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Hundeliebe
Ein jämmerliches Fiepen. Ein rasendes Herz, das die dichte, schwarze Felldecke hebt. Ihre Hand krault sie hinter den Ohren, die schwarze Mischlingshündin, die sie so lieb gewonnen hat. Ihr gegenüber der Mann, den sie noch viel mehr liebt. Auch er beugt sich über den Hund. Beide sind bemüht, sich nicht in die Augen zu sehen, sie starren verkrampft auf das wimmernde Tier. Ob es leidet? Wahrscheinlich nicht, die Tierärztin hat Millie starke Medikamente gegeben. Doch sie ist desorientiert, schwach, hilflos.
Wie ist sie nur in diese Situation gekommen, wie ein Häuflein Elend sitzend, in einer Tierarztpraxis, neben einem sterbenden Hund? Sie mag Hunde nicht mal. Aber Millie hat ihr Herz erobert. Sie ist der schwarze Schatten, der nicht von der Seite ihres Herrchens weicht. Der Hund hatte sie schon nach wenigen Treffen als Teil des Rudels angenommen. “Tiere erkennen gute Seelen,” hatte er einmal zu ihr gesagt. Sie weiß nicht, ob da irgendetwas dran ist, sie kennt sich nicht aus mit Tieren.
Sie wundert sich, wie schwer ihr Herz wiegt in diesem Moment, in dem sie verängstigt und ungeduldig zugleich auf den letzten Atemzug einer Hündin wartet. Sie sucht nach seinem Blick, um Halt zu finden oder um Halt zu geben. Ihre Blicke treffen sich nicht. Er schaut nicht auf von dem zitternden Hundekörper.
Seinen Schatten, so nennt er Millie oft. Sie hat ihn nie aus den Augen gelassen, schlägt beschützend jeden in die Flucht, von dem sie denkt, er könne stärker sein als er. Für ihren schlanken, wendigen Körper hat sie ein erstaunlich tiefes Bellen, das sie sehr effektiv einsetzt, um ihr Revier zu verteidigen. Mehr als einmal hat sie ihm das Leben gerettet, allerdings weniger mit ihrem Bellen oder ihren Zähnen, sondern durch ihre Fürsorge und Präsenz, ihre bedingungslose Liebe. Millie ist das letzte Geburtstagsgeschenk, das ihm seine Frau vor ihrem Tod gemacht hatte - ein halbes Jahr, bevor sie von seiner Seite ging. Sie hatte gewusst, welches Loch sie hinterlassen würde. Das hatte Millie natürlich nie zu füllen vermocht. Aber der Hund war ein Grund morgens aufzustehen und das Haus drei Mal täglich zu verlassen. Und als seine Frau fortging und ihre Augen nicht mehr ständig auf ihm ruhten, war es Millies Blick, der ihm durchs Zimmer folgte, und sie wartete auf ihn, wenn er abends nach Hause kam.
Nichts auf der Welt liebt er so sehr wie diesen Hund, das weiss sie. Wohl deshalb ist auch ihr, trotz ihrer Abneigung gegen Tierhaare in der Wohnung und warme Hundehaufen in hauchdünnen roten Plastiktüten, nichts anderes übrig geblieben, als Millie in ihr Herz zu schließen.
So viele Bilder gehen ihr durch den Kopf. Millie, die freudig an ihr hochspringt, sobald sie die Wohnungstür aufschließt. Millie, die auf morgendlichen Joggingrunden vorauseilt, um den Weg zu erkunden, nur um dann sofort wieder zurück zu kehren, um sicherzustellen, dass ihr auch ja nichts passiert ist. Millie, die geduldig vor ihrem gefüllten Fressnapf sitzt, das Essen nicht aus den Augen lässt, und sehnsüchtig darauf wartet, dass sie jemand mit einem ‘Bon Appetit’ erlöst, so dass sie zulangen darf. Millie, mit ihren beiden Töchtern herumtollend auf dem Boden. Millie, mit Nikolausmütze und leerem Blick posierend für ein Weihnachtsfoto. Millie, mit reuigem Blick, nachdem sie sich nachts in der Küche über Maries Geburtstagskuchen hergemacht hat und nur 3 traurige Marienkäferkerzen übrig gelassen hat. Millie, im Glück an Familienabenden vor dem Fernseher, zu denen sie ausnahmsweise zu ihnen auf das Sofa eingeladen worden ist.
Ab heute wird sie nicht mehr dabei sein und wird nie wieder zwischen ihnen liegen. Dabei war gestern Nachmittag noch alles so gewesen wie immer.
Es war ein heißer Tag Mitte Juli. Millie war kein Freund der Hitze und verbrachte den Großteil des Tages dösend auf dem kühlen Küchenboden. Am frühen Abend ging er dann mir ihr raus ins Feld hinter dem Haus. Kein langer Spaziergang, nur ein bisschen den Ball werfen, als die Hitze des Tages langsam abklang und einer leichten Brise wich. Derweil war sie mit den beiden Mädchen zu Hause geblieben. Sie erwarteten Besuch, ihre Freundin Sonja mit deren beiden Zwillingen. Pfannkuchen würde es geben für die Kinder und ein Glas Wein für sie.
Die Gäste waren gerade eingetroffen und sie rührte den Pfannkuchenteig, als er sie anrief. “Kannst du mir bitte schnell etwas Wasser rausbringen, Millie geht es nicht gut,” seine Stimme klang sorgenvoll. Sie ließ alles stehen, wies Sonja an ein Auge auf ihre beiden Mädchen zu werfen und rannte mit einem Eimer kalten Wassers hinaus ins Feld. Dort kniete er, Millies Kopf in seinem Schoß, streichelte ihre Ohren und redete behutsam auf sie ein. “Was is passiert?” fragte sie beunruhigt, als sie den Eimer neben ihm abstellte. Er schöpfte das kühle Wasser mit seinen Händen und beträufelte damit Millies Stirn. “Ich weiß es nicht. Sie ist gelaufen, begann zu torkeln und konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten.” Millie lag, die Augen halb geschlossen, und rührte sich nicht. “Ist sie vielleicht überhitzt?” fragte sie ratlos, einfach um irgendetwas zu sagen. Er zuckte mit den Achseln, ohne den Blick von seinem Hund abzuwenden. So saßen sie da, einige Minuten und nichts passierte. Und dann begann er zu schluchzen. Dieser Anblick fuhr ihr durch Mark und Bein. Sie hatte ihn nie zuvor weinen sehen. Nun saß er da, der Mann den sie liebte, gebeugt über den Hund, den er liebte, und die Tränen rollten über seine Wangen, fielen und versanken im schwarzen Fell. Hilflos legte sie ihren Arm um ihn, aber sie wusste, er würde es nicht spüren. In diesem Moment gehörte er nicht ihr, sondern einer anderen.
Sie wusste nicht, wieviel Zeit in dieser Starre vergangen war, als plötzlich Millie aufsprang, sich einmal schüttelte und sie beide mit schief gelegtem Kopf und treuem Hundeblick ansah. Perplex schauten sie einander an, bis er aufsprang und seinen Hund umarmte: “Du bist so ein tapferes Mädchen!” Dann gab er ihr reichlich Wasser aus dem Eimer zu trinken und sie gingen ins Haus, als wäre nichts gewesen.
Das bunte Treiben in der Wohnung - vier Kinder unter sechs Jahren - und eine gestresste Sonja lenkten sie beide ab, von dem was sie gerade erlebt hatten. Millie trabte brav an ihren Platz und legte sich in ihr Hundekörbchen, in der Küche. Er steuerte schnurstracks auf den Herd zu und begann Pfannkuchen zu backen, und sie bemühte sich, irgendwie allen gerecht zu werden, und wandte sich dem zu, der am lautesten ihren Namen rief. Es war ein Abend wie so viele andere in der Wohnküche ihres Patchwork Zuhauses. Kinderlachen, der Geruch von Pfannkuchen in der Luft, Mütter die sich über den Geräuschpegel der Kleinen anschreien und er, ein bisschen im Hintergrund, bemüht, sich in das bunte Familientreiben einzureihen ohne aufzufallen.
Plötzlich wurde die Idylle durchbrochen, von einem kurzen Jaulen, und gleich darauf einem Kinderschrei. Aus dem Augenwinkel, hatte sie wie in Zeitlupe den Hundekopf hervorschnellen sehen, der nach einem blonden, kleinen Kopf schnappte. Drei Kinder hockten um das Hundekörbchen und schauten erschrocken, das vierte hatte die Hände vor’s Gesicht geschlagen. Es dauerte einen Moment, bis sie alle begriffen was geschehen war. Dann weiter in Zeitlupe: Sonja griff nach ihrer Tochter, zog sie an sich, und auf ihren Schoß. Sie selbst rannte zum Hundekörbchen und schob die anderen drei Kinder beiseite, stellte sich schützend vor sie, doch da hatte er schon den Hund - der wieder ranz ruhig in seinem Körbchen lag - am Halsband ergriffen, und ins Zimmer nebenan gezerrt. Sonja streichelte ihrer Tochter über den Kopf, drehte die Hand und starrte ausdruckslos auf ihre dunkelrote Handfläche. Das dünne blonde Kinderhaar war rot durchzogen. Ein metallischer Geruch machte sich breit. Sonja - sichtbar unter Schock - starrte immer noch auf ihre rote Hand. Also war sie selbst es, die zielstrebig nach dem Kinderkopf griff und vorsichtig die blonden Haare, die mittlerweile zu einer roten Masse zusammengeklebt waren, bei Seite strich, um sich das Ausmaß des Bisses anzusehen. Ihr Magen drehte sich um, bei der Vorstellung, sie könnte die rote Masse anheben, und mit ihr einen Hautlappen, der darunter den Schädel des Kindes freilegen würde. Doch sie fand nichts. Sie wusste nicht, wo das ganze Blut herkam. Sie griff nach einem Küchenhandtuch, drückte es Sonja in die Hand und rief ihr zu, zu drücken. “Und nicht loslassen, einfach immer weiter drücken.”
Stickum hatte er die Küche wieder betreten, nachdem er Millie ins Gästezimmer gesperrt hatte. Er stand verängstigt im Türrahmen, beobachtete hilflos die Szene. Die Schuldgefühle waren ihm ins Gesicht geschrieben. “Du musst dich um die Kinder kümmern, während wir ins Krankenhaus fahren,” rief sie ihm zu. Er zuckte kurz zusammen, nickte dann aber und nahm sich dem Zwillingsbruder des kleinen, verletzten Mädchens an, der in der Zwischenzeit in Tränen ausgebrochen war.
Sie ging zurück zu Sonja, die immer noch das kleine blutende Mädchen auf ihrem Schoß hatte, das Gesicht fest in den Busen ihrer Mutter gedrückt. Sie weiß nicht mehr genau, wie sie es geschafft hatte die geistesabwesende Mutter mit dem Mädchen in ihr Auto zu bringen, wie sie dann in die Notaufnahme gefahren sind, und dort sofort in ein Behandlungszimmer geführt wurden. Die Krankenschwester hörte sich die Schilderung des Hergangs entsetzt an, während sie auf die Ärztin wartete. Die Ärztin strich die verklebte rote Masse auf dem Kopf des Kindes zur Seite und sagte: “Morsum canis.”
Nach einer Haarwäsche, in einem viel zu kleinen Krankenhauswaschbecken, in der Notaufnahme, stand schnell fest: der Biss war nicht dramatisch. Der Eckzahn hatte sich zwar leicht in den Kopf des Mädchens gebohrt, aber nur die Haut perforiert, und dabei ein Blutgefäß getroffen. Nach der Verschreibung eines Antibiotikums, zur Vorbeuge, wurden sie direkt wieder nach Hause geschickt.
Nach einer gefühlten Ewigkeit der inständigen Entschuldigen ihrerseits, und später noch seinerseits, gegenüber Sonja, ihrer Tochter und dem noch leicht verstörten Zwillingsbruder, war der Albtraum vorbei. So dachte sie jedenfalls. Bis sie abends, nachdem das Adrenalin abgeklungen war, völlig erschöpft neben ihm im Bett lag und ihn sagen hörte: “Morgen fahren wir zum Tierarzt und lassen Millie einschläfern.” Erst hatte sie gedacht, sie habe ihn nicht richtig verstanden. Ja, vielleicht könnte der Tierarzt ihnen erklären, was passiert war, warum Millie zusammengebrochen war, am Nachmittag, wie das sich auf ihr Wohlbefinden und ihre, sonst so grenzenlose, Geduld mit Kindern ausgewirkt hatte. Vielleicht konnte er ihnen sogar etwas verschreiben, um den Hund zu beruhigen. “Du verstehst mich nicht. Ich habe lange darüber nachgedacht und es ist die einzige Möglichkeit,” sagte er, seine Augen immer noch starr in Richtung Decke gerichtet. Darauf folgten zunächst Unglauben (“Das ist doch nicht dein Ernst!”) und dann eine lange Liste von Alternativen: sie könnten Millie rigoros im Gästezimmer einsperren, wenn Besuch kam, sie könnten mit ihr zu Tierarzt und Hundeschule gehen, für eine Art Verhaltenstherapie, sie könnten sie zu kinderlosen Freunden auf dem Land geben, und ganz regelmäßig besuchen. Sogar das Tierheim könnten sie als letzte Möglichkeit in Betracht ziehen. Alles, wenn der Hund nur am Leben bleiben könnte. Nachdem er jeden ihrer Vorschläge binnen Sekunden zunichte machte (“Ohne mich wird Millie kreuzunglücklich. Nein, ich kann die Verantwortung nicht auf andere abwälzen, und sie mit dem Risiko belasten. Wenn Millie nicht bei mir sein kann, ist es besser wenn sie gar nicht mehr ist.”), blickte er ihr in die Augen und sagte bedeutungsschwer: “Du musst mich unterstützen. Es ist das einzig Richtige. Ich brauche dich dafür an meiner Seite. Du musst mit mir diesen Weg gehen.”
Sie lag fast die ganze Nacht wach. Wann immer sie die Augen schloss, fiel sie in kurze, heftige Albträume, die die Ereignisse des Nachmittags Revue passieren ließen, oder, in düsteren Farben, skizzierten, was sie am nächsten Morgen erwarten würde.
Sie wollte diesen Weg nicht gehen. Millie war ein guter Hund. Sie war ein Teil der Familie. Sie hatte einen schlechten Tag gehabt. Sie hatte, in den Jahren in denen sie sich kannten, nie einem ihrer Kinder ein Haar gekrümmt. Im Gegenteil, sie hatte Marie an ihrem Schwanz ziehen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken, damals, als sie es als 2 Jähriges nicht besser wusste. Lisa hatte Millie nach der Schule stolz ihren Freunden vor dem Schulhaus präsentiert - Trauben von Erstklässlern hatten den Hund von allen Seiten getätschelt und gestreichelt. Bei dem Gedanken wurde ihr plötzlich ganz anders. Was da alles hätte passieren können? “Wir werden Millie nie wieder trauen können,” hatte er kurz vor dem Einschlafen gesagt, als buchstäbliches Totschlagargument. Hatte er recht? War das der einzige Weg? Aber sie war doch Teil der Familie. Wie weit ging denn die Hundeliebe, wenn man ihr nicht einen einzigen Fehler verzeihen konnte.
Unruhig wälzte sie sich von rechts nach links und wieder von links nach rechts, bis das Klingeln des Weckers sie gleichzeitig erlöste und Millies letzte Stunde einläutete.
Es war ein Morgen wie jeder andere. Sie machte Frühstück, zog die Mädchen an, packte Butterbrotdosen. Er ging duschen - ungewöhnlich lange für seine Gewohnheiten. So war er noch nicht fertig, als sie Lisa zur Schule schickte. “Komm, sag Millie noch schnell tschüss,” hielt sie ihre Sechsjährige zurück, als diese das Haus verlassen wollte. Sie wusste, wie schwer es Lisa fallen würde zurückzukommen und zu verstehen, dass Millie nicht mehr da war. Aber das Ausmaß der Tränen und die Vehemenz der Trauer, die das kleine Mädchen in den nächsten Tagen und Wochen schütteln würde, konnte sie nicht vorhersehen. Die würden sie erst einige Stunden und Tage später einholen.
Danach fuhren sie Marie gemeinsam zum Kindergarten, Millie im Kofferraum - nichtsahnend. Während das kleine Mädchen munter vor sich hin brabbelte, saßen sie und er stillschweigend nebeneinander. In den nächsten Tagen, würden sie sich häufig an dem sorglosen “So schlimm ist es ja jetzt auch nicht, dass Millie tot ist,” stoßen, mit dem die Vierjährige unbeholfen das Geschehene verarbeiten würde.
Nachdem sie Marie abgesetzt hatten, fuhren sie zu dem nahegelegenen Ehrenmahnmal für gefallene Soldaten aus dem ersten Weltkrieg, mitten im Wald. “Ein letzter Spaziergang?” schaute sie ihn fragend an. Doch er öffnete nur den Kofferraum und ließ Millie freudig aufgeregt herausspringen, nur um sie, kurz nachdem sie ihr Geschäft verrichtet hatte, wieder aufzufordern zurück in den Kofferraum zu klettern. Millie war sichtlich irritiert, sie selbst auch. “Lass uns doch wenigstens ein bisschen mit ihr laufen,” bat sie ihn. Doch er zog fest am Halsband des Hundes, um ihr zu verstehen zu geben, dass jetzt nicht der Moment für einen Spaziergang war. Treu und ohne Widerrede, sprang Millie wieder in den Kofferraum.
Auf dem Weg zur Tierärztin sagte niemand von ihnen ein Wort. Sie griff nach seiner Hand, der Hand, die in seinem Schoß und nicht am Lenkrad war, und drückte sie sanft. Doch er nahm die Berührung gar nicht wahr und starrte nur gerade aus auf die Straße. Sie suchten eine gefühlte Ewigkeit nach einem Parkplatz, in der Nähe der Tierarztpraxis. Als er endlich den Motor ausschaltete, sagte sie leise aber bestimmt: “Du musst das nicht tun.” Er sagte noch bestimmter: “Doch das muss ich!” Sie stiegen aus dem Auto.
Bei der Tierärztin warteten sie nicht lange. Ähnlich wie am Vorabend in der Notfallambulanz in der Kinderklinik, schilderten sie kurz, was geschehen war und wurden durchgewinkt in ein Behandlungszimmer, wie sie vorher noch keines gesehen hatte, mit Körbchen, Fressnäpfen und Hundespielzeug. Leider waren diesmal eine Kopfwäsche in einem Waschbecken, und eine Packung Antibiotikum, keine Lösung. Die Tierärztin ließ sich den Hergang noch einmal genau schildern, atmete tief und sagte dann: “Dann habe ich keine Wahl. Einen Hund, der unprovoziert Kinder beisst, können Sie nicht halten.” Sie bemerkte den Ausdruck der Erleichterung auf seinem Gesicht: endlich Absolution. Später würde er allen erzählen, die Tierärztin habe die Entscheidung getroffen. Sie würde das verstehen und immer beipflichtend nicken, wenn er diese Version der Geschichte erzählte.
Langsam lässt das Jaulen nach, der Atem wird flacher. Millies Fell hebt sich jetzt kaum mehr. Sie liegt auf der Seite, die Zunge hängt aus ihrem Mund, ihre Spitze berührt den Boden.
Sie fragt sich, was wohl durch seinen Kopf geht. Durch ihren eigenen geht viel: War das wirklich nötig? Hätten sie nicht eine andere Lösung finden können? Wie soll sie es den Kindern sagen? Wie würde es seiner Tochter sagen? Wie konnte er so schnell entscheiden? Wieso hat er sie nicht angehört, als sie über Alternativen sprechen wollte? Wie kann er über ein Leben richten, das nicht seines ist? Sich so rigoros von jemandem trennen, den er so sehr liebt?
Dann dürfen sie entscheiden, ob sie Millies leblosen Körper mitnehmen wollen, um sie irgendwo zu begraben. Sie denkt kurz darüber nach, ob er sie vielleicht zu seiner verstorbenen Frau, auf den Friedhof, betten möchte. “Entsorgen Sie sie einfach,” sagt er. Für 200 Euro ist auch dieses Problem gelöst. Nicht schnell genug kann er die Praxis verlassen.
Auf dem Weg nach Hause sagt er kein Wort. Aber später, an diesem Abend, als sie erschöpft ins Bett fällt, nachdem sie stundenlang ihre schluchzende Lisa in den Armen gehalten hat, wird er ihr sagen, er habe das alles für sie getan. “Ich wäre meines Lebens nicht mehr froh geworden, wenn einer deiner Töchter etwas passiert wäre!” Und irgendwo, zwischen der Wut darüber, dass er sie mitschuldig macht, und der Angst davor, dass sie beim nächsten Fehler, den sie begeht, vielleicht die nächste ist, die aus seinem Leben gehen muss, drückt sie ihn fest an sich, und lässt ihn die ganze Nacht nicht wieder los.