Mitglied
- Beitritt
- 26.01.2002
- Beiträge
- 6
Hunger
Sarah kommt in die Küche und kräht „Ich hab Hunger, Mama !!“ Die Mutter schneidet eine Scheibe Brot ab, bestreicht sie mit Butter und Marmelade und drückt es Sarah in die Hand.
Sie rollt sich mit dem Brot in der Küchenecke zusammen wie ein Kätzchen, sieht aus dem Fenster, beobachtet das Schaukeln der Äste im Wind, beobachtet die bunten Blätter, die fröhlich vom Baum flattern. Sie isst ihr Brot langsam, sehr langsam, sie ist erst fünf, aber sie weiß, je länger sie zum Essen braucht umso länger kann sie in der Nähe ihrer Mutter bleiben.
Diese sitzt am Tisch und näht Knöpfe an, wirft hin und wieder einen abwesenden Blick auf das Kind, das beinahe unerträglich langsam an ihrem Brot knabbert. Endlich ist sie fertig, sitzt immer noch da, hat mittlerweile ihren Blick sie gerichtet, auf die bunten Knöpfe, die vor ihr am Tisch liegen, auf ihre Hand, die die Nadel hält.
„Geh spielen, Sarah“, sagt die Mutter. „Bald gibt’s Abendessen, ich ruf Dich dann.“
„Was soll ich denn spielen?“, fragt Sarah, mit einem trotzigen Ausdruck in den Augen. Sie möchte nicht spielen, sie möchte hier sitzen bleiben, bei ihrer Mutter, ihr zusehen, wie sie geduldig die Nadel durch die Löcher in den Knöpfen führt. Das sieht lustig aus und Sarah wundert sich, wie ihre Mutter es schafft, immer wieder mit der Nadel genau das Loch zu treffen. „Darf ich das auch mal probieren ?“ , fragt sie zaghaft.
„Wenn Du älter bist, jetzt bist Du noch zu klein, Du könntest Dir weh tun“, antwortet ihre Mutter. „So, jetzt geh aber in Dein Zimmer und spiel was oder mal ein Bild oder schau Dir ein Buch an.“
Sarah steht auf, wirft noch einen Blick auf ihre Mutter, geht langsam zur Tür, öffnet sie leise, geht hinaus und lässt die Tür krachen, steigt die Treppe hoch zu ihrem Zimmer.
Dort legt sie sich auf ihr Bett, sieht sich um. Unzählig viele Stofftiere, Regale vollgefüllt mit Spielsachen wie Lego, Barbiepuppen, Malstiften, Malblöcken, alles was ein Kinderherz begehrt. Ihre Augen wandern von einem Winkel des Zimmers zum anderen und wieder zurück. Schließlich steht sie wieder auf, marschiert wieder die Treppe hinunter, zurück in die Küche. „Ich hab Durst“, sagt sie und die Mutter steht auf und gibt ihr ein Glas Orangensaft.
Sarah setzt sich wieder an die Stelle, wo sie eben zuvor noch gesessen hatte und starrt auf die vielen bunten Knöpfe.
„Nimm den Saft doch mit auf Dein Zimmer“, hört sie die Stimme ihrer Mutter wie aus weiter Ferne und hebt den Blick, sieht ihrer Mutter direkt in die Augen, erkennt, dass es sinnlos ist, zu wiedersprechen, nimmt ihr Glas und schleicht in ihr Zimmer.
Sie wirft das Glas gegen die Wand, drückt die geballten Fäuste auf ihre Augen, geht zum Spiegel, dem man immer so herrliche Grimassen schneiden kann. Stellt sich davor und betrachtet ihr Gesicht. Lange, sehr lange. Die andere Person im Spiegel verschwimmt vor ihren Augen und wird zu jemand anderem, ihrer Zwillingsschwester ? Ja, ab jetzt hat sie eine Zwillingsschwester, eine Gefährtin, die immer bei ihr sein wird, wann immer sie in den Spiegel blickt. Sie wird immer da sein, sie trösten und sie beschützen, sie niemals verlassen.
Plötzlich sieht Sarah Tränen in den Augen des anderen Mädchens im Spiegel. „Warum weinst Du ?“, fragt sie flüsternd. „Ich weiß nicht“, flüstert das andere Mädchen zurück. „Warte, ich weiß was !“, ruft Sarah, geht zu dem kleinen Kindertischchen am Fenster, öffnet eine Schublade und kramt eine winzig kleine Schere hervor. Mit dieser Schere hat sie bisher immer die Haare ihrer Puppen abgeschnitten, doch das müsste doch auch bei den eigenen Haaren genauso funktionieren. Sie stellt sich wieder vor den Spiegel, nimmt eine dicke Haarsträhne in die Hand, sieht zu, wie die Schere zuschnappt und ein großes Büschel Haare auf dem blauen Teppich landet. Noch eine Strähne und noch eine. Endlich ist sie zufrieden, dreht sich stolz vor dem Spiegel, wirft dem anderen Mädchen ein scheues Lächeln zu und steigt wieder die Treppe hinab zur Mutter in die Küche. „Sieh mal , Mama, das hab ich ganz allein geschafft !“, ruft sie stolz beim Betreten der Küche. Die Mutter hebt den Blick, erst nur kurz, senkt ihn wieder, hebt ihn wieder, blickt direkt in das Gesicht des Kindes, dann auf dessen Haar, das auf einer Seite in ungleichen Strähnen herabbaumelt. Ihr Gesicht verzerrt sich und sie stößt einen Seufzer aus. „Bist Du denn nun von allen guten Geistern verlassen ?“ fragt sie mit schriller Stimme und das Kind zuckt zusammen. Was habe ich denn nun falsch gemacht, denkt Sarah, ihre Augen füllen sich mit Tränen.
Die Mutter steht auf, holt die große Schere aus der Schublade, die, mit welcher sie sonst immer die dicken Kartons zerschneidet, damit sie besser in den Abfalleimer passen.
„Jetzt müssen wir die anderen Haare auch abschneiden, so kannst Du doch nicht durch die Gegend laufen, wie das aussieht ! Setz Dich auf den Stuhl hier und halt still“!
Sarah klettert auf den Stuhl, schließt die Augen und fühlt die Hände ihrer Mutter, wie sie ihren Kopf, ihr Haar berühren, hört das Schnippen der Schere, wenn sie den Atem anhält, kann sie sogar hören, wie die Haare auf den glatten Küchenboden fallen. Es ist nur ganz leise, aber man kann es hören. Die Mutter nimmt eine Haarsträhne nach der anderen und ein Haarbüschel nach dem anderen flattert zu Boden. Doch nach einer Weile denkt Sarah nicht mehr an die Haare. Sie fühlt nur noch die Hände ihrer Mutter in ihrem Haar und wünscht sich, sie könnte für immer hier so hier sitzen bleiben, wünscht sich, dass die Mutter noch recht viele Haare wegschneiden wird, damit sie deren Hände länger fühlen kann.
Doch viel zu schnell hört das Schnippen der Schere auf, die Mutter wendet sich ab, legt die Schere zurück in die Schublade, holt einen Besen und fegt die Haarbüschel zu einem Häufchen zusammen. „Ich hab Hunger, Mama“, sagt Sarah und sieht ihre Mutter bittend an.
„Du hattest doch grad ein Brot und in einer Stunde gibt’s ohnehin Abendessen. Du kannst doch nicht so viel essen, Kind, davon wird man dick !“, so die Antwort ihrer Mutter. „Ist eine Stunde lang ?“, fragt Sarah, „mein Bauch tut weh, ich will jetzt was essen !!“
Die Mutter hat keine Lust auf lange Erklärungen über die Dauer einer Stunde oder einer Minute oder dass man von zu vielem Essen dick wird. Sie schneidet noch eine Scheibe Brot ab, bestreicht sie wieder mit Butter und Marmelade und drückt es dem Kind wortlos in die Hand. „Dass Du mir nicht noch mal auf so dumme Gedanken kommst“, sagt sie und „Nimm Dein Brot und geh zurück auf Dein Zimmer, ich ruf Dich dann, wenn das Abendessen fertig ist.“
Sarah blickt auf das Brot in ihrer Hand, dann auf ihre Mutter, dann wieder auf das Brot, blickt unschlüssig zur Tür, dann wieder zurück zur Mutter und wieder auf ihr Brot. Schließlich legt sie es auf den Tisch. „Hab keinen Hunger mehr“, murmelt sie, dreht sich um, verlässt die Küche mit einem ohrenbetäubenden Türenknall. Auf der Treppe hört sie noch die wütende Stimme ihrer Mutter, die ihr nachruft: „Das nächste Mal überlegst Du Dir vorher ob Du Hunger hast oder nicht !!“
Zurück in ihrem Zimmer legt sie sich wieder auf ihr Bett, starrt an die Decke. denkt nach, ob sie Hunger hatte oder nicht, fühlt einen Schmerz, weiß aber nicht, was ihr weh tut.
Sie weiß nicht, wie lange sie so dagelegen ist, als sie die Stimme ihrer Mutter von unten rufen hört: „Sarah, das Abendessen ist fertig !!“
Sie läuft hinunter, in freudiger Erwartung, was es wohl heute gutes geben wird, setzt sich artig an den Tisch. Auf ihrem Platz steht bereits ihr Glas Orangensaft, das sie jeden Abend bekommt. Dann stellt die Mutter einen Teller vor sie hin, auf dem irgendeine grüne Soße mit Erbsen darauf herumschwimmt und ein paar Kartoffeln. „Was ist das ?“, fragt sie. „Kochsalat“, erfährt sie von der Mutter und weiß immer noch nicht, was das Zeug auf ihrem Teller ist. Sie pickt eine Erbse heraus, die kann sie essen, die hat sie schon öfter gesehen, auch die Kartoffeln kennt sie, aber dieses grüne Zeug dazwischen drin wird sie mit Sicherheit nicht anrühren. Sie beginnt die Erbsen auf eine Seite des Tellers zu räumen, wo keine grüne Grütze schwimmt, versucht, die Kartoffeln davor in Sicherheit zu bringen. Spießt eine Erbse auf und schiebt sie in den Mund. Ein tadelnder Blick ihrer Mutter trifft sie. „Kannst Du nicht normal essen wie jeder andere auch ?“ Was ist normal ? Denkt sich Sarah und blickt auf den Teller ihrer Mutter, sieht zu, wie diese Bissen um Bissen in den Mund schiebt, kaut, schluckt, nächster Bissen, kaut, schluckt und so weiter. „Iß jetzt endlich bevor es kalt wird“, ertönt wieder die Stimme ihrer Mutter. Sarah rutscht unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Irgendwas tut ihr weh, aber sie weiß nicht was. Hunger hat sie auch keinen mehr, aber sie wird nicht aufstehen dürfen, solange der Teller nicht leer ist. „Ich hab keinen Hunger mehr“, versucht sie zaghaft. „Selber schuld, wer wollte denn am Nachmittag unbedingt was zu essen ?“, bekommt sie als Antwort. „Ich hab Bauchweh“, versucht sie es noch mal, obwohl sie sich gar nicht so sicher ist, ob das wirklich ihr Bauch ist, der ihr weh tut. Prüfender Blick der Mutter in ihr Gesicht, prüfender Blick auf ihren Teller. „Dann lass es halt bleiben, aber komm bloß nicht auf die Idee, dass Du später noch was anderes kriegst.“
Sarahs Augen füllen sich mit Tränen, ein Schluchzen kommt ganz von allein. Die Mutter wird ärgerlich. „Jetzt stell Dich nicht so an, Du bist ja kein Baby mehr, Du bist schon ein großes Mädchen, da weint man doch nicht ohne Grund. Ich hab ja gesagt, lass es stehen“
Sarah schluchzt noch mehr. Der volle Teller steht immer noch vor ihr, sie hat Hunger, aber irgendetwas in ihr sagt ihr, dass es kein Hunger ist, den man mit dem Essen am Teller stillen kann. Sie weiß nicht, was für eine Art von Hunger es ist, sie will auch nicht zu ihrer Mutter sagen, dass sie Hunger hat, denn sie will ja nichts mehr essen. Also wirft sie einen letzten Blick auf ihre Mutter, die gerade das Geschirr spült und keine Notiz mehr von ihr nimmt, steht auf und verlässt die Küche.
Drei Stunden später: Sarah kann nicht schlafen. Sie wälzt sich in ihrem Bett herum, ihr Magen knurrt, ihr ist schlecht, aber sie darf ja keinen Hunger mehr haben, ihre Mama hat doch gesagt, dass sie nichts anderes mehr kriegen wird. Also versuchen einzuschlafen, am nächsten Morgen ist es sicher wieder vorbei. „Ich darf keinen Hunger haben, ich darf keinen Hunger haben !“, sind die letzten Worte, die sie denkt, bevor sie endgültig einschläft.
Sarah ist fünf. Sie hat gelernt, dass es besser ist, nicht zu sagen, wenn man hungrig ist, sie kann nicht unterscheiden zwischen dem Hunger nach Essen und dem anderen Hunger, der immer und immer öfter da ist. Sie weiß nicht, dass man auch Hunger nach anderen Dingen haben kann, sie kann es nicht wissen, jetzt noch nicht. Und so beschließt sie, ihren Hunger nie mehr zu erwähnen. Schließlich möchte sie ein braves Mädchen sein, sie möchte, dass ihre Mama zufrieden ist mit ihr. Hunger oder Tränen sind Dinge, die ihre Mama ärgerlich machen aber sie soll sie doch mögen, soll stolz auf sie sein, soll sie beachten.
Nachwort:
Wie schnell und unsanft kann eine unschuldige Seele verstümmelt werden....