Hundert Mark für Nero
Es war ein schwül-warmer Nachmittag. Der Ventilator auf der Wache führte einen vergeblichen Kampf gegen die drückende Hitze. Eigentlich wäre ich viel lieber im Freibad, dachte ich, als es an der Tür klingelte.
Ich drückte auf den Türöffner, und ein älteres Paar betrat die Wache. Sie war etwa siebzig Jahre alt, klein und rundlich. Ihr volles Haar schimmerte lila. Er mochte genauso alt sein, war aber von der Gestalt her das volle Gegenteil der Frau. Ebenso seine weißen Haare, von denen nur noch ein schmaler Kranz seinen Kopf zierte.
Beide schauten betreten drein. Geradezu schüchtern blickten sie sich in der Wache um. Dabei spielte sie nervös mit den Trageschlaufen ihrer braunen Lederhandtasche, die sie beinahe schützend vor sich hielt. Schließlich entdeckten sie mich hinter dem Wachpult und kamen zögernd näher.
„Guten Tag!“, begrüßte ich die beiden. „Was kann ich für Sie tun?“
„Ja“, begann die Frau, „ich weiß gar nicht, ob wir bei Ihnen richtig sind, Herr Wachtmeister?“ Erst jetzt sah ich ihre verquollenen Augen. Anscheinend hatte sie viel geweint.
„Das kommt darauf an“, erwiderte ich. „Schildern Sie mir doch einfach Ihr Problem.“
„Es geht um Nero“, sagte die Frau, als ob ich wissen müsste, wer Nero war.
„Nero ist unser Schäferhund“, ergänzte der Mann, der meinen fragenden Blick erkannt hatte.
„Es ist nämlich so“, fuhr sie fort, „Nero ist weg!“
„Ihnen ist also der Hund weggelaufen“, versuchte ich die abgehackten Aussagen zusammenzufassen, und fragte mich, ob sie deshalb so heftig geweint hatte.
„Wo ist er denn weggelaufen?“
„Nero ist doch nicht weggelaufen“, berichtigte der Mann. „Das hätte er niemals getan.“
„Außerdem kann er doch gar nicht mehr laufen“, schluchzte die Frau auf. „Er ist tot!“
Ach, du Schande! Das hatte gerade noch gefehlt. Ein älteres Ehepaar, deren Hund verstorben war, suchte ausgerechnet bei der Polizei nach einer Art Seelentröster. Bei diesem Wetter schienen die Leute auf die verrücktesten Ideen zu kommen. Doch so verrückt waren die beiden nicht.
Der Mann musste mein betretenes Gesicht richtig gedeutet haben, denn er legte seiner Frau die Hand auf die Schulter und sagte: „Ich glaube, Amelie, wir sollten die Sache ganz von vorn erzählen. Der Herr Wachtmeister scheint zu glauben, dass wir uns bei ihm ausweinen wollen.“
Ich horchte auf. Lag ich mit meiner Vermutung falsch? Das Schluchzen der Frau mochte darauf hindeuten, dass hier ein ernsteres Problem zu lösen war. Für bloße Trauer um Neros Tod, erschien es mir zu heftig. Wie ich den beiden jedoch helfen konnte, war mir nicht klar. Die Frau hatte gesagt, Nero sei weg. Ich hatte weg mit tot verbunden. Sollte hier etwas anderes dahinter stecken? Ich bat die beiden ins Nebenzimmer der Wache, um mich in Ruhe mit ihnen unterhalten zu können. Als wir uns am Vernehmungstisch gegenüber saßen, forderte ich Amelie auf zu erzählen.
„Wissen Sie, Nero war seit 14 Jahren unser ständiger Begleiter. Wir haben ihn überall mit hingenommen. Heute auch.“ Wieder schluchzte sie.
„Heute Vormittag waren wir in Hannover“, setzte der Mann fort, von dem ich inzwischen glaubte, dass er Amelies Ehemann war. „Wir sind auf der Vahrenwalder Straße entlanggegangen, und Nero machte die Hitze ziemlich zu schaffen. Als wir dann vor dem Elektrohaus Brinkmann waren, brach er plötzlich zusammen.“
„Er war sofort tot!“, weinte Amelie. „Der arme Nero.“ Dicke Tränen flossen ihr übers Gesicht.
Amelie und ihr Mann taten mir leid. Der plötzliche Tod des Hundes musste ein schreckliches Erlebnis für sie gewesen sein. Doch warum war der Hund plötzlich weg?
Nachdem sie sich ein wenig gefangen hatte, fuhr Amelie fort: „Wir wollten Nero natürlich nicht dort liegen lassen. Ich hatte mir immer geschworen, dass er in unserem Garten einen Ehrenplatz bekommen sollte. Wir überlegten also, wie wir ihn am Besten nach Hause transportieren könnten. Hans Georg, mein Mann“, bei diesen Worten legte sie ihrem Mann liebevoll die Hand aufs Knie, „hatte dann die Idee, bei Brinkmann nach einem großen Karton zu fragen.“
„Die waren wirklich sehr freundlich“, fuhr Hans Georg fort. „Nachdem ich einem Verkäufer erklärt hatte, was passiert sei, ist der sofort ins Lager gegangen und kam kurz darauf mit einem großen Fernseher-Karton wieder, in dem sogar noch Folie und Styropor drin war.“
„Wir haben Nero vorsichtig in den Karton gelegt. Hans Georg ist dann zum Parkplatz zurückgegangen, um das Auto zu holen. Ich habe vor Brinkmann auf ihn gewartet.“
Wieder brach Amelie in Tränen aus. Der Vorfall schien sie arg mitgenommen zu haben. Auf der Suche nach einem Taschentuch wühlte sie in ihrer Handtasche, die sie sich auf ihren Schoß gelegt hatte. Ich zog ein Papiertaschentuch hervor und reichte es Amelie, die sich die Tränen damit abwischte. Anschließend forderte ich sie auf, weiter zu erzählen.
Amelie lächelte mich an: „Danke, Herr Wachtmeister.“ Und nachdem sie sich noch einmal kräftig geschneuzt hatte, fuhr sie fort: „Ich wartete also neben Nero auf Hans Georg, als plötzlich diese beiden jungen Männer auftauchten. Ich glaube es waren Türken.“
Jetzt schien die Sache interessant zu werden. Sollten die beiden den Hund gestohlen haben? Aber warum? Was konnten sie mit einem Hund, noch dazu mit einem toten, anfangen?
„Der eine sprach mich an: ‚Ey du, kannst du Hunderter wechseln?’, oder so ähnlich. Ich verneinte. Soviel Geld habe ich nie bei mir. Außerdem, wenn ich mit Hans Georg unterwegs bin, hat er das Geld bei sich. Dann bat mich der Türke, den Hunderter bei Brinkmann zu wechseln. Sie als Ausländer würden dort kein Geld gewechselt bekommen, behauptete er.“
Wieder unterbrach Amelie ihre Erzählung, und wieder liefen Tränen ihre Wangen hinab.
„Und was haben Sie gemacht?“, fragte ich.
„Was sollte ich denn tun? Irgendwie taten mir die beiden leid. Vielleicht war es auch wichtig, dass sie den Hundertmarkschein gewechselt bekamen. Ich bin also bei Brinkmann an der Kasse gewesen und habe den Hunderter in fünf Zwanziger eingetauscht. Als ich wieder nach draußen kam, waren die beiden jedoch weg. Und der Karton mit Nero auch!“ Mit einem kräftigen Schneuzer in das Taschentuch, versuchte sie, die erneut aufkommenden Tränen zu unterdrücken.
„Was sollen wir denn jetzt machen, Herr Wachtmeister?“, fragte Hans Georg. „Wir hätten doch gerne unseren Nero zurück. Er hat übrigens einen Anhänger mit unserer Adresse am Halsband – Ach ja, und die Hundert Mark wollen wir auch nicht behalten.“ Mit diesen Worten legte er fünf Zwanzig-Mark-Scheine auf den Tisch.
„Ich denke, dass die beiden es nicht auf den Hund sondern auf den Fernseher abgesehen haben, den sie in dem Karton vermuteten. Sie sind einem alten Wechseltrick aufgesessen“, erklärte ich. „Ich werde eine Anzeige aufnehmen und dann schalte ich die Kollegen in Hannover ein. Vielleicht finden sie Ihren Nero wieder. Versprechen kann ich aber nichts.“
Ich hatte kaum ausgesprochen, als das Telefon auf der Wache klingelte. Da sich dort niemand aufhielt, nahm ich das Gespräch vom Vernehmungstisch aus an.
„Hallo Kollege!“, meldete sich eine Stimme. „Wachner, von der Polizeiinspektion Hannover-Nord. Bei euch in der Gemeinde wohnt ein Hans Georg Bruckner. Den müsstet ihr mal aufsuchen.“
„Was ist denn mit Herrn Bruckner?“, fragte ich, während ich mir den Namen notierte.
Amelie und Hans Georg zuckten bei dem Namen Bruckner zusammen und starrten mich an. In ihren Augen leuchtete ein Schimmer von Hoffnung auf.
„Tja“, antwortete Wachner, „meine Streife hat seinen toten Schäferhund in einem Fernseher-Karton gefunden. Komische Sache. Da standen noch zwei Türken daneben, die sich um Hundert Mark gestritten haben. Der eine behauptete vom anderen, dass er zu blöd sei, ne alte Oma abzuzocken. So ganz schlau bin ich daraus auch noch nicht geworden.“
Schlussbemerkung: Neros Schicksal ist verbürgt. Der Rest entstand aus dem Gedanken, wie ich reagieren würde, wenn mir jemand im Dienst diese Geschichte erzählt. Ob Nero wiedergefunden wurde, weiß ich nicht.