Bürger und trachtet, die gute Ordnung wiederherzustellen
wandelt sich in „Das dürfe nicht sein, / rufen aufgebrachte Bürger und trachten, die gute Ordnung wiederherzustellen“, leben wir doch in demokratischen Verhältnissen.

Bei den nun folgenden Vätern erweist sich ein Artikel als entbehrlich und nach der Behauptung eines obsiegenden Todestriebes nach Feststellung der Vaterschaft des Ares

An Stelle des Zeus rückt Ares. Niemand will sehen, wie unter seiner Regentschaft die geflügelte Bosheit wächst im Maß nackter Begierde, dass Tartaros, der Bruder des Eros, obsiegt
ob überhaupt jemand dergleichen sehen will „An Stelle des Zeus rückt Ares. Will denn niemand sehen, wie unter seiner Regentschaft Bosheit wächst im Maße nackter Begierde, dass der Bruder des Eros obsiegt, Tartaros!?“

Der Schlussatz, ursprünglich dem Anfangssatz nachgebildet

Am Anfang war Eros. […] Am Ende ist Stille.
wird nun zum Spiegelbild, Vergangenheit verweist aufs Künftige:
„Still wird es am Ende.“
Der geneigte Leser könnte nun die gesamte Geschichte in den paar Versen erkennen.

Die Kleist’sche Marotte, Namen nur mit einem Buchstaben und drei Punkten zu versehen - mit Ausnahme in der Überschrift – wird fallen gelassen. So heißt es nun nicht mehr

… Heinz K…, Fennsterstürze zu P… […] Versicherungsangestellten Franz K…,
sondern „… Heinz K, Fennsterstürze zu P […] Versicherungsangestellten Franz K,“ der sich sicherlich in dieser Gesellschaft nicht anders fühlen wird als zwischen den Buchdeckeln, zwischen denen er bisher leben musste.

In der Passage

„Blödsinn!“, ruft der Mann, indem er die Papiere heftig bewegt übereinander schiebt und mit einem knurrigen …
halt ich die heftige Bewegung des Mannes inzwischen - wie Kubus schon vordem - für übertrieben, zumal dergleichen noch einmal geschieht:
„Ach, geh mir weg!“, ruft der Mann und zerreißt mit heftiger Bewegung den Brief:
Der Mann ist halt wütend, neigt wie jeder Patriarch zum Jähzorn.

Nun ja, wie nebenbei widerfährt einem, dass man unauffällig seine eigenen Schnitzer findet & korrigiert und einen kleinen Scherz einführt.

Gruß & nochmals Dank vom

Friedel

Am 2.6. schrieb Friedel ergänzend:

Nach der Lektüre vor allem des zerbrochnen Kruges ändert sich das Werkchen erneut:
Heißt es bis gerade noch zum Schluss

Zitat:

Das Objekt der Begierde spielt mit den zwei markgräflichen Kindern ... Leise lässt er sich vor der O nieder und fasst behutsam eine Hand, dass sie nicht durch seine geschändet werde. Doch Elektra ruft „gehen Sie!
“ …

heißt es nun zwischen "geschändet werde" und dem Folgesatz "... Elektra ruft ...

(hier hat Friedel den eingefügten Text zitiert, den können Interessenten direkt in Beitrag #1 nachlesen)

Bitte nur wegen Textänderungen keinen neuen Beitrag schreiben, die Änderungen dann auch noch im Volltext zitieren und zur Krönung Gedanken offenlegen, die nichts mit der KG zu tun haben.

 

hallo friedel,

die geschichte zeigt viel belesenheit, sprachwitz und einen hang zum geschichtlichen. die dialoge und das zeitkolorit finde ich oft ziemlich gelungen. das ist beneidenswert!

allerdings fehlt mir sehr die leserbezogenheit. das zeigt sich nur auf formaler ebene durch die fehlenden absätze, sondern auch auf struktureller und inhaltlicher ebene. mir fiel es unglaublich schwer, mich in dem text zu orientieren, obwohl ich die vorlage kannte.

fazit: ein anspruchsvoller text, aber auch sehr anstrengend, leider kein rund-um-lesevergnügen. wenn es dir gelingt, dein umfangreiches wissen, dein sprachtalent leserfreundlich zu portionieren, kommt sicherlich etwas tolles heraus.

schöne grüße petdays

 

Hallo petdays,

da hastu Dir gleich einen schwierigen Text vorgenommen, der es in sich hat, dass 99.9 % der potentiellen Leser die Finger von lassen. Tatsächlich ist überm Inhaltlichen bereits eine wunderbare Freundschaft mit einer Kollegin zu Ende gegangen, weil der Text - der ja den Kleist um eineinhalb Jahrhunderte in die Zukunft und somit direkt nach den Zweiten Dreißigjährigen Krieg (1914 - 1945) versetzt - die Nachkriegsgeneration, zu der ich mich gerade noch zählen kann - mitnehmen muss, weil die Vorstellung des hehren Teutschtums oder doch eigentlich Preußentums widerlegt wird. Beneiden braucht man mich darum nicht.

Mein Bemühen geht dahin, eben keinen, weil alle Stile zu verwenden wie sie halt anfallen. So hab ich den Kleist quasi mit seinen Mitteln aktualisiert und Kleist ist nun mal selbst heute den meisten zu sperrig und doch von einem geradezu grimmigen Humor. Was nicht heißt, dass ich nun die "Schwere" durch Kleist produziert wissen möchte: da bin ich allein verantwortlich für und dass ich auch komplizierte Sachen relativ einfach erklären kann, wirstu in Rezessionen hier vor Ort finden. Würd ich jemandem zu viel verraten, dass es mir verdächtig vorkäme, "populär" zu sein? Womöglich im mainstream mitzuschwimmen? Anpassung ist auch im wirklichen Leben nicht mein Ding, da schwimm ich lieber gegen den Strom und bin anschließende rechtschaffen müde.

Dein Urteil

ein anspruchsvoller text, aber auch sehr anstrengend, leider kein rund-um-lesevergnügen
ist korrekt! Und wenn ich Dir verrate, dass durchaus auch Lesevergnügen hier vor Ort liegt, wäre das so unglaublich? Nur: auch das schwimmt nicht im mainstream.

Ich dank Dir fürs Lesen und ehrliche Kommentieren!

Gruß vom Friedel,

der gleich schon wieder auf östlichen Fußballfeldern sich rumtreibt ...

 

„Wettre hinein, o du, mit deinen flammenden Rossen, / Phöbus, Bringer des Tags, in den unendlichen Raum!" Kleists Motto in der ersten Ausgabe des Phoebus
Die Geschichte der O, der O ... und der O ...., die Geschichte von Krieg, Gewalt und Sex. Die Geschichte von Unterordnung von Frauen in Familie und Moral. Das ist also Weltgeschichte im kleinen Haushalt unter einer Markise, die Sonnenstrahlen und Gewitter abhalten soll von Frauen unter dem Schutz des Militärs.
Hallo Friedel!
Wo, so frage ich Dich, sind die Punkte geblieben? Vier, drei, keiner? Und der Gedankenstrich, es sind so viele, ist er auch da? Oder spielt er Taschenbillard? Musste dieser Begriff unbedingt sein, er fällt so sehr heraus. Das hättest Du mit viel Ironiegewinn umschreiben können. Und was sagt es über die Ehe aus? Wäre eine schöne Chance gewesen. Dass die Ehepartner sich am Schluss umbringen, ist eine logische Konsequenz. Wie tut es dem Leser wohl, sie im Jenseits zu wissen, wenn Vater und Vergewaltiger in dasselbe Horn stoßen.
Ist Elektra ein Vorbild für die Lösung von Familienproblemen?
Die Markise von O, war sie in Roissy? Ist doch die Markise von O .... eine Emanze, die selbstbewusst genug ist, gesellschaftliche Konventionen zu überschreiten? Oder clever genug ist, so zu tun, gerade um ihre gesellschaftliche Reputation zu retten. Das galt auch für die Amihuren und Russenhuren 1945.
Der Krieg spielt sanft im Hintergrund mit, zu sanft. Was Papi und Manni im Zweiten Dreißigjährigem Krieg trieben, tönt nur leise herauf. Gesittet geht es zu in dieser Familie, ehrenhaft, sauber, ordentlich, wenn nicht der Gedankenstrich wäre.
Nun ja, und das Taschenbillard?
Was bringt es, alte Stoffe zu modernisieren, oder moderne Kleider zu antikisieren? Wie auch immer, man baut auf Altes in jedem Fall auf; man schreibt ja eigentlich nur Fortsetzungen von bekannten Geschichten. Dies bewusst zu tun, wie Du in dieser Geschichte, bringt natürlich Orientierung und Bewusstheit. Und Differänz, die Erkenntnisgewinn garantiert. Hier eben Olektra.
Die Lesbarkeit ist anfangs wenig flüssig, nach einem Drittel etwa fängst du dich, und ich lese es mit Vergnügen. Überhaupt Vergnügen: Man rät Dir, „einfacher“ zu schreiben, „leserfreudlicher?“
Der Text war freundlich zu mir, (und ich zu ihm). Die Freundlichkeit des Texts liegt darin, mir Denkaufgaben zu geben, die mich fordern. Leserfreundlichkeit, die runter geht wie Öl, hat dieselbe Wirkung wie dieses.
Viel zu sehr verbiegen sich Autoren bis zu den Füßen von Lesern, die sie auch noch küssen in shades of grey. Wirklichkeit so zu beschreiben, dass die Beschreibung wenigstens näherungsweise der Komplexität der Wirklichkeit nahekommt, ist Dir gelungen. Das verschafft mir Vergnügen.
Insofern tut sich in und hinter Deinem Text eine Welt auf, die sich der Leser erarbeiten muss. Sie besteht aus vielen Wörtern, die nicht erschlagen, nicht schließen, nicht vereinnahmen, sondern eröffnen, auf einen (Irr?!)Weg schicken, lebendig machen.
Elektra verbreitet das Grauen, dass selbst ein Rus die Flucht ergreift. Die Maskeraden, ein ohnmächtiges Baumeln an den Fäden im Marionettentheater, so baumelt die Mutter, baumeln fünf Soldaten, baumeln die Figuren am Händchen des Autors, der wiederum am Drähtchen von Gott oder Nietzsche oder Kleist oder K oder –wie viele Punkte jetzt? - O .... je.

„Gewittre hinein, o du, mit deinen vieldeutigen Worten,
Friedel, Bringer der Wahrheit, in den endlichen Raum.“
Motto Wilhelms zu Föbus, 1. Anmerkung
Segle weiter auf dem Wörtersee
Wilhelm

 

Nach dem Bad im Wörtersee und dem zehn-Gänge-Menü auf der Ewigen Baustelle zu Wonsiedel kömmt der Friedel gar nicht mehr aus der Freude heraus, dass er glatt zum vroidenrich wird,

lieber Wilhelm,

vor allem die Interpretation

Die Geschichte der O, der O ... und der O ...., die Geschichte von Krieg, Gewalt und Sex. Die Geschichte von Unterordnung von Frauen in Familie und Moral. Das ist also Weltgeschichte im kleinen Haushalt unter einer Markise, die Sonnenstrahlen und Gewitter abhalten soll von Frauen unter dem Schutz des Militärs,
doch dann die Frage
Wo, so frage ich Dich, sind die Punkte geblieben?,
worauf ich erstmals sprachlos bleibe. Aber doch sicher musste zumindest Taschenbillard genannt werden - ob ich das heute noch fände - ich fürchte fast, ja! Und dann geht Dein Text runter wie ein Honigbad (schmeckt mir besser als in der Ölwanne zu liegen)
Der Text war freundlich zu mir, (und ich zu ihm),
dass die zwote Hälfte Deines feinen Kommentares zur Pflichtlektüre hierorts werden müsste. Aber ach, hierorts ists - wenn schon kein Spiegelbild der Gesellschaft, dafür wären wir hier allzu wenig repräsentativ, dann doch zumindest ein Abriss mit ausgefransten Seiten.

So segle und bade ich weiter im Wörtersee!

Gruß & Dank vom

Friedel,

der noch mit Wolfgang Neuss zusammen frohe Ostern und fröhliche Western wünscht!

 
Zuletzt bearbeitet:

„Wettre hinein, o du, mit deinen flammenden Rossen, / Phöbus, Bringer des Tags, in den unendlichen Raum!"
[…]
Gewittre hinein, o du, mit deinen vieldeutigen Worten,
Friedel, Bringer der Wahrheit, in den endlichen Raum.

Hoppla, ich ein Antipode Kleists (vielleicht gar als vriedel?),

lieber Wilhelm,

das muss mir ja gefallen, beginnen wir also mit dem Alten im Neuen (und umgekehrt), das man ja einfach zusammenfassen könnte, dass es nichts Neues unterm Himmelt gebe, oder der gern von mir verbreitete Hörfehler, als ich anno 67 die Veröffentlichung von All You need is Love erleben durfte, und zwar bedingt durch die mantramäßige Aufzählung beginnend mit dem
“There’s nothing you can’t do that can’t be done”,
folgt bei mir dann eine Zeile
“Nothing you can’t say that isn’t said” –
die in der Weise gar nicht vorhanden ist, aber zwangsweise einem 17-jährigen kommen musste, der gerade den Tractatus gelesen hat.

Ausführlicher und folgerichtiger hat Gottfried Keller Originalitätssucht in der Rahmenhandlung zu den Züricher Novellen und im Hadlaub, vor allem aber in Briefen an Heinrich Hettner gegeißelt. Weil’s so schön zusammenfasst, zitier ich einfach die Zürcher Rahmenhandlung:„‚Also ein Original möchtet Ihr gerne sein, Meister Jacques?’ sagte nunmehr der Pate und strich seinem Schützlinge das Haar aus der erhitzten Stirne. ‚Ei, das kommt nur darauf an, was für eines! Ein gutes Original ist nur, wer Nachahmung verdient! Nachgeahmt zu werden ist aber nur würdig, wer das, was er unternimmt, recht betreibt und immer an seinem Orte etwas Tüchtiges leistet, und wenn dieses auch nichts Unerhörtes und Erzursprüngliches ist! Jenes ist aber im ganzen so wenig häufig oder recht betrachtet so selten, daß, wer es kann und tut, immer den Habitus eines Selbständigen und Originalen haben und sich im Gedächtnis des Menschen erhalten wird, ganze Stämme sowohl, wie einzelne. (…)’“

& nochemal zum

Taschenbillard? Musste dieser Begriff unbedingt sein, er fällt so sehr heraus. Das hättest Du mit viel Ironiegewinn umschreiben können.
dachte nun drüber nach, find aber die begünstigte und frühe Stellung als Andeutung keineswegs unpassend, wenn Taschenbillard auch an sich niemand diskreditieren kann, der sich auf die Weise unauffällig mit seinem Schritt beschäftigt (ich bewundere, wie diskret ich sein kann). Es ist halt in einem einzigen Wort oft mehr verborgen, als ganze Sätze es verheimlichen könnten.

Ist Elektra ein Vorbild für die Lösung von Familienproblemen?
So viel oder so wenig als es die Tochter Agamemnons wäre, selbst als olektrische Variante – übrigens eine Wortzusammenführung, die mir gefallen will.

Die Markise von O, war sie in Roissy?
Müssten wir die Jungfer fragen, vielleicht kennt sie ja den Sadi-Markis ... Womit ich bei den Punkten wäre, welche kommen und gehen, wie sie wollen. Züchtigen will ich sie, aber dann doch ordentlich!

Mein J, in neun Monaten ist Weihnachten schon wieder vorbei!

Gruß vom

Friedel,
der heute findet, dass Herr Göthe seinen Osterspaziergang modifizieren sollte

 

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