Hysterie und Freude
Keine Ahnung, erst werde ich ganz traurig. Ich stelle mir die Fragen stellvertreterhaft für diejenigen, die da sitzen, in ihren wollenen Wohlfühl-Einwickelpaketen, während sie ausufernd und doch gleich beschränkt von einer Arschbacke, die zu große Ausmaße annimmt, rein statistisch betrachtet, auf die andere nervös und bestimmt rutschen. Ich bürde mir den Existenzialismus auf, der an denen nagen sollte, die so absurd vor sich hinseiern. Doch sind die so froh und selbstbewusst, nach dem ersten Tropfen Regens selbstverständlich aufzustehen und heimgehen zu können. Ihre große Bestätigung liegt darin, gesellschaftlich und intersubjektiv gerechtfertigt das tun zu können, was sie ohnehin wollen, das ist: keine klassische Musik hören, keine Musik im Freien hören, nicht mit Schönem oder Gehaltvollem konfrontiert werden, das ihren Alltag übersteigt und durch ein Zur-Schau-Stellen dieses durch die Vermittlung nur der Idee des Unterschieds des Seienden und des Sollenden Selbigen als minderwertig und stets höchstens zweckgerichtet anzudeuten.
Es sitzen da zwei Menschen, die ein Paar bilden. Sie hatten sich vorne schon am Eingang zwei hauchdünne Fürstinnen-Regenüberzieher erworben, bevor der Himmel überhaupt ein Anzeichen der Möglichkeit von Regen zu vermitteln im Stande und bei Laune war. Im ersten Tropfen, zu Beginn des dritten Satzes, haben sie die läppischen Regenschutz-Placebi hervorgekramt und zunächst versucht, eine Trennung zwischen oben und unten vorzunehmen. Noch sahen sie aus wie ein schickes, klar: im Gestus leichtens bäuerliches Paar. Ihre Regenkruschler kruschelten sie entgegen des Taktes der Musik, die uns etwas vom Ideellen voridealisierte, nach vorne, hinten, unten, oben. In der zig-ten Umkehrung des Neigungswinkels der Überzieher wurde eine Stellung erkannt, die den Erfolg des endgültigen Überziehens über das Überziehungsobjekt, ja: den Menschen, zu verheißen mochte. Die Frau war indes schneller. Sie wurde früher als der Mann aus rückwärtiger Sicht von der Hauchdünnheit der Regenschutzsache gnomhaft gen Boden idealisiert und verlor in gewissen Maßen ihre Menschlichkeit als Projektionspunkt von Hass und Zorn ob der Erkenntnis der allgemeinen Nichtigkeit der Existenz in der Hilflosigkeit der Protagonisten im Besonderen. Der Mann hatte es da schwerer, noch. Insbesondere bereitete es größte Anstrengungen, die Öffnung zwischen beiden Seiten der Hauchdünnität des angeblichen Regenmantels herauszufieseln. Als er noch kaum-sitzend unter die zweite Haut des Fürstinnenproduktes schlüpfte und seine Rückschau hierdurch verrutschte, regnete es nicht. Einige saßen bereits auf der ganz rechten Seite der Tribüne, wohl in der freudigen Erwartung, entweder bei Wiedereinsetzung des Regens oder überhaupt Regen endlich gehen zu können oder klatschen und gleich währenddessen gehen zu können, was ihnen zusätzlich eine Ahnung einer Multibegabung vermittelt hätte. In der Reihe vor uns saß eine Frau neben einer anderen Frau des gleichen fortgeschrittenen, dennoch noch vernünftig lebensfähigen Alters. Beide hatten schon im Fallen des allerersten Regentropfens ihre Outdoor-Multitaschenjacken angehetzt und sie hatten sie angehetzt gehabt, bevor besagter Fallender gefallen ist. Es knisterte und kruschelte und beides tat es nach. Die eine oder die andere fasste nachher im Verlauf des Konzerts alle halbe Minute lang irgendwo hin. Es war abwechselnd ihre Frisur, die im strengen Sinne keine war, ihr Schritt, ihre Jacke, insbesondere ihre Tasche. Sie rutsche subtil herum, schnäuzte sich ohne rotzinduzierte Notwendigkeit, warf sich ein Salbeibonbon nach dem anderen ein. Vorne versuchte sich der Dirigent an einer Idee, falls er das auch so sah. Das Orchester war mittel, klar, die demokratisch organisierten Chöre ebenso, aber bitte, diese Leute sollen sich doch wenigstens versuchsweise in irgendetwas hineinversetzen. Ich blickte nach links zu Christina und sie lächelte lieb und war schön, wie immer; sie wäre es auch gewesen, wenn Dargebotenes im Rahmen einer Jahrtausendvorstellung dargeboten worden wäre mit nur Nobelpreisträgern im Publikum. Die Schönheit vorne nahm ihren Lauf im Versuch, sie zu sein oder zu zeigen, was keiner bemerkte. Der dritte Satz ging in Richtung seines Endes. Da es aufgehört hatte zu regnen, war das Regenabwehrprodukt des Mannes mit der Frau von Selbigem nach hinten verrückt worden, knisternderweise, sodass er nur noch kaum vom Schutze umgarnt war. Ich blickte auf das Licht vorne links, das eine abgeschwächte, ferne Projektion der Originalität des lilafarbenen Schlossbeleuchtungslichtes über den Köpfen der Musikfans darstellte. In ihm gaben sich personalisierte Regentropfen hin, die in ob ihrer Wenigkeit kaum zählbarer Anzahl auf die Häupter direkt oder die synthetischen Knautschfasern der kaufenden Hörerschaft herniederglitten und ihnen eine Zärtlichkeit zuteil werden ließen, die diese eben gar noch durch die Herumrutschung billigen Mistes abzuwehren suchten. Ich glaubte, die Berührung der Tropfen genießen zu können. In den letzten Takten des dritten Satzes zuzzelte der Mann schneidbar beschämt die Oberheit seiner Regenjacke über seine bereits schon zertatschte Ansatzfrisur. Seine ebenso ausstaffierte und gnomhaft zutraulich wirkende Frau schmiegte sich, eine kaum merkliche Distanz wahrend, an seine Schulter, wobei es hörbar und die letzten Hauche des dritten Satzes überhörbar polyesterte. Das ist die beschissene Postmoderne, die es nicht gibt. Die Leute klatschten wie schon zum Ende der bisher dagewesenen Sätze, wohl in der Erwartung, endlich aufgrund des Regens oder, was eine noch überzeugendere Rechtfertigung wäre, nach Abbruch oder gleichbedeutend Ende des Konzertes nach Hause rennen zu können, um in Genuss des Fun-Freitages auf einem Fernsehsender oder eines anderen Programmes auf einem anderen Sender zu kommen. Einige warteten wahrscheinlich noch auf „Die Neunte“, die muss man ja kennen. Die Bühne befand sich exakt in der Mitte des Fürstenschlosses, das mich ein wenig an den schwach genutzten Regentenbau erinnerte. Klare und weiche Lichter beleuchteten den zahlreichen Chor, dessen Mitgliedern nun schon seit mehreren Wechseln der Gezeiten die blauen Gesangsbücher beschwerend auf den Schößen lagen. Nun also würden sie bald aufstehen können. Der koreanische Tenor leitet seine Individualitätsberechtigung höchstens aus dem Tenor-Sein ab, das ist es wohl. Die Regenpartikel wurden mehr und ich fühlte mich wohl im zärtlichen Aufschlagen der Tropfen auf meinem Kopf und Anzug, während die Musiker sich im strengen Licht nervös zurechtrückten. Der vierte Satz wurde solide dargereicht, was gleichsam zu wenig ist und genau richtig. Es ging um große, pathetische Freude, es regnete und hörte indes auf zu regnen. Im Choral, zeitlich verstanden, wurden knisternde Gebrauchsgegenstände en masse hin- und hergeschoben. Diese unangenehme Person stopfte ein Bonbon nach dem anderen in sich hinein, bevor und nachdem sie die Position ihres Rucksackes im Raum veränderte. Mich hat das schon insofern schier zum Wahnsinn getrieben, als meine Identität, sofern ich Relationen zu anderen Dingen als für diese konstitutiv betrachtete, sich aufgrund des Nicht-Still-Sitzenkönnens dieser Person stetig für mich einsichtbar veränderte. Der Rucksack war oben und unten und ich hätte sie am liebsten umgebracht, als sie das andante maestoso überschnäuzte. Auf einmal begriff ich, worin die Freude eigentlich liegt. Es ist die Freude auf die Gleichheit im Tode, die Gewissheit des Vergehens aller, so auch dieser Leute, die dort vorne saßen. Einmal noch kurz meinte ich, ein Prasseln im Lichtschein über den Köpfen zu vernehmen, doch keiner wurde mehr richtig nass. Der letzte Takt fiel und noch im Klatschen gingen, nein rannten, viele dem Ausgang entgegen, in die heimische Stube, zu dem, was immer und als Einziges ist. Der Dirigent und maßgebliche Spieler bedankten sich artig auf die herkömmliche Weise. Als Jacken und weitere Beruhigungsdinge zurück in die Wanderrucksäcke gepackt wurden, hatte es im Grunde gar nicht geregnet. Die Leute seien aus Zucker, hörte ich sagen. Man könnte indes meinen, die Leute freuen sich auf den Tod, dachte ich mir aufstehend, als ich den oberen Knopf meines Anzuges schloss und in den Abglanz des Lichtes blickte, unter dem keine Häupter mehr waren und in dem sich keine Regentropfen mehr materialisierten.