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Hundstage, Katzennächte
In jenem Sommer, in dem die Kinder aus der Stadt verschwanden wie zwanzig Jahre zuvor Dauerwellen und Plattenspieler, arbeitete Sand als Techniker für die meist gehörte Radio-Nacht-Show des Landes.
Sand streckte in seinem Chefsessel die Beine weit unter das Mischpult, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lümmelte sich im Leder. Durchs Fenster hauchte kühler Wind in sein Kabuff und über die Kopfhörer summte etwas Italienisches. Laura, Sands Ex-Freundin und Neu-Chefin, hatte eine Vorliebe für alles Italienische. Und obwohl Sand sich Nacht um Nacht darum bemühte, sie so wenig wie möglich zur Kenntnis zu nehmen, hatte sie auch heute wieder das volle Programm aufgelegt. Kreisrunde Ohrringe, die ihren Hals betonten. Eine makellos rassige Haarmähne, um die sie der alte Samson beneidet hätte, ihr Sportlehrer von früher. Ein Lächeln, für das er einst gestorben wäre und das ihn nun, da ihn einzig eine Glasscheibe von ihr trennte, lockte wie eine Stoffmaus die Katze.
Zwischen Zucchero dann die Stimme im Ohr: „Gehen wir noch etwas essen? Eine Pizza. Frutti di Mare, die magst du doch so.“ Ein Satz, ganz vertraulich vorgebracht, als hätte man die letzten zehn, zwanzig Jahre nichts anderes getan, als Studio, Bett und Pizza zu teilen.
„Nein“, sagte Sand übers Headset.
„Kommst du zu dem Treffen morgen?“
„Nein“, sagte Sand.
„Du warst doch jedes Jahr da.“
„Hab was vor.“
„Ich hab gehört, sogar der Doktor ist jetzt Vater geworden.“
Sand klopfte mit dem Fingerknöchel gegen die Scheibe, zog einen Regler runter, einen anderen hoch, spielte den Jingle ein und schaltete den ersten Anrufer der Nacht dazu.
Und wie in den letzten Hundstagen kannte jeder, der in der Nacht anrief, nur ein Thema:
„Kobolde, das sind Kobolde!“
„Die Erstgeborenen sind in Gefahr! Gott schickt seinen Engel! Seht ihr es nicht?“
„2012, sagen die Mayas, aber da ist eine Änderung eingetreten durch den julianischen Kalender, wie ihnen jeder Professor mitteilen kann, weil man nicht mehr den Intercalarius dazwischen geschaltet hat. 2009 ist das Jahr!“
„Unsere Nachbarin, ich will ja nichts Böses sagen, aber sie kauft seit Jahren Kinderwagen, Alete und Pampers, dabei hat sie kein Kind, nie eins gehabt, also ich will niemandem was unterstellen, aber das ist doch sehr seltsam, oder.“
„Zigeuner! Der Zirkus ist in der Stadt. Mag ja sein, dass man damals ein bisschen zu weit gegangen ist, aber es zeigt doch nur, dass uns mal wieder eine starke Hand fehlt, wenn es jetzt schon wieder so weit gekommen ist.“
Beim letzten Anrufer zog Sand den Regler rasch herunter und spielte Musik ein, während er Laura vertraulich flüstern hörte: „Der Zirkus ist in der Stadt, das wäre doch was für uns. Also du holst mich morgen um vier ab, dann gehen wir zu dem Treffen, dann in den Zirkus und hierher ins Studio. Deal?“
Sand vergrub seinen Kopf in der Hand: „Vorschlag: Wir gehen getrennt zu dem Treffen, nicht in den Zirkus und wenn du morgen zur Arbeit kommst: Keine Ohrringe, keine Flüsterstimme, keine Amanda Marshall-Mähne.“
„Meine Haare?“, fragte sie, und räkelte sich mit leichtem Lächeln hinter ihrer Scheibe. „Früher mochtest du aber andere Dinge an mir.“
„Wir werden alle nicht jünger“, sagte Sand. „Deal?“
„Deal“, sagte Laura und funkelte ihn durch die Scheibe an mit diesem Lächeln, das Sand den Schlaf raubte.
Als Sand am späten Vormittag aufwachte, war das weiße Laken durchgeschwitzt, und der Geruch von verbrannten Mücken und Fliegen lag in der Luft seines Apartments. Er strich sich über den schweißnassen Hals und betrachtete grimmig den Mückentod. Wenn er eins hasste, waren das Mücken.
Sand schlurfte ins Bad, warf drei Hände kalten Wassers in sein Gesicht, fuhr sich über trockene Haut mit Stoppeln und entschied, das Rasieren auf später zu verlegen, riss dann sämtliche Fenster der Wohnung auf, zog sich Boxershorts und T-Shirt an, öffnete die Tür und streckte nur den Arm hinaus, um nach der Tageszeitung zu angeln.
Auch die kannte kein anderes Thema als die verschwundenen Kinder. Bürgermeisterin: Ratlos. Polizei: Auf Ihre Mitarbeit angewiesen. Zwei Seiten Feature über das Verschwinden von Kindern in einem abstrusen Dorf in den Anden.
Sand hatte ein seltsames Alter erreicht: Die Todesanzeigen interessierten ihn noch nicht, und diese bunt bebilderten „Geben die Verlobung bekannt“-, „Heiraten in der Kapelle in der Rosengasse“-Anzeigen hatten vor ein paar Jahren aufgehört, ihn zu interessieren, nachdem so ziemlich jeder, mit dem er je etwas zu tun gehabt hatte, dort vorbeigerauscht war wie in einem nicht enden wollenden Herbststurm.
Mittlerweile sah er nur noch die Fotos der Neugeborenen durch: Schweinsäugige Fleischmassen mit den Händen von Greisen; und Sand fragte sich bei jedem Nachnamen, den er zu kennen glaubte, ob es wieder einen erwischt hatte. Als vor drei Wochen dort der Name „Menning“ zu lesen gewesen war, hatte Sand den Abend freigenommen und es sich mit einer Bacardi-Flasche auf der Terrasse bequem gemacht.
Sand legte die Zeitung weg. Im Radio dann, zwischen Sportergebnissen und Staumitteilungen: Seit vier Wochen hält die Stadt angesichts der beispiellosen Serie von Kindesentführungen ihren Atem an. Nun ist erstmals eine Belohnung ausgesetzt. 25.000 Euro…
Sand schaltete das Radio aus und legte sich noch einmal ins Bett.
Auf dem Weg zum Treffen, versuchte ihn die Nachbarin in ein Gespräch zu verwickeln. Eine besonders nervige Frau, die nichts anderes tat, als dafür zu sorgen, dass das Treppenhaus nach Limonen roch.
„Sonntag soll’s Regen geben“, sagte sie ansatzlos.
Sand, der noch damit beschäftigt war, seine Tür zu verriegeln, antwortete: „Vielleicht hört der ganze Quatsch dann auf.“
„Das mit den Kindern? Schrecklich“, sagte sie. „Gut, dass unsere schon groß sind und aus der Stadt.“
„Die Mücken mein ich“, sagte Sand und rieb sich über den Hals. „Sind dieses Jahr schlimmer als sonst.“
Befriedigt nahm Sand zur Kenntnis, dass das Gespräch damit beendet war und sog die Limonen tief in die Lungen.
Sand begrüßte den Wirt mit knappem Kopfnicken und Händeschütteln.
Der Mann, jemand, der so tat als sei er Italiener, damit er kein Baguette auf die Karte setzen musste, sondern Pommodori und Antipasti servieren konnte, sagte freundlich: „Wird auch von Jahr zu Jahr weniger, oder?“ Er nickte auf einen leeren Ecktisch, an dem vier Personen sitzen konnten. Gleich nach dem Studium hatten sie noch den Hinterraum gebraucht. Später wenigstens den langen Tisch in der Mitte und dieses Jahr, na ja. Wir werden alle nicht jünger.
„Heiraten weg wie die Fliegen“, sagte Sand und der Italiener lachte, schlug ihm auf die Schulter und wiederholte: „Wie die Fliegen. Den muss ich mir merken. Wie die Fliegen.“
Als sich Sand eine Zigarette anstecken wollte, schüttelte der Italiener den Kopf: „Scusi, die neuen Gesetze, mein Freund.“
„Ach ja“, sagte Sand, riss sich die Zigarette aus dem Gesicht und setzte sich an den Tisch.
Der Laden war von Licht durchflutet. Durch das Panoramafenster sah er Frauen in cremefarbenen Sommerkleidern flanieren. Kinder, die von ihren Eltern Kids genannt wurden, in weiten Hosen. Ein paar alte Menschen sah er auch. Aber niemand schob einen Kinderwagen, niemand hielt irgendein Balg bei der Hand. Und während die Kids und die Alten in seiner Wahrnehmung immer mehr zu Schatten im Licht wurden, schälten sich die Frauen klar und klarer heraus. Traten aus dem Schatten seiner Wahrnehmung nach vorn. Sie hasteten mit Einkaufstüten an ihm vorbei, er schenkte ihnen keine Beachtung. Sie gingen, die Nase in den Himmel gestreckt, die Hände lässig an den Seiten schleudernd, an ihm vorbei: Die sah er sich genauer an. Sie quatschten in Telefone an ihrem Ohr, stolzierten Besitz ergreifend neben Männern daher oder setzten sich, dem Restaurant gegenüber, auf eine Steinbank und lasen ein Buch. Direkt neben einem großen Plakat, das grell verkündete: Der Zirkus ist in der Stadt. Die fantastischen Bertollis fliegen wieder.
Dann kam sie. Die Haare nass und schwarz am Kopf klebend, viel kürzer als gestern Nacht noch. Die Brüste stachen hervor wie Gipfel eines Berges. Der Mund blutrot, die Beine lang und gebräunt.
Der Italiener brach sich fast das Genick, so heftig drehte er sich nach ihr um, und als sich Laura dann zu Sand an den Tisch setzte, registrierte Sand, er konnte es nicht leugnen, genüsslich die Bewunderung des Wirts, dem fast die Augen aus dem Kopf fielen.
„Er hat wohl vergessen, dass ich früher schon hier war“, sagte Laura und nestelte – Sand kannte das noch von früher – an der Kerze herum, pulte mit spitzen Fingernägeln Wachs aus ihr heraus.
„Du warst lange nicht in der Stadt“, sagte Sand. „Und früher hat man dein Gesicht auch so selten auf Bussen gesehen.“
Wie um das Gesagte zu unterstreichen, fuhr ein Linienbus draußen vorbei. Laura in all ihrer Pracht und der Schriftzug: „Die Nachtigall singt, jede Nacht auf FM 102.3.“
Sand hatte das Gefühl, als würde ihm einer der Kinder stehlenden Kobolde der letzten Nacht mit einem Hämmerchen aufs Gehirn dreschen.
„Gefällt dir die Frisur?“, fragte Laura und lächelte spitz, hob ihre Hände kokett zum Kopf – die Achseln waren glattrasiert, wie gern hätte Sand seine Zunge ….
„Ich-“, setzte Sand an. „Du musst doch raffen, dass-“
„Jaa?“
„Du kannst doch nicht im Ernst glauben, dass du hier einen auf den Prinzen von Cinderella machst und ich nur darauf warte, dass du wieder in die Stadt kommst und dass sich mein Leben allein durch dich irgendwie fortsetzt?“, hätte Sand beinahe gefragt, murmelte stattdessen nur: „Ja, ist ganz nett.“ Und versuchte angestrengt an Laura vorbeizuschauen.
„25000“, sagte Laura und malträtierte die Kerze weiter.
„Soviel verdienst du doch in zwei Monaten“, sagte Sand.
„Aber du nicht.“
„Willst du mir nicht gleich eine Gabel in den Unterleib rammen und es zu Ende bringen, wenn du schon dabei bist?“
„Immer noch so empfindlich?“, fragte sie.
„Wir, wir werden das nicht machen.“
„Was?“
„Hier wieder anfangen und uns spitze Bemerkungen zuspielen.“
„Schade“, sagte Laura.
„Wie war er denn so?“
„Wer?“
„Er.“
„Keine Ahnung, wen du meinst“, sagte Laura, drehte sich um, präsentierte den Hals und winkte dem Wirt zu, der sich fast überschlug, zum Tisch zu eilen.
„Eine Karaffe Wasser. Haben sie Aquafina?“
Der Wirt nickte so heftig, dass sein Kinn auf die Haare im aufgeknöpftem Hemd schlug.
„Ich hätte gern ne Schwipp-Schwapp“, rief ihm Sand nach, die Worte trafen aber nur den Rücken.
„Ach, meinen Ex, meinst du?“, sagte Laura und schaute so unschuldig wie ein Kind, das man mit den Pfoten in der Keksdose erwischt hatte.
Sand machte eine Geste, die die Unwägbarkeit allen Seins zum Gegenstand hatte, die man allerdings auch für eine nervöse Zuckung hätte halten können.
„Was willst du denn wissen? Ob wir seelenverwandt waren?“
„Pah“, machte Sand und es ärgerte ihn, dass sie wieder bei diesen Gesprächen waren, die sie so liebte.
„Oder ob er mich, naja, willst du wissen, ob er vielleicht oder ob du damals.“ Laura strich über die Kerze in ihren Händen.
Sands Kopf ruckte panisch nach links und rechts, wie um einen Ausweg zu suchen, dann brachte der Wirt eine Karaffe kristallklaren Wassers, woraufhin Laura ihn mit einer Handbewegung bedachte und glockenklar vernehmen ließ, man gedenke später zu bestellen, murmelte dann noch auf italienisch einen Satz, den Sand nicht verstand, der dem Wirt aber ein frohes Glucksen entlockte.
„Also“, sagte sie. „Du willst wissen, warum ich ausgerechnet zu dir zurückkomme. Und ob es unsere leidenschaftliche …“ Ihre Stimme wurde immer leiser, während sie sprach. „Beziehung war, die ich nicht vergessen konnte, ja?“
Katzenminze, dachte Sand. Katzenminze, Katzenminze, Katzenminze. Sie will ein Kind!, dachte er schließlich. Kettete sich an diesen Gedanken wie an einen Anker, um sich von ihm bis zum Grund des Meeres ziehen zu lassen.
„Ist ganz schön heiß hier drin“, sagte Laura, nahm die Karaffe, tauchte ihre Finger hinein und besprenkelte sich dann Dekolletee und Hals mit Wasser.
„Ich glaub, wir können jetzt bestellen“, sagte Sand, sich an seinen Anker klammernd. „Es kommt wohl keiner mehr. Die werden alle etwas Besseres zu tun haben, mit einer Uzi an der Wiege stehen, oder so.“
Laura jagte ihre Fingernägel in die Kerze und gab ihr endgültig den Rest. „Scusi Signore“, sagte sie. „Wir möchten bestellen.“
Und Sand fügte hinzu: „Eine Schwipp-Schwapp und für die Dame eine neue Kerze.“
Innerlich feixte Sand. Ein Punkt für ihn! Der erste seit Jahren.
Nur um zu zeigen, wie viele Jahre vergangen waren, verzichtete Sand auf seine geliebte Frutti di Mare und bestellte Nudeln mit Pepperonisalami in einer Knoblauchsauce.
Laura konterte mit Frutti di Mare, extra Knoblauch, einem Olivensalat, russischem Dressing, einer Tomatensuppe und dem Kommentar: „Es ist barbarisch, nur einen Gang zu bestellen, aber was soll man von jemandem erwarten, der es in zehn Jahren nicht geschafft hat, sich ein Paar anständige Schuhe zu kaufen.“
Als Laura bei ihrer Pizza war, jeden Bissen zelebrierte, mit ihren Füßen unter dem Tisch nach Sands Beinen angelte, und ihm über dem Tisch mehrmals einen Bissen offerierte, platzte der Doktor in das Rendezvous.
Thomas Menning, Sands ältester Freund, der als einziger der damaligen Clique die Promotion angestrebt und durchgestanden hatte. Kinderarzt war er geworden. Sand verstand bis heute nicht, wie sich jemand freiwillig mit so was Ekligem wie Kindern abgeben konnte.
„Grüß dich, Doc!“, rief Sand freundlich und stieß unter dem Tisch Lauras Fuß von seinem Knie.
„Thomas“, begrüßte sie kühl. „Und Glückwunsch zur Vaterschaft.“
„Oh ja“, sagte Sand, aus jeder Wiedersehensfreude gerissen. „Glückwunsch zur Vaterschaft.“
„Ihr zwei“, sagte der Doc und lächelte wie ein Pavian, zog einen Stuhl heran und setzte sich schnaufend. „Dass ich das noch erleben darf. Wie viele Bacardi hast du damals gesoffen, als sie weg ist?“
„Na, na, na“, sagte Sand. „Keine Vertraulichkeiten vor dem Feind.“ Lauras Fuß jagte seinen Unterschenkel hinauf.
„Ein Junge hab ich gehört“, sagte Laura.
„Ja“, sagte der Doc mit einem knappen Kopfnicken.
„Dachte, deine Frau wär unfruchtbar“, sagte Sand.
Der Doc musterte ihn unverwandt: „Haben wir alle gedacht.“ Richtete sich dann ein Stück in seinem Stuhl auf und sagte: „Schreckliche Sache, das alles.“
„Keinem passiert, den wir kennen“, sagte Sand und erntete dafür einen schmerzhaften Tritt gegen die Wade.
„Was denn?“, fragte Sand. „Die Stadt hat wie viele Einwohner? Eine halbe Million? Und fünf, sechs, also statistisch gesehen.“
„Zwölf“, sagte Laura.
„Ja, zwölf machen den Kohl auch nicht fett“, sagte Sand. „In Afrika sterben jede Minute zwölf Kinder an Malaria, oder so.“
„Ich geh dann wieder“, sagte der Doc. „Ich will euch nicht stören.“
„Hey, aber“, sagte Sand und griff nach dem Hemd seines Freundes. Der Doc sah ihn kalt an, lockerte mit spitzen Fingern Sands Griff und ging.
„Er ist frischgebackener Vater, du Idiot“, sagte Laura, keine Spur Samt mehr in der Stimme.
Sand schob ärgerlich seine Nudeln von sich und griff ein Stück von Lauras Pizza. Der Käse lief ihm übers Kinn, als er hinein biss.
„Du bist wirklich ein Widerling.“
„Ich werd ihm eine Karte schicken.“
„Du wirst mir helfen, den Fall aufzuklären!“, sagte Laura laut.
„Dann lässt du mich in Ruhe!“, sagte Sand nun auch lauter.
„Deal?“
„Deal!“, rief Sand, stand auf und stürmte an dem verdutzten Wirt vorbei. „Sie zahlt!“, rief er ihm noch über die Schulter zu.
Die Stadt schwitzte wie in einer Sauna, die Smog, statt Dampf ausströmte. Sand stapfte durch die Straßen, trat jede Cola-Dose, die er fand, meterweit nach vorne, zuckte bei jedem Bus, der an ihm vorüber fuhr, zusammen, und hätte beinahe einer zehn Jahre jüngeren Frau knallend auf den Hintern geschlagen, nur weil sie ihm diesen in einer engen Jeans präsentierte, so sehr war Sand aus dem Tritt geraten.
Als er schließlich durch ein Limonentreppenhaus gewandert war und sich in den weiß getünchten Wänden seiner Wohnung wiederfand, riss er die Kleider vom Leib und duschte kalt. Als er fertig war, hörte er aus dem Treppenhaus Lauras Stimme, die sich mit der Nachbarin unterhielt. Sand zog sich schnell die erstbesten Klamotten, die er fand, über – ein T-Shirt, das seinen Träger stolz als Teilnehmer der WWF-Europa-Tour-1997 auswies, und eine weiße Stoffhose – und riss die Tür zu seiner Wohnung auf.
Laura schaute über ihre Schulter und schenkte ihm das spitze Lächeln.
„Sie kennen aber nette Leute“, sagte die Nachbarin.
Sand griff nach Lauras Handgelenk und zerrte sie in die Wohnung.
„Schönen Tag noch“, rief er der Nachbarin zu, bevor er die Tür ins Schloss zog.
„Was?“, fragte er und zeigte mit dem Finger wie mit einem Dolch auf Laura, die unschuldig wie ein weißes Kalb, einen Aktenkoffer gegen ihre Seite presste.
„Mit den Haaren erkennt mich keiner mehr, wurde schon echt lästig. Tolle Idee. Und hier wohnst du?“ Mit einer pompösen Geste ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen.
„Ja“, sagte Sand und trat einige Kleidungsstück in die Ecke.
„Wohnen ist vielleicht zu viel gesagt. Ist das dein Rechner?“
„Damit mach ich mir immer meinen Toast“, sagte Sand.
Laura entfernte ein Unterhemd vom Stuhl, der zum Computertisch gehörte, donnerte den Aktenkoffer neben das Keyboard und startete den Rechner, dessen Ventilatoren unter Protest lossurrten.
Sand klaubte aus irgendeiner Schublade eine frische Schachtel Zigaretten hervor, zündete sich eine an und blies den Rauch gegen die Decke.
„Eklige Angewohnheit“, sagte Laura.
„Ja, wi-der-lich“, frohlockte Sand.
„Gib mir auch eine“, verlangte sie abwesend.
Sand verschluckte sich am Rauch und musste husten. Warf die Zigarette in die Spüle und sagte: „Hier drin wird nicht geraucht!“
Laura, das Gesicht vom Windows-Logo beschienen, öffnete den Aktenkoffer und setzte sich eine Brille auf.
„Werden nicht jünger, hm?“, fragte Sand lächelnd.
Doch als sich Laura dann zu ihm umdrehte und ihn verdorben über das Brillengestell ansah, konnte Sand dem Blick nicht Stand halten und schlenderte an ihr vorbei.
Eine CD wanderte ins Laufwerk und Lauras Finger huschten über die Tastatur.
Interessiert lehnte sich Sand nach vorne, seine Hände auf der Lehne des Stuhls und musterte den Monitor: Ein Stadtplan, soviel konnte er erkennen, mit einigen roten Markierungen, die zu einem Netz verbunden waren.
„Beiß mir in den Nacken oder geh mir von der Pelle“, sagte Laura.
Sand schreckte einige Schritte zurück.
„Wie lange arbeitest du schon daran?“, fragte Sand.
„Ein paar Wochen.“
„Zwölf Punkte?“, fragte Sand.
„Ja, aber das war ein ziemlicher Flop. Es ist einfach kein Muster zu erkennen. Sieht eher aus wie Spaghetti, findest du nicht?“
„Ich kann da nichts erkennen.“
„Dachte ich mir“, sagte sie und seufzte. „Komm, zieh dich an. Wir haben einen Termin.“
Sand setzte an zu protestieren, doch Laura stieß ihm einen Finger in die Brust. Unter dem Nagel meinte er noch, Wachs zu erkennen. „Wir haben einen Deal“, sagte sie bloß.
Sand verkroch sich ins Schlafzimmer, um sich etwas Vernünftiges anzuziehen, konnte aber Laura im Wohnzimmer herumschleichen hören.
„Ich will keine mehr“, hörte er sie sagen.
„Was?“, rief Sand, der sich hilflos in eine Hose verstrickt hatte, die ihm nicht mehr passen wollte.
„Weshalb wir uns damals gestritten haben, du weißt doch. Ich will keine mehr.“
Sand setzte sich aufs Bett und atmete tief ein. Der Mückentod summte. Er hatte wieder eine erwischt.
„Laura?“, fragte Sand, doch als er schließlich fertig angezogen war und ins Wohnzimmer ging, war Laura bereits verschwunden, wartete wahrscheinlich ungeduldig vor der Straße auf ihn.
Laura fuhr einen schwarzen Alfa Romeo, der sich in den Hundstagen wie ein Wellblechverschlag auf Rädern aufheizte. Beim Versuch die Tür zu öffnen, verbrannte sich Sand beinahe die Hand.
Sie sprachen die Fahrt über kein Wort miteinander. In einem Viertel, in dem jedes Haus einen Vorgarten samt Zaun hatte, brachte Laura den Wagen schließlich zum Stehen. Die ganze Fahrt über hatte sie nicht versucht, eine Hand auf Sands Knie zu legen, oder ihn mit spitzen Bemerkungen malträtiert. Fast, als hätten sie einen Waffenstillstand geschlossen, von dem Sand nicht länger wusste, ob er ihn wollte oder nicht.
Sie klingelten an einem zweistöckigen Haus und eine Frau machte auf, die Augen schwarz unterlaufen.
„Wir haben uns schon gesprochen“, sagte Laura freundlich. „Ich bin die Dame vom Radio.“
„Verzeihung“, sagte die Frau. „Die von dem Bus, ja?“
„Das ist mein Assistent“, sagte Laura und Sand fühlte sich gleich zehn, zwanzig Zentimeter kleiner, während er hinter ihr in ein Haus schlich, das zu atmen aufgehört hatte.
Wenigstens kam es ihm so vor. Während des Studiums waren sie einmal in Rom gewesen, Laura hatte die Zeit geliebt und ihn überall mit hingeschleppt. In einem Mausoleum, in dem man kaum zu atmen wagte, war sie mit dem Rücken zu ihm gestanden und er hatte sie von hinten umarmt.
Dieses Haus war so ähnlich. Aber nichts mit Erotik. Wahrscheinlich mussten Gebäude dafür deutlich länger tot sein.
„Das wievielte Opfer?“, flüsterte Sand.
„Nummer Sieben“, flüsterte Laura zurück. „Vor fünfzehn Tagen. Ein kleines Mädchen, acht Monate alt.“
„Und Sie arbeiten mit der Polizei zusammen?“, fragte die Frau, als sie eine Treppe nach oben gingen, die so laut knirschte, dass es Sand eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
„Ja“, sagte Laura. „Wir informieren die Bevölkerung.“
So tief musste die Trauer der Frau sein, dass sie die unsinnige Behauptung schluckte.
Schließlich kamen sie in ein Kinderzimmer mit Wickeltisch, Krippe und einem Mobile aus bunten Flugzeugen. Ein Fenster führte zur Straße raus.
„Ich hätte ihn doch gehört“, sagte die Frau. „Ich lieg ja gleich nebenan. Mit Babyphon und seit das gewesen ist, haben wir kein Auge mehr zugemacht, mein Mann und ich. Und sie hören ja, wie die Treppe quietscht.“
Sand ging auf das Fenster zu und schaute nach draußen. Kein Wandverzierung, keine Ranken, nichts, gut vier, fünf Meter mochte es nach unten gehen. „Das Fenster war auf?“, fragte Sand.
„Natürlich, bei der Hitze“, sagte die Frau. „Meinen Sie das war’s? Das war unsere Schuld?“
Während Laura leise auf die Frau einsprach, öffnete Sand das Fenster. Ihm fiel ein weißer Abdruck auf der Fensterbank auf, wahrscheinlich Vogelscheiße. Sand tigerte um die Krippe herum, stieß dabei mit dem Kopf gegen das Mobile und die Flugzeuge begannen zu kreisen. Die Frau schluchzte markerschütternd aus der Tiefe der Kehle. Laura und Sand verabschiedeten sich schnell.
„Vielleicht eine Leiter“, sagte Sand, als sie wieder im Auto saßen.
„Hat die Polizei schon gecheckt. Hat kein Nachbar was gesehen und es gab auch keine Spuren. Meinst du irgendjemand, der mitten in der Nacht mit einer Leiter durch die Gegend läuft, fällt keinem auf? Idiot. Die Leute lauern seit Wochen nachts an ihren Fenstern.“
„Und über die Treppe kann er unmöglich gekommen sein.“
„Ausgeschlossen“, sagte Laura.
„Dann vielleicht doch ein Kobold“, sagte Sand.
„Oder der Zirkus.“
„Ja“, sagte Sand. „Der Zirkus.“
„Mach dich nicht lächerlich. Abgerichtete Affen, oder was? Die sich von Dach zu Dach hangeln und kleine Kinder stehlen.“
„Talkumpuder“, flüsterte Sand.
„Früher hast du mich immer Kätzchen genannt“, bemerkte Laura.
„Doktor Watson, auf zum Zirkus.“
„Nun lass mal“, sagte Laura und ließ ihre Hände auf dem Lenkrad ruhen. „Ich beschäftige mich seit Wochen mit dem Fall, die Polizei seit einem Monat und du willst ihn jetzt innerhalb von zehn Minuten gelöst haben?“
„So ist es“, sagte Sand, lehnte sich im Beifahrersitz zurück und wuchs gleich zehn, zwanzig Zentimeter.
Sand lief so beschwingt durch den Rummel, der zum Zirkus gehörte, wie seit dem Studium nicht mehr. An jedem Stand hielt er an, überlegte, ob sich Laura wohl über erdbeerfarbene Zuckerwatte oder über ein giftgrünes Fröschchen freuen würde. Und Laura trottete ihm wie ein Aufziehhäschen hinterher, bedrängte ihn, sobald er eine Atempause machte, doch endlich mit der Sprache rauszurücken und warf ihm, alles in allem, vor, sich wie ein komplettes Arschloch aufzuführen, was Sands Laune nur noch mehr hob.
Schließlich tönte über die Lautsprecher das Kommando: „Die Manege ist eröffnet!“ Und Sand ließ sich mit Laura im Besucherstrom in das große Zelt treiben. Holzbänke standen um die Manege herum, die selbst mit Sägespänen ausgestreut war.
Es gab lustige Clowns zu sehen, auch traurige, einen starken Mann, eine bärtige Frau, bei der Sand bemerkte, sie erinnre ihn an die Mütter von gewissen Personen, die zu nennen, er nicht gedachte, und es gab Löwen. Affen waren zu bestaunen, ein Tiger, Schlangen, ein Dompteur und Artisten.
Bei den Artisten lehnte sich Sand zurück und legte einen Arm um Lauras Hüfte.
„Nimm den sofort weg!“, fauchte sie ihn an.
Als sich die Artisten, zwei junge Männer und eine Frau, die als „DIE FANTASTISCHEN BERTOLLIS“ auftraten, ihre Hände mit einem weißen Puder bestäubten, flüsterte Laura Sand ins Ohr: „Scheusal.“ Was Sand mit einem Lächeln quittierte, das sich im Gesicht festsetzte wie Dreck in einer Bodenfuge.
Die Bertollis, Männlein wie Weiblein, waren blass und kleingewachsen. Die beiden Männer hatten dürre Schnurrbärte, die Frau war nur als solche zu erkennen, weil sie ein Ganzkörperkostüm trug und nicht wie ihre Brüder mit freiem Oberkörper auftrat. Sie wirbelten sich gegenseitig durch die Luft, drohten auf dem Balanceseil zu stolpern, nur um dann im Spagat zu landen, und ernteten mäßigen Applaus. Das Volk stand mehr auf Tiger und Clowns.
„Sie führen ja gar keine menschliche Pyramide auf“, sagte Sand selbstgefällig.
Und Laura sagte nur ein Wort: „Motiv.“
Sands Grinsen fiel pyramidenförmig zusammen.
„Italienischer Menschenschmuggelring!“, sagte Sand trotzig. „Wahrscheinlich mit diesem Wirt da unter einem Dach oder mit deinem Ex-Mann.“
Laura musterte ihn kühl und zog die linke Augenbraue hoch – sie konnte das.
Sand trottete lustlos über den Rummel.
„Schieß mir doch ein Äffchen“, sagte Laura und hakte sich bei ihm unter.
Sand schüttelte sie ab, verzog das Gesicht und sagte: „Lass uns zum Sender fahren. Die Nachtigall verpasst sonst noch ihren Auftritt.“
„Bist du verrückt?“, fragte Laura. „Wir müssen die Bertollis beschatten.“
„Bitte?“, fragte Sand.
„Komm“, sagte Laura und zerrte ihn hinter sich her. Erst zu ihrem Alfa, wo sie im Kofferraum in ihrem Aktenkoffer wühlte, und dann zurück zum Zelt. Nun war es an Sand, ihr hinterher zu dackeln wie ein Aufziehhäschen.
Aus drei Schritten Entfernung belauschte Sand, wie Laura auf den Direktor einredete.
„Sie kennen mein Gesicht doch bestimmt von den Bussen“, sagte sie, machte den Schmollmund vom Bus, deutete mit den Händen eine sehr viel voluminösere Frisur an und stellte eine Sondersendung in Aussicht. Lange brauchten sie nicht, bis sie schließlich vor der Garderobe standen und zu den Bertollis vorgelassen wurden.
Sobald sie die Umkleide betreten hatten, setzte Laura ihre Nachtigallmaske auf, flötete in dieser seltsam melodischen Sprache, in der Sand nur eine Pizza bestellen konnte, und gewährte großzügig Einblick in jeden ihrer Vorzüge. Sie lümmelte gegen den Schminktisch, die beiden Bertollis umschwirrten sie wie Mücken den Tod.
Das blasse Mädchen und Sand musterten einander von Zeit zu Zeit unangenehm, während Lauras Hand auf Fleisch traf. Sie konnte gar nicht genug von den bleichen Schultern der Bertollis haben, fummelte, wie um einen Fussel zu verscheuchen, mal hier, mal dort herum, und auch die Bertollis übertrafen einander bei dem Versuch, Körperkontakt herzustellen, tätschelten dort das nackte Bein, strichen hier über ihre Hand.
„Schleudern, ja?“, sagte Sand schließlich irgendwann zu dem Mädchen. „Das ist so dein Ding. Gibt bestimmt Kopfschmerzen“, was das Mädchen lediglich mit einem Augenaufschlag beantwortete.
Sand schaute öfter auf die Uhr und sagte schließlich: „Chef, wir müssen dann. Die Sendung.“ Woraufhin sich Laura gestenreich verabschiedete und die Garderobe mit Sand im Schlepptau verließ.
„Dachte schon, du holst mich da nie raus.“
„Ach, jetzt auf einmal wieder, hm? Kannst gar nicht genug von diesen Spaghetti-Typen haben.“
„Komm schon“, sagte Laura und stieß ihn mit der Schulter an. „Wie hätte ich sonst die Wanze platzieren sollen?“
Ihre Augen funkelten dunkel. Und noch dunkler, als sie ihm im Alfa das GPS-Gerät präsentierte, das wirkte, als sei es aus einem Agentenfilm in ihre Welt hinübergetaumelt.
„Da! Sie halten an!“
Sand, der das Steuer übernommen hatte, stoppte den Wagen.
„Es muss gleich hier, um die Ecke sein, die nächste links.“ Laura sprach aufgeregt, wie ein kleines Mädchen, jünger, als er sie je gekannt hatte.
„Du hattest Recht, da sind sie! Die Pyramide!“
Und tatsächlich, Sand hatte Recht gehabt! Natürlich hatte er Recht gehabt! Vor einem zweistöckigen Haus, stieg ein Bertolli auf die Schulter des anderen, das Mädchen krabbelte dann am Rücken ihrer Brüder nach oben und huschte durch ein offenes Fenster in das Haus. Der obere Bertolli sprang nach unten und die beiden formten mit den Armen eine Art Auffangnetz und wenig später schon segelte das Mädchen mit einem Bündel im Arm durch die Nachtluft nach unten, dann spritzten sie auseinander und zurück in ihren Van.
„Unfassbar“, sagte Laura mit offenem Mund. „So schön, eleganter als in der Vorstellung.“
Sand hatte die Handbremse gelöst und gab vorsichtig Gas.
„Du musst weiter zurückfallen“, kommandierte Laura.
Sand nahm den Fuß vom Gas und rollte fast lautlos durch die leeren Straßen.
„Industriegebiet“, flüsterte er.
„Ich ruf die Polizei“, flüsterte sie zurück.
Während Laura aufgeregt telefonierte, kam der Van der Bertollis schließlich vor einer gigantischen Lagerhalle zum stehen. Das Mädchen schnellte aus dem Wagen, bekreuzigte sich und eilte in die Lagerhalle, nur Sekunden später rannte sie zurück in den Van, wie Sand und Laura aus einiger Entfernung beobachteten.
„Mein Gott, was darin wohl vorgeht?“, sagte Laura.
Sand hielt es nicht mehr auf seinem Sitz und er hatte die Hand schon auf dem Türgriff, als er merkte, dass auch Laura Anstalten machte, auszusteigen.
Sand schlug ihr heftig auf den Oberschenkel und sagte: „Weib! Du bleibst hier!“
Mit großen Augen starrte sie ihn an.
„Einmal! Ein einziges Mal nur! Lass mich der Mann sein!“
„Mach keinen Scheiß“, flüsterte sie leise, doch da spurtete Sand schon, mit Keuchen in der Lunge, auf die Fabrikhalle zu.
Aus vollem Lauf warf er sich gegen die Tür der Lagerhalle und prallte von ihr ab. Seine Schulter brannte wie Feuer. Vor Sands Augen tanzten Blitze. Er rappelte sich hoch und zog an der Tür, die sich leicht öffnen ließ.
„Idiot“, flüsterte er durch zusammengebissene Zähne.
Und drinnen bot sich ein Anblick, den Sand in tausend Jahren nicht erwartet hätte.
Der Doc, sein alter Freund Thomas Menning, stand mit einem Benzinkanister in der Hand in der Mitte der Halle. Babygeschrei echote von den hohen Wänden zurück. Um den Doc herum waren dreizehn Krippen aufgestellt.
Der Doc stimmte einen Sing-Sang an und schritt an den Krippen vorbei, Benzin plätscherte aus dem Kanister.
„Bist du verrückt geworden oder was?“, schrie Sand ihn von der Tür aus an.
Der Doc schaute in Sands Richtung, ging aber unbeirrt weiter. Wie ein Gärtner der seine Pflanzen wässerte, goss der Doc den Boden um die Krippen herum.
Sand machte einen Schritt auf ihn zu, der Doc zog ein Feuerzeug hervor, zündete es an und hielt es vor sich, wie eine schussbereitete Waffe.
Sand ging zwei Schritte zurück.
„Thomas Menning! Hör mir zu!“, schrie Sand.
Der Doc tränkte die Krippen mit Benzin, der Kanister wurde nicht leer. Wie in einem Märchen. Die Lagerhalle stank atemberaubend nach Tankstelle und Sand fragte sich, was zum Teufel in seinem Freund vorgehen mochte. Hatte allein der jahrelange Umgang mit Kindern zu diesem Wahnsinn geführt?
Der Doc hatte die Runde zu Ende gebracht, ging nun in die Mitte des Kreises, noch immer tropfte das Benzin aus dem Kanister. Schließlich unterbrach er seinen Sing-Sang.
„Dreizehn Kinder für ein Kind“, sagte er, und goss sich wie selbstverständlich Benzin über den Kopf.
„Deine Frau?“, fragte Sand und wagte es einige Schritte auf ihn zu zumachen.
„Ein verdorrter Acker.“ Jetzt endlich schien der Doc ihn wahr zu nehmen. „Es war keine Absicht, es war nur, ohne einen Sohn, wir waren verzweifelt. Das musst du doch verstehen. Wir waren verzweifelt. Jeden Tag seh ich sie, die unwürdigsten Kreaturen, die du dir nur vorstellen kannst, jeder hat einen Nachkommen. Jeder pflanzt sich fort. Nur ich und meine arme, arme Frau!“
Das Geschrei der Kinder wuchs zu einem fistelnden Crescendo an, der Schlussakt einer irrwitzigen Oper. Sand machte einige weitere Schritte, glitt wie auf einem Parkett aus Eis auf den Mann mit dem Feuerzeug zu, der dort stand wie ein Priester, wie einer, der nicht mehr von dieser Welt war, vielleicht nie von ihr gewesen war.
„Der Kobold“, schrie der Doc und sah nach oben. „Der mächtige Kobold ist mir im Traum erschienen! Dreizehn Kinder für ein Kind! Verstehst du nicht! Dreizehn Kinder für ein Kind! Und –“
Sand schoss wie ein Torpedo nach vorne, im selben Augenblick hielt sich der Doc das Feuerzeug an den Arm und loderte auf wie Reisig.
Noch im Flug konnte Sand sehen, wie das Feuer zu Boden schoss, erst am Oberkörper, dann an den Beinen des Docs entlang, doch da hatte Sand den Doc erreicht und zu Boden gerissen. Flammen schlugen Sand entgegen und leckten an seinem Gesicht, wie ihn zu küssen, der Doc schrie, Feuer drang in Sands Kehle. Flammen leckten nach ihm.
Seine Hände schienen mit dem Körper des Docs zu verschmelzen. Seine Muskeln verwandelten sich in Gelee. Dann traf ihn etwas mit Wucht in die Seite, schleuderte ihn vom brennenden Körper seines ältesten Freundes hinunter und das letzte, was er noch zu sehen glaubte, waren Flammen, die bis zur Decke der Halle loderten.
„Laura“, flüsterte Sand.
Ein Leben als echter Mann und Held hatte sich Sand immer ganz anders vorgestellt. Die Polizei hatte einen Großteil des Ruhms für sich beansprucht und Sand, samt Verbrennungen zweiten Grades, lag im Streckverband in einem Krankenzimmer. Die Krankenschwestern redeten zwar in seinem Beisein in höchsten Tönen von ihm und auch die Bürgermeisterin und einige Reporter hatten ihm ihre Aufwartung gemacht, viel konnte er sich davon jedoch nicht kaufen. Sogar die Limonennachbarin hatte ihn besucht und einige nebulöse Andeutungen gemacht, dass jetzt endlich Leben ins Haus komme. Eine Aussage, die Sand klar ihrem dauernden Schnüffeln an Limonenputzmitteln zuschrieb.
Eine Mücke setzte sich auf seine Nasenspitze, einer der wenigen Teile seines Körpers, der nicht bandagiert war. Sand fixierte sie mit den Augen, als könne er sie durch bloße Willenskraft dazu bewegen, abzuheben und sich ein anderes Ziel zu suchen. Stundenlang, so meinte er, ging das stumme Duell zwischen ihm und der Mücke, bis schließlich eine Hand mit langen Fingernägeln, die Mücke verscheuchte. Statt mit der Mücke lieferte er sich das Duell nun mit einem Paar pechschwarzer Augen.
„Hast aber lange gebraucht“, sagte Sand. „Hoffe du nimmst mir den Schlag da nicht übel. Adrenalin und so.“
„Aha“, flüsterte Laura. „Adrenalin. Weib auf deinen Platz. Schon vergessen?“
Sie setzte sich auf das Bett und pochte mit der Hüfte schmerzhaft gegen eine von Sands Nieren oder Rippen, das war ihm grade egal.
„Jaa“, sagte er schmerzverzerrt. „Ich hab dein Zeug gehört. Der Kinderarzt, der natürlich genau wusste, in welchem Haus und in welchem Fenster. Au, hör doch mal auf.“
Diesmal hatte sie es mit einem seiner Beine und tockte neugierig wie ein Specht gegen den Verband.
„Bist du hergekommen, um einen kranken Mann zu quälen?“
„Darf ich doch nicht“, sagte Laura spitz. „Hatten doch den Deal. Du hilfst mir den Fall zu lösen und ich lass dich in Ruhe.“
„Jaa“, sagte Sand. „Darüber lässt sich vielleicht noch mal neu verhandeln.“
Laura hauchte ihm zart einen Kuss auf die Lippen und sagte: „Ja, vielleicht.“