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Hybris
Der Aufsichtsratsvorsitzende hatte Jürgen zum Gespräch gebeten und ihn gefragt: „Sind Sie bereit, Verantwortung zu übernehmen?“ Er sah im direkt und fest in die Augen, als wolle er die Antwort in seinen Gedanken lesen.
Endlich war Jürgen da angekommen, wo er hinwollte. Er hatte sein Ziel erreicht. Jahrelange harte Arbeit, Überstunden bis tief in die Nacht. Reden, netzwerken, präsentieren, Empörung demonstrieren (zur rechten Stelle und passenden Zeit). Compassion, Commitment. Mit den Wölfen heulen, aber selbst immer Wolf bleiben. Er hatte alle Register gezogen.
Der alte Geschäftsführer war längst überfällig. Hatte sich vom Kerngeschäft zu weit entfernt, wollte dem Unternehmen menschlichere Züge geben. Schwachkopf. Schnell musst du sein und hart. Zupacken im richtigen Moment und dann durchziehen bis zum Erfolg. Unbedingter Erfolg war alles, worum es geht. Love it or leave it, Baby. Die Welt gehört denen, die sich sie nehmen. Wer zu spät kommt, den fressen die Haie. Ja, Business ist wie ein Ozean: voller Räuber, die auf ihre Gelegenheit lauern. Ponyhof kannst du zuhause machen, hier ist wilder Westen.
Was für ein Triumph. Bildlich konnte er sich die neidischen Blicke und das Getuschel seiner Kollegen vorstellen. Was hatten sie denn gedacht? Dass jemand wie er ewig im Marketing bleiben würde? Hätte der Vorsitzende ihn jetzt nicht gefragt, wäre er bald gegangen. Draußen würden sie sich die Finger nach ihm lecken.
Er würde jetzt erst mal alles neu aufstellen. Ein paar Köpfe würden rollen müssen, keine Frage. Die Fette aus der Akquise sicherlich. Nicht auf der Höhe. Hatte sie nicht auch zwei Kinder? Prima, die werden sich freuen, wenn Mama wieder mehr Zeit hat. Und natürlich die Konkurrenten. Peter, das Großmaul. Immer dem Alten nach dem Maul reden und dann „Wir haben entschieden, wir haben erkannt, wir haben beschlossen“ Idiot! Dieter, der immer gute Arbeit gemacht hat, aber sein Herz auf der Zunge trug. Hatte sich beschwert, weil seine Verbesserungsvorschläge nicht angegangen werden. Unprofessioneller Wichser. Maul halten und einstecken, so macht man das. Wie beim Boxen. Wer jammert, verliert.
Na, die werden alle viel Freizeit haben in den kommenden Monaten. Die Sekretärin vom Ex würde er vielleicht behalten … Jürgen schweifte kurz mit den Gedanken ab und grinste.
Überhaupt, was war das für eine Scheiße, die da gelaufen ist in den letzten Monaten. Das Geschwafel von Transparenz, Beteiligung, Customer Relations. Die Kunden sollen kaufen, nicht mit entscheiden. Natürlich nimmt man das in’s wording auf. Customer Feedback, logisch. Umfragen, ok. Crowd Sourcing? Klingt nach einer fantastischen Chance, Kosten zu reduzieren. Aber das kann man doch nicht ernst nehmen. Apple hat ja nicht Milliarden gemacht, weil es den Leuten gegeben hat was sie wollten, sondern das, was sie brauchten. Ein riesiger Unterschied! Männer wie er waren es, die gesellschaftlichen Fortschritt garantierten. Große Männer mit kühnen Träumen. Willens und in der Lage, Großes zu vollbringen. Das hatte er natürlich nicht angesprochen. Kritik gilt als Illoyalität und bist du illoyal, killt dich das Rudel.
Natürlich mussten jetzt ein paar Sachen neu angeschafft und überlegt werden. Der schwarze Zweireiher musste durch dunkelblau ersetzt werden. Die Farbe der Macht. Und der Audi war jetzt auch nicht mehr standesgemäß. Vielleicht ein 7er? Oder doch S-Klasse?
„Ich freue mich, dass wir uns einig werden“, fuhr der Aufsichtsratsvorsitzende fort. „Unsere Firmenphilosophie passt einfach nicht zu Ihrem Ansatz. Ich bin mir sicher, jemand wie Sie findet eine andere Stelle. Wollen Sie selbst kündigen, oder sollen wir das übernehmen?“