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Hunger nach Leben

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10.12.2001
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Hunger nach Leben

Er fragte mich, warum ich hier in diesem kalten, schwarzen Loch wohnte, in dieser zerfallenen Ruine, wo die leuchtenden Augen der Ratten einem aus jeder dunklen Spalte beobachteten, warum ich nicht wie jeder normale Mensch in einer schönen Wohnung lebte, warm, gemütlich, hell, sondern statt dessen hier, fernab jeden Sonnenstrahls, in dieser feuchten Kühle, die jedes Kleidungsstück durchdrang, jede Sekunde meines Daseins quälte. Er fragte und fragte, doch ich antwortete nicht, schaute nur in sein Gesicht mit seinen weichen, wohlgenährten Zügen, rasiert und gepflegt, in seine verständnislosen Augen, geblendet von all der Schönheit und Pracht seines glücklichen Lebens. Er fragte, warum ich mich hier vor dem Licht verkroch und kein normales Leben führte, warum ich nicht durch sonnige Parks spazierte, das Leben genoß, warum ich mir keine anständige Arbeit suchen, mir ein kleines Heim kaufen und eine nette Frau heiraten würde, ich sei doch so intelligent und gebildet, nicht wie diese saufenden Penner, die überall herumlungerten und um Geld bettelten. Was sollte ich ihm nur antworten? Wie konnte er es verstehen, er - in seinem bequemen, eleganten Anzug und den polierten Schuhen, mit seinen weichen, vom Wohlstand geprägten Händen? Wie sollte er sie begreifen, diese unfaßbaren Schmerzen, diese unsagbare Trauer, den schwarzen Schleier, der meinen Verstand umwebte, jeden Gedanken verdunkelte? Wie sollte ich es ihm erklären?
Es waren nur wenige gewesen, die in all den Jahren hierhergekommen waren, und sie alle hatten mir diese Fragen gestellt, mich aus diesen verständnislosen Augen angeglotzt, und nicht einem von ihnen hatte ich es verstanden, eine einleuchtende Antwort zu geben, und sie alle waren schnell gestorben.
Sein Blick war irritiert, überrascht und erschrocken zugleich, als er die kalte, metallene Klinge in seinen Eingeweiden spürte. Er faßte an seine Brust, musterte erstaunt das warme Blut, das an seinen Händen klebte, starrte mich an, öffnete den Mund, doch statt Worten spuckte er nur dunkelroten Schleim. Einen kurzen Moment sah ich in den Tiefen seiner Pupillen den Schock der Erkenntnis aufglimmen, dieses einmalige, klare, endgültige Erkennen, das Begreifen der gewaltigen Dummheit, die in all dem oberflächlichen Glück lag, der Illusion seiner heilen, schönen Welt, der Sinnlosigkeit jedes Momentes von seiner Geburt bis jetzt. Einen Bruchteil einer Sekunde verstand er. Dann stürzte sein lebloser Körper zu Boden. Tränen rannen über meine Wangen, und doch blieb mir der Trost, daß wenigsten sein Tod einen Sinn ergab. Ich hatte Hunger.
Es waren schon viele Jahre, in denen ich hier im feuchten Keller dieses ausgebrannten Hauses lebte. Wieviele Jahre genau? – Ich wußte es nicht mehr, zu sehr verschwommen in dieser ständigen Dunkelheit die Grenzen der Zeit. Die Sonne hatte ich schon lange nicht mehr gesehen, auch die Welt dort draußen nur sehr selten. Nur im Winter, wenn die Nächte lang und finster waren, wenn sich der Mond und die Sterne hinter dichtem Dunst und Wolken verbargen, nur dann trieb mich ab und zu der Hunger hinaus in die umgebenden Wälder. Dann schlich ich durch das Unterholz, irrte ziellos umher, doch entfernte mich nie so weit, um nicht vom Tag mit seinem schrecklichen Licht überrascht zu werden.
Manchmal fand ich auf einem abgelegenen Parkplatz ein Auto, in dem sich ein Pärchen seiner Liebe hingab, und wehmütig beobachtete ich dann ihre Küsse, ihre zärtlichen Berührungen, die Lust und das Glück in ihren Gesichtern, wie sich ihre erhitzten Körper leidenschaftlich aneinanderpreßten. Ich hörte ihr erregtes Keuchen, sah ihre geröteten Köpfe, die halb geöffneten Münder, durch die sie die Luft in sich einsogen, den Rausch des Lebens, der Liebe. Und wenn sie dann am Höhepunkt ihres Bemühens ihre Lust hinausschrieen, wenn die Polster der Autositze ihr Blut aufsogen und ihre flehenden Schreie in der Ferne verhallten, dann standen Tränen in meinen Augen, spürte ich Trauer über ihr vergangenes Glück und wußte, daß ich die nächsten fünf Tage nicht hungern mußte, vielleicht länger, wenn es kalt genug war. Etwas Fleisch konnte man auch immer räuchern, wenn die Nächte so schwarz waren, daß sich der Rauch nicht gegen den Himmel abhob.
So verging die Zeit, und ich lebte von Mahlzeit zu Mahlzeit. Trotzdem war es diesmal etwas anderes, diesmal war es mein eigener Bruder, der auf dem Boden zu meinen Füßen lag, der letzte Verwandte, den ich gehabt hatte, das letzte Zeugnis meiner Existenz. Jetzt war ich endgültig aus dem Buch des gesellschaftlichen Lebens gelöscht.
Eine Weile betrachtete ich seinen erkaltenden Leib. Wie still waren Menschen doch, wenn sie erst gestorben waren. Im Leben waren sie nur laute, sich ständig bewegend, stinkende Tiere. Aber in der Erstarrung des Todes schienen sie besinnlich, traurig, fast schön - bewegungslose, majestätische Statuetten für einen kleinen Moment der Ewigkeit.
Ich schloß die Augen und genoß die Stille.
In meinem Geist tauchten die Bilder meiner Erinnerungen auf, längst vergangene Bilder einer glücklichen, naiven Kindheit, wie ich mit meinem Bruder im Wald gespielt hatte; - die Schule, wie wir den Lehrern Streiche gespielt, wie wir gelacht hatten; - vergangen - und dann - die Liebe, ihr schwarzes, langes Haar, ihre Augen - groß, dunkel, tiefgründig, die Traurigkeit hinter ihrer lächelnden Maske, wie sie mich fasziniert, ich sie doch nicht verstanden hatte; - dann - ihr seliges, blasses Gesicht - leblos, die Schachtel Schlaftabletten noch in ihrer rechten Hand, die Wahrheit – so unerträglich, ich – taumelnd, schwindlig – unfaßbar; - und kurze Zeit später - das brennende Elternhaus, die verkohlten Leichen meiner Eltern zwischen abgebrannten Mauern, und ich hatte überlebt, so sehr ich den Tod ersehnt hatte, schließlich hatte ich doch nicht den Mut aufgebracht, meinen von Trauer vergifteten Leib den Flammen zu überantworten...
Ich spürte ein feuchtes Glühen in meinen Augen, brodelnder Schmerz riß in meiner Brust. Wie sehr quälten mich diese Erinnerungen. Ich schob sie beiseite und ging hinaus in die Nacht. Mein Hunger war noch nicht gestillt...

 

schöne geschichte. der stil ist eigentlich kaum bemängelnd, aber am Ende das mehrfache Auftauchen des Striches ("-") hat mich etwas irritiert. Ansonsten gibt es nicht viel schlechtes zu der Geschichte zu sagen, aber ich finde, sie passt besser in die Spalte "Seltsam".

Grüße,
Ernest "Ernesto" P. Teclar

 

Hi Ernest,

danke erstmal für Deine Kritik.

Was die Zeichensetzung gegen Ende angeht, gebe ich Dir eigentlich recht. Ich überlege schon seit Ewigkeiten, wie ich sie verbessern kann. Ansonsten will ich allerdings hoffen, daß sie dem Verständnis keinen Abbruch getan hat.

Was nun die Einordnung in eine Spalte angeht, tue ich mich wohl ein wenig schwer, ich weiß immer absolut nicht, welcher Kategorie ich mein Geschriebenes zuordnen soll.

Na gut, was soll's. Nochmals vielen Dank für Dein Statement.

Ciao

 

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