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Hundeliebe
»Nein, Mami, nein. Ihr dürft mir Benny nicht wegnehmen!«
Das kleine Mädchen hielt den Hund fest umklammert und sah mit tränenverschleierten Augen zu seiner Mutter auf.
»Bitte Mami, du darfst das nicht zulassen.«
Die Mutter drehte sich mit Tränen in den Augen zu dem Mann im weißen Overall um, der in der Tür stand.
»Bitte«, flüsterte sie, »bitte lassen Sie uns den Hund. Er bedeutet ihr alles, seit ihr Vater tot ist.«
Für einen Moment sah sie der Mann unentschlossen an. Dann straffte sich seine Gestalt.
»Es tut mir leid«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme, »aber es gibt keine Ausnahmen.«
Das Weinen des Mädchens folgte ihm die Treppe hinab und bis in seine Träume.
Mein Name ist Reinhard Becker. Ich weiß nicht, ob und wie viele von uns diesen Alptraum überleben werden. Deshalb spreche ich diesen Bericht auf Band. Ich habe die Hoffnung, dass genügend von uns überleben, um der Menschheit einen neuen Anfang zu ermöglichen.
So viel ist geschehen in den letzten zwölf Monaten.
Ich werde versuchen, eine kurze Zusammenfassung dessen zu geben, was unser Pater als >den Amoklauf Gottes< bezeichnet hat. Zumindest die Teile, die wir uns im Laufe der Zeit zusammenreimen konnten. Zuerst begann es mit einigen Toten irgendwo in Osteuropa. Landbewohner, auch ein paar Städter. Die dortige Regierung sperrte die Kranken ein, riegelte die betroffenen Gebiete ab und hielt alles geheim. Ein paar Monate später starben ein paar Menschen in Österreich. Die Regierung spielte das Ganze herunter und stellte es als >isolierte Fälle einer schwer verlaufenden Lungenentzündung< dar.
Dann starben etwa fünfzig Menschen in Bayern und Norditalien. Die deutsche und die italienische Regierung beauftragten die jeweiligen Seucheninstitute mit der Aufklärung, hielten sich im übrigen aber zurück. So kam ich ins Spiel.
»Keine Angst, Timmy, ich beschütze dich«, flüsterte der kleine Junge seinem Welpen ins Ohr. Timmy leckte ihm durch das Gesicht.
»Ich lasse nicht zu, dass sie dich holen.«
Ängstlich hatte der Junge die Tragödie in der Nachbarwohnung hinter verschlossener Tür miterlebt. Die gemeinen Erwachsenen! Morgen würde er zu dem Mädchen gehen und es trösten. Wenn es versprach nichts zu verraten, durfte es vielleicht Timmy streicheln.
Am Abend blieb ihm vor Schreck fast die Luft weg, als die Mama den Papa fragte, ob er den Hund schon angemeldet habe. Doch Papa sagte, dass wolle er morgen machen. >Morgen machen< war Papas Ausdruck für irgendwann. Der Junge war erleichtert.
Als ich von Berlin nach München flog, titelte eine Boulevardzeitung :>Todesseuche in Süddeutschland<.
Ich musste lachen. Journalisten und ihre Übertreibungen. Je harmloser die Krankheit, um so schlimmer die Meldungen. Diese Erfahrung hatten wir auch bei dem Vogelgrippefiasko gemacht. Obwohl niemand in Europa an der Grippe gestorben war, erinnerten die Meldungen in den Medien eher an Horrorromane als an seriöse Berichterstattung. Bald nach der Landung jedoch, noch bevor ich die ersten Untersuchungsergebnisse gesehen hatte, verging mir das Lachen. Eine Meldung aus Berlin erreichte mich auf Weg zum Klinikum Rechts der Isar, in dem die Toten untersucht wurden. Es hatte weitere Fälle gegeben, in Baden Württemberg und im Saarland. Das Robert-Koch-Institut erhöhte die Seuchenvorwarnstufe auf zwei, die zweithöchste Stufe. Die Untersuchungen den Leichen dauerte noch an, doch bereits jetzt stand fest, dass wir es mit einer äußerst aggressiven Form von Pneumokokken zu tun hatten. Als ich die Resistenzwerte und Vermehrungsraten der Erreger sah, gab ich sofort Generalalarm für das Krankenhaus und die Umgebung. Das RKI erhöhte die Warnstufe auf eins.
Das Mädchen strahlte über das ganze Gesicht, als der Junge es heimlich in sein Zimmer führte. Timmy stand, schwanzwedelnd und niedlich, in der Zimmermitte und schaute das Mädchen mit schräggehaltenem Kopf an.
»Ist der süß! Darf ich ihn streicheln?«
»Aber nur, wenn du versprichst, es niemanden zu erzählen. Schwör es!«
Das Mädchen hätte alles geschworen, wenn es nur den Hund streicheln durfte.
»Ist der weich. Und so lieb. Kuck mal, er mag mich.«
Plötzlich kamen dem Mädchen die Tränen.
»Warum darfst du deinen Hund behalten und meinen Benny haben sie mir weggenommen? Das ist unfair. Ich hasse dich.«
Der Junge erschrak. »Bitte, nicht so laut. Es tut mir ja auch leid um deinen Hund. Deshalb habe ich dich doch hier hin mit genommen. Du darfst jederzeit mit Timmy spielen, wenn du magst. Damit du deinen Benny nicht mehr so vermisst.«
Das Mädchen beruhigte sich nur langsam. Timmy kletterte auf ihren Schoß und leckte durch ihrr Gesicht.
»Das kitzelt. Du bist ein lieber Kerl.«
Die Epidemie griff immer weiter um sich. Wir hatten die Inkubationszeit mit vierundzwanzig Stunden als extrem kurz festgestellt. Von da an ging es sehr schnell. Innerhalb von zwei Tagen zerstörten die Erreger die Membrane der Lungenbläschen, die Lungen liefen voll Flüssigkeit und die Infizierten ertranken. Mit den üblichen Antibiotika war keine Heilung möglich. Genetiker auf der ganzen Welt arbeiteten mit Hochdruck an der Entschlüsselung der Genoms, um ein wirksames Heilmittel zu entwickeln. Inzwischen waren weltweit etwa eintausend Menschen gestorben. Durch Versammlungsverbote, Ausgangsperren und Zwangsmeldungen von Verdachtsfällen hatten sich die Ausbreitungsrate stark vermindert. Dennoch kamen jeden Tag neue Meldungen über Infizierte herein. Nur ein Prozent überlebten die Infektion.
Mein Team arbeitete rund um die Uhr, um den Übertragungsweg und die Rückzugswirte des Erregers zu finden. Wir hofften so, nach Eindämmung der Epidemie, einen erneuten Ausbruch zu verhindern. Zumindest bei dem Übertragungsweg wurden wir schnell fündig. Wir entdeckten im Laborversuch, dass die Kokken einige Stunden an der Luft überleben konnten. Die Infektion konnte so durch Inhalation oder Hautkontakt übertragen werden. Aber woher kam sie? Ohne Patient Null würde die Beantwortung dieser Frage, und damit die Einleitung wirksamer Gegenmaßnahmen gegen einen erneuten Ausbruch, schwierig bis unmöglich werden.
»Sag mal, hast du Fieber, Liebes? Du bist ja ganz heiß.«
»Es ist nichts, Mami. Mir geht es gut. Darf ich nach nebenan?«
»Du darfst nach nebenan ins Bett, junge Dame. Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten. Leg dich schon mal hin, ich hole das Fieberthermometer.«
»Och Mami, mir fehlt nichts. Bitte, bitte. Nur fünf Minuten.«
»Der kleine Junge hat es dir ja richtig angetan. Junge Liebe, mhm?«
»Mami!«
»Trotzdem bleibst du hier. Hinterher steckst du ihn noch an.«
Nach Monaten immer hilfloserer Suche kam uns der Zufall zu Hilfe. Eines unserer Versuchstiere war ein Schäferhund. Bei einer Kontrolluntersuchung stellten wir fest, dass seine Lunge mit dem Erreger befallen war. Er musste sich bei dem Rhesusaffen angesteckt haben, der mit ihm im selben Raum untergebracht war. Allerdings zeigte dieser Hund keinerlei Krankheitssymptome. Er war immun.
Wir hatten den Rückzugswirt des Erregers gefunden.
Mittlerweile betrug die Zahl der Toten weltweit über eine Million. Als wir unsere Ergebnisse bekannt gaben, beschloss die Weltgemeinschaft eine Ungeheuerlichkeit. Man beschloss den Genozid an den Hunden. Uns war klar, dass man unmöglich alle Tiere erwischen konnte. Doch die verantwortlichen Planer gingen davon aus, dass eine genügend große Zahl an Hunden eliminiert werden würde, um die Ansteckungs- und Rückzugskette der Pneumokokken zu unterbrechen. Wie sehr wir uns doch geirrt hatten. All die Internierungen der Infizierten und ihrer Kontaktpersonen, all die Sperren und Verbote. Alles umsonst.
»Ich werde dich immer beschützen, Timmy.«
Der Junge schüttelte sich in einem Hustenanfall. Sein Atem ging rasselnd und schwer. Er hatte Fieber, ebenso wie seine Mutter und sein Vater. Gestern hatte die Nachbarin geklingelt, um sich nach ihm zu erkundigen. Ihre Tochter war ebenfalls krank. Sie hatte die gleichen Symptome. Und auch die Mutter fühlte sich elend und krank. Der kleine Hund saß neben dem Jungen auf dem Bett und leckte ihm die Hand. Langsam verstummten die Atemzüge des Jungen.
Seit gestern weiß ich, welchen grauenhaften Fehler wir begangen haben. Wir sind immer davon ausgegangen, dass die Hunde die Rückzugswirte des Erregers waren, so wie Vögel die Rückzugswirte der Grippeviren sind. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Es ist uns in den letzten zwölf Monaten nie gelungen, das Genom des Erregers vollständig zu isolieren. Nun weiß ich warum. Seine Mutationsrate ist so hoch, dass sich der Erreger noch in der Probe verändert. Die Veränderung jedoch ist minimal, immer nur so viel, dass er sich an die neuen, veränderten Umweltbedingungen anpassen kann. Ich hätte dies viel früher erkennen müssen. Schon als ich die ersten Ergebnisse damals in München sah. Die Vermehrungsrate war viel zu hoch, als dass keine Mutationen auftauchen würden.
Als wir schon fast die Epidemie zum Erliegen gebracht hatten, tauchte eine neue Variante auf. Und diese Variante war noch aggressiver als der ursprüngliche Erreger. Sie tötete ausnahmslos innerhalb von achtzehn bis vierundzwanzig Stunden. Und um die Katastrophe perfekt zu machen, befiel dieser Erreger auch Vögel. Innerhalb von Tagen stieg die Infektionsrate exponentiell an.
Das alles ist jetzt sechs Wochen her. Wir haben keinen Kontakt mehr zu den anderen Seuchenzentren. Die letzte Meldung, die wir erhielten war, dass einige Neutronenbomben gezündet worden waren, um großflächig tote Zonen zu schaffen, in denen später die Überlebenden eine seuchenfreie Umgebung vorfinden sollten. Ich glaube nicht, dass es nützt. Außer vielleicht den Menschen unter den Bomben. Für sie war es schnell vorbei.
Ich werde diesen Bericht zusammen mit meinen Untersuchungsergebnissen in einer Stahlkiste deponieren. Eine wichtige Erkenntnis konnte ich noch gewinnen. Der Erreger mutiert mit einer ähnlichen Varianz wie der AIDS-Virus. Ich vermute daher eine Symbiose der beiden Erregertypen. Die Bakterie hat gewissermaßen AIDS. Wenn dies Gottes Amoklauf ist, dann hat er einen abgedrehten Sinn für Humor. Ich bekomme kaum noch Luft. Es rasselt immer lauter, wenn ich atme. Wer auch immer diesen Bericht lesen wird: Ich wünsche euch viel Glück. Ihr werdet es bitter nötig haben.