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Hund und Herr
Wenn Luis sich daranmacht, an meinem Ohr zu nagen, dann kann es manchmal bis zu zwanzig Minuten dauern, bis er damit fertig ist. Luis nimmt sich dafür immer Zeit, er schließt dabei genüsslich die Augen und ab und zu stößt er einen scharfen Schnaufer aus, der mir Brille und Verstand nässt. Luis scheint jedes Mal zu spüren, wenn ich nicht bei der Sache bleibe, wenn mein Verstand dabei auf Reisen geht, denn dann intensiviert er seinen Rhythmus und mit spitzen Zähnen holt er mich von meinen Träumen sachte zurück in unsere warme Stube.
Ich könnte niemals so lange meine Zunge kreisen lassen. Nicht dass meine Zunge dies nicht zustande brächte, vielmehr liegt es daran, dass ich das Repetitive an der Sache viel zu langweilig fände, dass mich die Eintönigkeit der Bewegung eher abstößt als anzieht. Ich bin ein Mensch, der von der Abwechslung lebt, aber Luis mag keine Abwechslung. Er hat seine Rituale und die immergleichen Orte, die er gerne beschnüffelt. Fremdes gegenüber gibt er sich eher zurückhaltend. Er ist kein Xenophob, doch er mag Annäherungen erst, wenn sein Gegenüber - wie er selbst ja auch - zuallererst Zeichen der Demut an den Tag legt, wenn die Augen nicht herausfordernd starren und wenn man gebückt ein Mindestmaß an Höflichkeit mit seinem Körper zeigt.
An meinem Ohr zu nagen, das ist Mittel zum Zweck. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das verstanden habe und als ich es verstand, da war ich auch ein wenig enttäuscht. Ich war enttäuscht, weil es an meiner Eigenliebe gerüttelt hat, weil ich das Ganze zunächst auf meine Persönlichkeit bezog. Ich dachte, er würde mir diese Nähe schenken, weil ich ich bin und darauf war ich stolz. Aber Luis hat mich eines Besseren belehrt, wie übrigens in vielen anderen Dingen auch. Jetzt verstehe ich, weshalb er sich an meinem Ohr zu schaffen macht und auch ich schließe dabei die Augen und gebe mich dem Ritual hin.
Worauf Luis es abgesehen hat, ist meine Hand. Er weiß, dass die Hand nicht die Sensibilität eines Hörorgans aufweist, dass die Haut dort unempfindlicher und vom Leben eingedickt ist. Er weiß, dass er dort fester zubeißen kann und wenn er sich damit schon beschäftigt, dann kann er auch ein tiefes Knurren von sich geben, etwas, was so nah an meinem Gesicht ein unverzeihliches Sakrileg wäre, denn damit verstieße er gegen uralte Benimmregeln, Regeln, die jeder seiner Art seit etliche Generationen befolgt.
Ich habe mal versucht, die Prozedur abzukürzen. Geblendet von meiner menschlichen Allmachtsphantasie habe ich versucht ihm klarzumachen, dass wir direkt zur Sache gehen könnten, dass es in Ordnung wäre das Ohr zu überspringen. Dies wäre die naheliegendste Schlussfolgerung, sein Ziel sei ja eh die Hand, warum also nicht effektiver handeln und die Abkürzung nehmen? Kennt er das nicht, ‚Geradlinigkeit sei besser als jede Artigkeit‘? Außerdem würden wir uns jetzt sein ganzes Leben lang schon kennen und mir ist längst bekannt, dass seine Absichten stets redlich sind, wozu also das Ritual?
Es fällt mir schwer zu beschreiben, wie er darauf regierte. Schwer, weil sein Gesichtsausdruck die Indignation der Gäste eines gut betuchten Restaurants widerspiegelte, die Zeugen der infamen Gottlosigkeit wurden, wie ein Gast sich die barbarische Freiheit herausnahm, laut mitten in Speiseraum sich der Winde seines Gedärms zu entledigen. Ich sage es ist schwer zu beschreiben, weil ich solche Lokale nicht kenne. Aber ich stelle mir vor, dass darin die gut Betuchten zusammenkommen und dass sie dort einem komplizierten Regelwerk gehorchen und wenn dagegen grob verstoßen wird, dann bleibt einem nur Fassungslosigkeit übrig.
Ja, auch Luis schien mein Modernisierungsvorschlag nicht zu munden. Er ließ die Ohren halb hängen und den Körper zeigte er mir in Profil. Ich beschloss, die Initiative zu ergreifen und schob ihm meine Finger ins Maul. Doch Luis wendete sich beleidigt ab. Er ließ seine Ohren halb hängen, „zehn vor zehn“ nenne ich diese Stellung und „zehn vor zehn“ ist mir an ihn mein Lieblingsausdruck. So blickt er wenn er an etwas interessiert ist, etwa wenn er Milben unter meinem Bettlaken vermutet und er in neugieriger Anspannung wartet, was das Insekt in der Matratze als Nächstes für Ungeheuerlichkeiten von sich gibt. Dann legt er den Kopf zur Seite, horcht und ihn so zu sehen, erfüllt mein ganzes Herz mit Freude. Jetzt blickt er aber nicht zur Seite und aus seinem Gesicht les‘ ich nur Vorwurf. Wäre Luis ein Mensch, dann wüsste ich ganz genau, was ich ihm sagen könnte. Ich bin geschickt darin mich zu entschuldigen. Er ist aber kein Mensch und da ich auf ihn nicht einreden kann, da bleibt die Scham bei mir zurück.
Ich muss es aus der Menschenwelt gebracht haben, die Annahme, dass wir im Grunde alle Brüder seien, dass in jeder Brust eigentlich das gleiche Herz schlägt. Wozu Hoffart und Zeremoniell, wenn alle Kinder einer Mutter sind? Warum nicht gleich vertraut miteinander reden, warum soviel Energie verschwenden, um immer wieder zu versichern, dass die eigenen Absichten friedlich sind? Und es stimmt auch, in der Menschenwelt erfährt man, dass dieses Niederreißen der Schranken funktioniert, dass Herzen sich plötzlich öffnen und dass Fremde gar keine Fremde sind. Nicht nur einmal habe ich erlebt, wie schnell die Augen meines Gegenübers leuchten, wie die Vertrautheit zitternd wartet, wartet auf das schlichte, liebevolle Wort.
Doch Luis hält nichts davon. Mit fünf Jahren schon erwachsen, greift er auf einen mir unbekannten Wissensschatz zurück. Instinkte, würden indifferente Gesellen dazu sagen, doch eigentlich ist es viel mehr als das. Ich würde es Lebendigkeit und Erfahrung nennen und das ist für uns schwer begreiflich, denn mit fünf wissen wir nicht viel. Aber mit fünf ist man auch so ungezwungen, zugleich selbstsicher und einfältig und schreckhaft wenn etwas auf den Boden knallt. Auch das verdanken wir einem Wissen, dessen Ursprung in der Zeit nur schwer mit Wörtern zu beschreiben, dessen Einfluss sich aber überall um uns offenbart. Ein Leben und ein Halb könnte man aufwenden, man könnte sich fragen, wie kann ein Vogel einfach so wissen, wie er sein Nest zu bauen hat? Dass er das weiß, gar keine Frage. Woher nur? - und das ist eine Frage für das Hamsterrad.
Ich muss langsam zu Luis zurückkehren, denn Luis merkt, dass ich wieder abschweife. Er beißt und schnauft und meine Brille setzt Feuchtigkeit an. Er scheint zu wissen, dass meine Gedanken, langsam aber merklich, sich der Dichtung nähern, dass der Fluss der Wörter sein Bett aus Rhythmus baut. Ich bin aber kein Dichter. Ich mag Gedichte, mach‘ mir nur nicht die Mühe, in Zeiten genormter drei- bis fünfminütiger Lieder mir anderes zu merken als einen Refrain.
„Schluss jetzt!“, sage ich. Luis gehorcht und hält inne. Seine breite Zunge klebt aber weiterhin an meinem Ohr. Es ist wie auf ein Foto, er bewegt sich nicht und wartet. Wartet was ich, sein Kumpel, für ein Ton einschlage.
„Ab zu Frauchen!“, sage ich. „Ich muss schreiben. Halt‘ Du mich jetzt nicht auch noch davon ab!“ Luis spitzt die Ohren. Das Frauchen pfeift. Und dann nimmt er seine breiten Tatzen, setzt sie auf den Teppich ab und schaut mich nochmal an. Nur dies eine Mal noch schaut er, bevor er seinen gedrungenen Körper, durch die Tür zwängt und er zu seinem Herrchen geht, zu meiner Frau.