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Hysterie und Freude

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27.06.2003
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Hysterie und Freude

Keine Ahnung, erst werde ich ganz traurig. Ich stelle mir die Fragen stellvertreterhaft für diejenigen, die da sitzen, in ihren wollenen Wohlfühl-Einwickelpaketen, während sie ausufernd und doch gleich beschränkt von einer Arschbacke, die zu große Ausmaße annimmt, rein statistisch betrachtet, auf die andere nervös und bestimmt rutschen. Ich bürde mir den Existenzialismus auf, der an denen nagen sollte, die so absurd vor sich hinseiern. Doch sind die so froh und selbstbewusst, nach dem ersten Tropfen Regens selbstverständlich aufzustehen und heimgehen zu können. Ihre große Bestätigung liegt darin, gesellschaftlich und intersubjektiv gerechtfertigt das tun zu können, was sie ohnehin wollen, das ist: keine klassische Musik hören, keine Musik im Freien hören, nicht mit Schönem oder Gehaltvollem konfrontiert werden, das ihren Alltag übersteigt und durch ein Zur-Schau-Stellen dieses durch die Vermittlung nur der Idee des Unterschieds des Seienden und des Sollenden Selbigen als minderwertig und stets höchstens zweckgerichtet anzudeuten.
Es sitzen da zwei Menschen, die ein Paar bilden. Sie hatten sich vorne schon am Eingang zwei hauchdünne Fürstinnen-Regenüberzieher erworben, bevor der Himmel überhaupt ein Anzeichen der Möglichkeit von Regen zu vermitteln im Stande und bei Laune war. Im ersten Tropfen, zu Beginn des dritten Satzes, haben sie die läppischen Regenschutz-Placebi hervorgekramt und zunächst versucht, eine Trennung zwischen oben und unten vorzunehmen. Noch sahen sie aus wie ein schickes, klar: im Gestus leichtens bäuerliches Paar. Ihre Regenkruschler kruschelten sie entgegen des Taktes der Musik, die uns etwas vom Ideellen voridealisierte, nach vorne, hinten, unten, oben. In der zig-ten Umkehrung des Neigungswinkels der Überzieher wurde eine Stellung erkannt, die den Erfolg des endgültigen Überziehens über das Überziehungsobjekt, ja: den Menschen, zu verheißen mochte. Die Frau war indes schneller. Sie wurde früher als der Mann aus rückwärtiger Sicht von der Hauchdünnheit der Regenschutzsache gnomhaft gen Boden idealisiert und verlor in gewissen Maßen ihre Menschlichkeit als Projektionspunkt von Hass und Zorn ob der Erkenntnis der allgemeinen Nichtigkeit der Existenz in der Hilflosigkeit der Protagonisten im Besonderen. Der Mann hatte es da schwerer, noch. Insbesondere bereitete es größte Anstrengungen, die Öffnung zwischen beiden Seiten der Hauchdünnität des angeblichen Regenmantels herauszufieseln. Als er noch kaum-sitzend unter die zweite Haut des Fürstinnenproduktes schlüpfte und seine Rückschau hierdurch verrutschte, regnete es nicht. Einige saßen bereits auf der ganz rechten Seite der Tribüne, wohl in der freudigen Erwartung, entweder bei Wiedereinsetzung des Regens oder überhaupt Regen endlich gehen zu können oder klatschen und gleich währenddessen gehen zu können, was ihnen zusätzlich eine Ahnung einer Multibegabung vermittelt hätte. In der Reihe vor uns saß eine Frau neben einer anderen Frau des gleichen fortgeschrittenen, dennoch noch vernünftig lebensfähigen Alters. Beide hatten schon im Fallen des allerersten Regentropfens ihre Outdoor-Multitaschenjacken angehetzt und sie hatten sie angehetzt gehabt, bevor besagter Fallender gefallen ist. Es knisterte und kruschelte und beides tat es nach. Die eine oder die andere fasste nachher im Verlauf des Konzerts alle halbe Minute lang irgendwo hin. Es war abwechselnd ihre Frisur, die im strengen Sinne keine war, ihr Schritt, ihre Jacke, insbesondere ihre Tasche. Sie rutsche subtil herum, schnäuzte sich ohne rotzinduzierte Notwendigkeit, warf sich ein Salbeibonbon nach dem anderen ein. Vorne versuchte sich der Dirigent an einer Idee, falls er das auch so sah. Das Orchester war mittel, klar, die demokratisch organisierten Chöre ebenso, aber bitte, diese Leute sollen sich doch wenigstens versuchsweise in irgendetwas hineinversetzen. Ich blickte nach links zu Christina und sie lächelte lieb und war schön, wie immer; sie wäre es auch gewesen, wenn Dargebotenes im Rahmen einer Jahrtausendvorstellung dargeboten worden wäre mit nur Nobelpreisträgern im Publikum. Die Schönheit vorne nahm ihren Lauf im Versuch, sie zu sein oder zu zeigen, was keiner bemerkte. Der dritte Satz ging in Richtung seines Endes. Da es aufgehört hatte zu regnen, war das Regenabwehrprodukt des Mannes mit der Frau von Selbigem nach hinten verrückt worden, knisternderweise, sodass er nur noch kaum vom Schutze umgarnt war. Ich blickte auf das Licht vorne links, das eine abgeschwächte, ferne Projektion der Originalität des lilafarbenen Schlossbeleuchtungslichtes über den Köpfen der Musikfans darstellte. In ihm gaben sich personalisierte Regentropfen hin, die in ob ihrer Wenigkeit kaum zählbarer Anzahl auf die Häupter direkt oder die synthetischen Knautschfasern der kaufenden Hörerschaft herniederglitten und ihnen eine Zärtlichkeit zuteil werden ließen, die diese eben gar noch durch die Herumrutschung billigen Mistes abzuwehren suchten. Ich glaubte, die Berührung der Tropfen genießen zu können. In den letzten Takten des dritten Satzes zuzzelte der Mann schneidbar beschämt die Oberheit seiner Regenjacke über seine bereits schon zertatschte Ansatzfrisur. Seine ebenso ausstaffierte und gnomhaft zutraulich wirkende Frau schmiegte sich, eine kaum merkliche Distanz wahrend, an seine Schulter, wobei es hörbar und die letzten Hauche des dritten Satzes überhörbar polyesterte. Das ist die beschissene Postmoderne, die es nicht gibt. Die Leute klatschten wie schon zum Ende der bisher dagewesenen Sätze, wohl in der Erwartung, endlich aufgrund des Regens oder, was eine noch überzeugendere Rechtfertigung wäre, nach Abbruch oder gleichbedeutend Ende des Konzertes nach Hause rennen zu können, um in Genuss des Fun-Freitages auf einem Fernsehsender oder eines anderen Programmes auf einem anderen Sender zu kommen. Einige warteten wahrscheinlich noch auf „Die Neunte“, die muss man ja kennen. Die Bühne befand sich exakt in der Mitte des Fürstenschlosses, das mich ein wenig an den schwach genutzten Regentenbau erinnerte. Klare und weiche Lichter beleuchteten den zahlreichen Chor, dessen Mitgliedern nun schon seit mehreren Wechseln der Gezeiten die blauen Gesangsbücher beschwerend auf den Schößen lagen. Nun also würden sie bald aufstehen können. Der koreanische Tenor leitet seine Individualitätsberechtigung höchstens aus dem Tenor-Sein ab, das ist es wohl. Die Regenpartikel wurden mehr und ich fühlte mich wohl im zärtlichen Aufschlagen der Tropfen auf meinem Kopf und Anzug, während die Musiker sich im strengen Licht nervös zurechtrückten. Der vierte Satz wurde solide dargereicht, was gleichsam zu wenig ist und genau richtig. Es ging um große, pathetische Freude, es regnete und hörte indes auf zu regnen. Im Choral, zeitlich verstanden, wurden knisternde Gebrauchsgegenstände en masse hin- und hergeschoben. Diese unangenehme Person stopfte ein Bonbon nach dem anderen in sich hinein, bevor und nachdem sie die Position ihres Rucksackes im Raum veränderte. Mich hat das schon insofern schier zum Wahnsinn getrieben, als meine Identität, sofern ich Relationen zu anderen Dingen als für diese konstitutiv betrachtete, sich aufgrund des Nicht-Still-Sitzenkönnens dieser Person stetig für mich einsichtbar veränderte. Der Rucksack war oben und unten und ich hätte sie am liebsten umgebracht, als sie das andante maestoso überschnäuzte. Auf einmal begriff ich, worin die Freude eigentlich liegt. Es ist die Freude auf die Gleichheit im Tode, die Gewissheit des Vergehens aller, so auch dieser Leute, die dort vorne saßen. Einmal noch kurz meinte ich, ein Prasseln im Lichtschein über den Köpfen zu vernehmen, doch keiner wurde mehr richtig nass. Der letzte Takt fiel und noch im Klatschen gingen, nein rannten, viele dem Ausgang entgegen, in die heimische Stube, zu dem, was immer und als Einziges ist. Der Dirigent und maßgebliche Spieler bedankten sich artig auf die herkömmliche Weise. Als Jacken und weitere Beruhigungsdinge zurück in die Wanderrucksäcke gepackt wurden, hatte es im Grunde gar nicht geregnet. Die Leute seien aus Zucker, hörte ich sagen. Man könnte indes meinen, die Leute freuen sich auf den Tod, dachte ich mir aufstehend, als ich den oberen Knopf meines Anzuges schloss und in den Abglanz des Lichtes blickte, unter dem keine Häupter mehr waren und in dem sich keine Regentropfen mehr materialisierten.

 

hallo hubi!
ich hab deinen text erst nur ansatzweise gelesen, dann noch ein paar sätze, später dann den rest. einfach weil es sich dabei um eine literarische nougat-torte handelt, die ich nur häppchenweise verdauen konnte. erstmal ein kompliment an deine beobachtungsgabe (wenn auch teilweise etwas paranoid, was ja durchaus amüsant ist). ein fest für jeden zyniker. aber damit komme ich auch schon zum ersten negativen kritikpunkt: es ist mMn einfach zu viel von allem. es liest sich ganz und gar nicht flüssig, teilweise sogar recht abgehackt und zusammengestückelt. ich kenne das nur zu gut, wenn die finger nur so über die tasten fliegen und alles aus einem herausprudelt, ABER: gerade bei solchen texte, ist ein erneutes lesen (v.a. nach einer gewisse ruhezeit) von nöten, so ist es zumindest meine erfahrung, um sprachliche ecken zu schleifen und einige doch nicht so glorreiche formulierungen ganz rauszuschmeißen.

PS: liest du gerade was von david foster wallace? der geht nämlich in eine ähnliche richtung, kann sein jüngst übersetztes "unendlicher spass" nur empfehlen!

 

Dank dir für deine Kritik.

Ich habe mir in der Tat kürzlich besagtes Buch besorgt, es aber noch nicht gelesen. Mein Text ist aber schon ein wenig älter.

 

Hallo & - nach vier Beiträgen kann man das sicherlich noch - herzlich willkommen hierselbst, obwohl's nach über sechs Jahren schon "irgendwie" seltsam wirkt,

lieber hubi.

Zu Anfang dieser Karriere hastu über eine besondere Liebe geschrieben ("relativ du", will ich gleich drauf eingehen) und jetzt etwas ähnliches, wobei Du hier irrdische Beobachtungen verarbeitest und das in einem sehr eigentümlichen Stil, der mich weniger an Wallace (den Richy Flussfrau empfiehlt, wie er derzeit von allen Rezensenten gelobt wird, wobei ich mich überraschen lass, wer den Wälzer "vollständig" lesen wird) als - wenn auch nur sehr unbestimmt - an Thomas Bernhard erinnert. Da weiß ich auch nicht, ob ich heulen oder lachen soll, heißt's eher "Spaß komm vor", statt Ernst komm vor!"?. Aber insgesamt ist's mir eine eher komische (keineswegs im Sinne von seltsam, sondern genau das, was da steht) Schilderung. >Keine Ahnung, erst werde ich ganz traurig<, dann wieder ausgelassen. Selbst schwerfällig daherkommende Konstrukte wie's >stellvertreterhaft< (statt: stellvertretend), >... nach dem ersten Tropfen Regens ...< sitzen da zwo Menschen, >die ein Paar bilden< etc., das selbst die Kleinkrämerseele in mir sich sträubt, eine Konstruktion zu bemängeln. Gleichwohl geb ich ihr als Nichtlateiner Placebos, wenn auch keine >Regenschutz-Placebi<.

Als nächstes will ich dann mal ausprobieren, ob ich der "Ode an die Freude" überhaupt bei einem solchen Text (und Zappelinchen) folgen kann.

Gruß

Friedel

 

Danke dir, lieber Friedel, für deinen Beitrag, wenngleich ich, ehrlich gesagt, ihn nicht verstehe, insbesondere nicht, ob es sich um positive oder negative Resonanz handelt. Unter gewissem Restvorbehalt muss ich schon sagen, dass die Worte und Formulierungen wohl gewählt sind, also auch die sperrigen bzw. "grammatikalisch ungewöhnlichen". Ob's albern oder störend ist bzw. gefällt, ist natürlich eine Sache des Lesers.

 

(@friedrichard: ich habe das ding schon durch und muss sagen, dass es (trotz!) seines hypes ein gutes buch ist, das stetig schwankt zwischen absoult scharfsinnigem hurmor und (ja, auch!) anstrengenden abschnitten, die in der gesamtheit ihrer atmosphäre jedoch ihresgleichen suchen.)

 

Hallo hubi,

sieh meine Reaktion positiv. Hätt' ich sonst zu Deinem Erstling gegriffen? Dass die Konstrukte >wohl gewählt sind< war & ist mir klar und ich neig selbst zu eher gewöhnungsbedürftigen Konstruktionen (natürlich nicht, wenn ich Steuern (v)erklär). Kurz: Ich bin gespannt auf Deinen Nachfolger ...


>(@friedrichard: ich habe das ding schon durch<, was mich freut,

Richy Flussfrau.

Nachdem ich jetzt nur noch ein paar hundert (tausend?) Briefe von und an Keller zu lesen hab, dann mit meinen bescheid'nen Fähigkeiten den gesamten K. besprechen werd - ich hör schon ein Aufstöhnen auf kg.de und ahne schon Kopfschütteln -, hernach werd ich wohl auch mal reinschaun.

Gruß euch beiden & schönes Wochenend wünscht der

Friedel

 

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