Hummer im Schrank
Hummer im Schrank
Ein Erlebnisbericht des damaligen Errichtungsbeauftragten über den Aufbau der AOK Halle/Saale
Um 15.3o h begann bei uns im AOK Landesverband die Abteilungsleiterrunde. Eine Frau war auch dabei. Die Runde hieß aber trotzdem Abteilungsleiterrunde. Bei der Frau handelte es sich um die Abteilungsleiterin Marketing. Sie wurde ohnehin nicht ernst genommen. Alle hielten ihre Tätigkeit für notwendiges Beiwerk, modernen Schnickschnack. Jede moderne Körperschaft mußte sich so etwas leisten können. Bauchtanz auf Kassenkosten, AOK und gesunde Ernährung in Zusammenarbeit mit McDonalds.
Marketing sei eben nicht jedermanns Sache.
Jeder mußte vor Beginn der Sitzung die von ihm gewünschten Themen mit einer Karte an einer Metaplan-Tafel anheften. Der Vorschlag, so zu verfahren, war von mir gekommen.
Mir war die zeitliche Ausdehnung dieser Runden in der Vergangenheit unangenehm aufgefallen. Manchmal gingen die Sitzungen von 15.30 bis nach 20.00 h, ohne daß ich mir ein Ergebnis merken konnte. Ich konnte dann hinterher nicht mehr ins Kino gehen, deswegen mein Vorschlag. Da die Runden immer Donnerstags waren, konnte ich bei Ende 19.00 h immer die neu angelaufenen Filme sehen. Ging die Sitzung länger, war mir dieses unmöglich. Diesen Verlust von Lebensqualität wollte ich nicht hinnehmen.
Mein Vorschlag wurde zwar im Ergebnis angenommen, so richtig verinnerlicht hatte den Vorschlag eigentlich niemand der anderen Kollegen. Bei jedem Anheften wurde ich beäugt, als wenn man mir sagen wollte: „Das haben wir Dir zu verdanken“.
Gleiches galt für das Protokoll. Früher begann die Sitzung immer mit einer 15-minütigen Diskussion, wer das Protokoll führen solle. Es wurde dann regelmäßig ein 10 seitiges Protokoll abgeliefert, daß ganze Wortgefechte widergab, in dem das Ergebnis oder gar der Beschluß der Runde oder des Chefs nicht aufzufinden war. Auf meinen Vorschlag mußte das Protokoll immer der Abteilungsleiter führen, der von der Numerierung der Abteilung auf den vorhergehenden Protokollanten folgte. Wenn Abteilung 1 das letzte Protokoll geschrieben hatte, war Abteilung 2 dran. Wenn der Abteilungsleiter 3 nicht konnte, so war er verpflichtet, seinen Stellvertreter zu schicken. Dieses vermied die Einwände in der nachfolgenden Sitzung „Da war ich aber nicht dabei“ oder „das habe ich ja gar nicht mit beschlossen“ oder „das müssen wir nochmal diskutieren“.
Das Protokoll bestand von nun ab auch nur aus Ergebnissen und Beschlüssen. Da ich durch diesen ebenfalls beschlossenen Vorschlag manch einen in seiner literarischen Betätigung behindert habe, war ich ob dieser eingeführten Neuerung auch nicht gerade beliebt.
Die Sitzordnung war rund oder oval, je nachdem in welchem Raum wir tagten. Der Chef betrat regelmäßig pünktlich die Runde. Abteilung Verträge saß am Platz, Abteilung Marketing saß blätternd am Platz, der Stellvertreter des Geschäftsführer, kurz GF 2, kam mit Abteilung Leistungen im Schlepptau immer etwas zu spät. Jeder von beiden mit riesigen Time-Management-Planern bewaffnet. Was im Wilden Westen der Revolver war, war bei uns das Time-Management-System als Statussymbol. Mit diesen riesigen Lederordnern konnte man sogar werfen.
Personal saß bereits inmitten einer riesigen Papiermenge ebenfall pünktlich am Platz und las und schrieb darin. Das tat er auch während der gesamten Sitzung. Er meldete sich regelmäßig nur dann, wenn die Sitzung eigentlich beendet war. Hauptsächlich für ihn war Metaplan gedacht. So konnten wir ihn immer abwürgen, weil er kein Stichwort angeheftet hatte. Allgemeine Verwaltung kam immer direkt mit dem Chef mit dezentem Abstand.
Es ging los!
Der Stellvertreter berichtete von seinen Abenteuern bei der Besichtigung von Eisleben im jetzigen Sachsen-Anhalt.
Mit dem paritätisch gewählten Vorstand war er in die ehemalige DDR mit einem Bus nach Eisleben gefahren. Unvorstellbar, was er erlebt hatte! Die Leute waren zwar alle nett, die Straßen aber unglaublich schlecht. Die Sozialversicherung war auch merkwürdig, alles – sogar die Rentenversicherung -sei in einem Haus untergebracht gewesen. Das Essen war fettig, die Kartoffeln waren wäßrig, das Gemüse zerkocht und bei der Sitzung gab es etwas cognacartiges.
Dennoch: Alle sprachen deutsch.
Merkwürdig sei auch gewesen, daß alle keine Geschäftsführer waren, sondern Direktoren, Bezirksdirektoren. Meistens waren das sogar Frauen. Alle waren aber in der SED. Das könne man jetzt aber auch nicht ändern. Die SED Mitglieder seien derzeit die einzigen, die man als Ansprechpartner habe. Mit denen müsse man jetzt erst einmal klar kommen.
Was jetzt vonnöten sei, sei der Aufbau. In der DDR müsse jetzt mit staatlicher und auch mit unserer Hilfe das seit 1889 bewährte Sozialversicherungssystem Deutschlands anstelle der sozialistischen Mißwirtschaft installiert werden. Die Kaiserliche Botschaft, die drüben so schmählich mißachtet wurde, sei wieder in Kraft zu setzten. Es lebe der solidarische Beitrag der Sozialversicherung. Daß die Arbeitgeber drüben nicht zur Kasse gebeten worden sind, sei eine sozialistische Eigenheit, die umgehend zum Wohle aller abgebaut werden müsse. Kurzum: Da unser System das Beste ist, gehöre es auch nach drüben.
Der AOK Bundesverband suche jetzt Leute, die im Nirwana bereit seien, den verhärmten nach Bananen heischenden Mitbürgern, die noch nicht einmal ein vernünftiges Auto hätten, Schützenhilfe leisten zu wollen.
Der Abteilungsleiter Verträge wandte sogleich ein, daß er jetzt gerade zum zweiten Male verheiratet sei und deswegen sein Heim nicht verlassen könne.
Der Abteilungsleiter Leistungen gab zu bedenken, daß er als gleichzeitiger Haushaltsexperte im Verband unabkömmlich sei.
Der Leiter der Allgemeinen Verwaltung meinte, daß es dort drüben gar nichts zu verwalten gebe, denn dort hätten sie ja noch nicht mal vernünftige Kopierer.
Die Leiterin Marketing war der Meinung, daß dort keine größeren Aktionen vorgenommen werden müßten, da alle sowieso kulanterweise von der Sozialversicherungskasse, sie nannte sogar die Insiderbezeichnung SVK, in die AOK kommen würden.
Der Abteilungsleiter Personal unterbrach seine Aktenlektüre und meinte, infolge des Kaufs seiner Eigentumswohnung und den damit zusammenhängenden Renovierungsarbeiten komme die Wiedervereinigung für ihn völlig ungelegen.
Der Stellvertreter, GF 2, sagte, er sei nun mehrfach drüben gewesen und er habe keine Lust, auf den Straßen dort seinen Dienstwagen in Gestalt eines 190er (2.0) zu ruinieren. Der Erhalt des Dienstwagens sei schon schwierig genug gewesen und weiteren Ärger mit der Aufsichtsbehörde wolle er sich nicht einhandeln.
Als alle mehr oder weniger abgesagt hatten, fiel der Blick des Vertragsabteilungsleiters auf mich. Als Herausgeber eines Kommentares zur Wirtschaftlichkeitsprüfung von Ärzten war er es gewohnt, sich mit absolut trockenen Materien auseinanderzusetzen und in Ergebnissen zu denken.
Ihm waren meine Veränderungs-, Verbesserungs- und andere Abänderungs- und Modernisierungsvorschläge immer ungelegen gekommen, weil diese ihn aus seinem gewohnten Trott brachten. Wegen verschiedener Neuerungen mußte er während der Arbeitszeit umdenken und Neues umsetzen. Das hielt ihn von der Arbeit an seinem Kommentar während der Arbeitszeit ab. Er warf in die Runde ein „wie wäre es denn mit dem Kollegen M.?“. Alle Blicke richteten sich auf mich. Ich sagte, ich wäre der letzte, der sich an einer Mitarbeit zum Zwecke der Herbeiführung der deutschen Einheit verschließen würde. Außerdem sei es bestimmt ganz interessant, diesen für uns bis dahin unerreichbaren Teil Deutschlands zu betreten oder zu bereisen. Einstimmig wurde somit der Beschluß gefaßt, daß ich den Aufbau der AOK im Partnerland Sachsen-Anhalt unterstützen solle.
Da Magdeburg, das prima über die ehemalige Transitstrecke zu erreichen war, schon an den AOK Geschäftsführer von Braunschweig vergeben war, kam nur Halle/Saale in Frage.
Ein Fax mit diesem Ergebnis ging sogleich an den AOK-Bundesverband nach Bonn.
2 Tage später fuhr ich mit meinem damaligen Opel Kadett E, 1,6 l Diesel Limousine von Hannover aus Richtung Halle/Saale. Mein Kadett war der erste dieser Art in Hannover, er setzte sich in dieser Form erst später durch. Er war ein echtes Sparwunder und verbrauchte nie über 6 l Diesel. Die Fahrt ging bis nach Seesen, dann durch den Harz und die Grenze, die es nicht mehr gab, wurde kurz vor Nordhausen überquert. Bis dahin brauchte ich regelmäßig ca. 1 ½ Stunden. In Nordhausen stand dann das Schild „F 80 – Halle 98 km“. Da die Fahrt von nun an über Landstaße ging, waren für diese minimale Strecke 2 Stunden angesagt. Ich fuhr vorbei an allen möglichen Autowracks, die links und rechts neben der Straße lagen. Riesige Schutt- und Müllberge zierten den Straßenrand. Diejenigen, die vermeinten, schneller als 100 fahren zu müssen, machten die Landstraße zur Autobahn und überholten an den unmöglichsten Stellen mit atemberaubenden Geschwindigkeiten. Das Ergebnis konnte man dann in den Zeitungen nachlesen. Ich machte aus der Not eine Tugend und machte die Fahrt zu einem touristischen Erlebnis. Ich frühstückte in der HO-Gaststätte Kelbra ein schönes ostdeutsches Rührei mit Schinken plus Café, genoß bei der Weiterfahrt den schönen Blick auf den Kyffhäuser und staunte über die Ausschilderung in Sangerhausen in Richtung Rosengarten. Die hatten sogar touristische Sehenswürdigkeiten! In Halle angekommen war der erste Treffpunkt um 9.oo h – im Osten ging immer alles sehr früh los – im Gebäude der SVK am Hauptbahnhof. Ich wurde dort von dem AOK Gesandten W. begrüßt. Es handelte sich um den ehemaligen Geschäftsführer einer AOK, der mit seinen 68 Jahren noch einmal eine nützliche Aufgabe für sich gefunden hatte. Er verteilte aus einem Wohnwagen heraus Informationsblätter über die Krankenversicherung im vereinten Deutschland. Dieser machte mich im Gebäude der SVK mit dem Bezirksdirektor, der sogar ein Mann war, bekannt. Es handelte sich um einen gut genährten Hünen, der inmitten von ca. 100 Frauen der Einrichtung vorstand. Dieser empfing mich in einem Raum, der mit Wohnzimmerschrank, Schreibtisch und Sitzgruppe ausgestattet war. Für W., ihn und mich standen Cognacgläser bereit. Als erstes mußten wir zur Begrüßung ein weinbrandartiges Getränk zu uns nehmen. Nachdem wir alle von innen aufgewärmt waren kam eine Dame herein, die ein Tablett mit belegten Brötchen – richtig dick mit Wurst und Käse – herein brachte. Beim Verzehren dieser äußerst fetten Brötchenhälften überlegten wir, wie wir die Gesundheitskasse und das AOK System in Halle/Saale bekannt machen wollten.
Nach diesem Sondierungsgespräch fuhr ich wieder knappe 4 Stunden zurück nach Hannover.
Einige Tage später kam dann das offizielle O. K. vom AOK-Bundesverband und die Ankündigung, daß ich mit entsprechender Vollmacht seitens der noch existierenden DDR-Behörden ausgestattet werden würde.
Ich packte meine Sachen und fuhr wieder Richtung Halle. Der Bezirksdirektor hatte für die Anfangszeit ein Zimmer für mich im Hotel „Rotes Ross“ reserviert, das mitten in der Innenstadt in der Nähe des Kinos lag. Das Kino hatte einen einzigen riesigen Saal und spielte Filme, die aktuell waren. Ich merkte mir einen Besuch vor. Dieser fand dann auch statt. Dem Schild an der Kasse „Heute nicht geheizt“ schenkte ich nicht die notwendige Beachtung. Die Bedeutung des Schildes wurde mir erst während des Filmes klar, als die Temperatur im Kino während des Films auf ca. 13 Grad absackte.
Im Roten Ross wurde mir beim Bier ein Herr A. vorgestellt. Dieser sei mir zu Seite gestellt und sollte mich unterstützen. A. war Landesprüfer bei der LVA und war mir bekannt. Ich war einmal mit ihm und seinem Porsche 924 von Hildesheim nach Hannover mitgefahren.
Am nächsten Tag liefen A. und ich aufgrund einer Vermittlung des Bezirksdirektors in das Gebäude Robert-Franz-Ring in Halle. Zwischenzeitlich hatte ich auch ein Schreiben vom Ministerrat der DDR, Prof. Kleditzsch, erhalten, in dem ich als Errichtungsbeauftragter der AOK Halle/Saale eingesetzt wurde. An der Eingangstür des Bauhausgebäudes begrüßte uns ein Herr in einer Uniform der NVA in Reiterhosen mit hohen Stiefeln und stellte sich als Generalmajor vor. Mir blieb die Luft weg, weil ich in meinem ganzen Leben noch nie einen Generalmajor gesehen hatte. Dieser führte uns durch das komplett leergeräumte Gebäude. Die ehemalige wirklich schöne Schalterhalle war mit Holzverschlägen umgebaut, mit deren Hilfe die riesige Halle nun in mehrere kleine Räume unterteilt war. Ganz stolz zeigte er uns den Filmvorführraum, in dem die NVA Lehrfilme vorführte. An den Wänden hingen noch Dienstanweisungen, neben den Türen hingen kleine Holzkäsen mit einem Glaseinschub, in denen jeweils Schlüssel hingen. An den Türen war eine Art Kaugummi mit einem Bindfaden angebracht. Ich staunte und fragte, was das denn sei. Das ist zum Siegeln, antwortete er. Jeden Abend ging ein Mitarbeiter durch das Haus, schloß sämtliche Türen zu, drückte den Bindfaden in die kaugummiartige Masse und drückte einen Siegel darauf. So konnte man am nächsten Morgen sehen, ob die Tür widerrechtlich geöffnet wurde oder nicht. Alsdann wurden wir den 4 mächtigsten Männern des Hauses vorgestellt, 4 kräftige Herren im Blaumann – die Heizer! Staunend vernahmen wir von deren Berufung und gingen durch ein Gewölbe, in dem eine riesige Kohleheizanlage untergebracht war. Die 4 hatten nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag und auch nachts die Anlage mit Kohle zu versorgen und die sonstige Wartung vorzunehmen. Es kam aber noch besser: In einem ca. 40 qm großen Raum stand ein technisches Monstrum, das ständig Geräusche von sich gab. Es knackte häufig und roch irgendwie verbrannt. Das ganze Haus roch übrigens DDR-typisch nach einem bestimmten Desinfektionsmittel, nach dem in der DDR die gesamten öffentlichen Gebäude rochen. Bei dem technischen Monstrum handelte es sich um die Telefonanlage, vermittels derer man innerhalb der DDR telefonieren konnte. Westgespräche waren nicht vorgesehen. Diese gelangen nur nach mindestens 30-minütigen Versuchen und mit sehr viel Geduld. Meistens auch erst nach 18.oo h. Wir beendeten den Rundgang durch das ausgeräumte Gebäude und der Generalmajor verabschiedete sich. Er schimpfte vorher noch, daß er jetzt gar nicht wüßte, was er nun machen solle. Die Bundeswehr wolle ihn nicht übernehmen, die NVA sei aufgelöst, was anderes habe er nicht gelernt. Uns blieb nur zu sagen „Kopf hoch, es wird sich schon was finden“, dann waren er und wir auf uns allein gestellt.
Da waren wir nun in dem komplett leeren Gebäude. Wie sollten wir dort arbeiten ohne Stühle, Tische, Telefon, Computer? Langsam ahnte ich, was auf mich zukam. A. sagte, er könne seinen Laptop nirgendwo hinstellen, wir bräuchten einen Tisch und einen Stuhl. Ich sagte zu ihm, das ist richtig, aber womit sollen wir das bezahlen? Als Antwort erhielt ich die Aussage, da ich ja der Errichtungsbeauftragte sei, sei das ja nun meine Sache.
Die erste Bank, die ich in Halle sah, war eine Bank, die in mehreren Baucontainern ihre Dienstleistung anbot. Oben auf dem Baucontainer war eine Satellitenschüssel angebracht, die nach meiner Schätzung einen Durchmesser von mindestens 2 m hatte. Die Einrichtung sah aus wie eine Abhöranlage der Amerikaner. Daran stand „Dresdner Bank“. Ich ging in einen der Container, in dem und vor dem gewaltige Menschenschlangen standen und fragte, ob ich den Bankdirektor sprechen könne. Da es in dem Container keine Unterteilung bis auf den Kundentresen gab, kam dieser sogleich von seinem Schreibtisch auf mich zu und fragte nach meinem Begehr. Ich gab ihm eine Kopie meiner Bestellung als Errichtungsbeauftragter und sagte, die AOK Halle bräuchte ein Konto und dieses wollte ich gern einrichten. Gesagt – getan. Am Ende des Gesprächs klagte ich ihm mein Leid, daß ich die AOK aufbauen soll, vom AOK Bundesverband noch kein Geld geflossen sei und ich überhaupt keine Einrichtungsgegenstände einkaufen könne. Der Bankdirektor sah mich kurz von der Seite an und meinte dann: Reichen 200.000? Ich sagte: Wie? Er sagte, ein Dispo von 200.000,00 DM sei kein Problem und ich könne ab sofort darüber verfügen. Diese Verhaltensweise fand ich
o. k., ging zu A. und sagte zu ihm „wir sind jetzt flüssig“.
Wir gingen daraufhin in ein Einrichtungshaus am Marktplatz von Halle. Dort stand im Fenster eine schicke braune Kunstledergarnitur. 3-Sitzer, 2-Sitzer, 1 Sessel mit entsprechendem Tisch. Wir kamen überein, daß wir bei Besitz einer solchen Garnitur zum einen sitzen könnten, mit dieser Garnitur aber auch die notwendigen Einstellungsgespräche vornehmen könnten. Sie sollte überdies lediglich 1.550,-- DM kosten. Wir gingen hinein und fragten, ob wir diese auf Rechnung zu Lasten der AOK Halle kaufen könnten. Ich zeigte mein Bestellungsschreiben. Der Inhaber stimmte zu. A. und ich nahmen gleich das 2-sitzige Element mit und trugen es zur AOK. So konnten wir zum ersten Mal in dem Gebäude sitzen. Die restlichen Teile wurden dann geliefert.
Am Wochenende wieder in Hannover angekommen, ging die Arbeit weiter. A. hatte seine Beziehungen spielen lassen und erst einmal 20 Laptops geordert. Durch den Tip eines mir bekannten Rechtsanwaltes ging ich in ein Geschäft, in dem es noch tragbare Telefone gab. Aufgrund der Nachfrage waren diese ohne Beziehungen kaum zu finden. Ich kaufte ein C-Netz Telefon, das so groß war wie ein Koffer, mit Antenne, Autostromversorgung und Akku für knappe 10.000,00 DM auf Rechnung AOK Halle.
In Gehrden bei Hannover hatten wir einen Bekannten, der ein VW Autohaus betrieb. Diesen hatten wir über unsere Kinder kennengelernt. Mir ist er deswegen aufgefallen, weil er infolge des morgendlichen Rauchens von Haschisch oder Marihuana völlig verwässerte Augen hatte. Er sah so aus, als wollte er jeden Moment ins Koma fallen. Er fiel weiter deswegen auf, weil die Mutter seiner Kinder eine verblüffende Ähnlichkeit mit Isabel Adjani hatte.
Ende 1990 hatten unsere ostdeutschen Mitbürger infolge Nachholebedarfs den Automarkt europaweit nahezu leergefegt. Für meine Fahrten nach Halle und auch dort brauchte ich ein Auto. Der Autohändler sagte mir, daß er keine gebrauchten Autos mehr hätte. Die neuen seien auch alle weg und andere neue hätten Lieferzeit. Das einzige was er hätte, wäre ein alter Campingbus mit Hochdach mit einer 90 PS Maschine, den niemand wolle. Aber: Er könne mir den Bus umbauen zum rollenden Büro, C-Netz-Telefon mit Booster, Arbeitstisch und Arbeitsbank. Bevor ich gar nichts bekam, gab ich das Auto nach seinen Vorschlägen in Auftrag. 1 Woche später war es fertig und ich konnte es für ca. 9.000,00 DM übernehmen.
Der Clou an dem Auto war, daß es von außen mit einem riesigen AOK Logo versehen war und auch die Adresse der AOK Halle an ihm prangte. So wurde dem Hannoveraner gut sichtbar vor Augen geführt, daß sich im Osten etwas tat.
Da meine Frau wegen unserer vielen Kinder unseren Opel Kadett brauchte, benutzte ich jetzt immer den VW-Bus für meine Fahrten nach Halle und auch dort für Dienstfahren. Aufgrund der etwas besseren Motorisierung fuhr der VW-Bus so schnell, daß bei bestimmten Geschwindigkeiten der Wagen die Ohren anlegte – sprich: Die Spiegel wurden durch den Luftdruck direkt an den Wagen gedrückt, so daß die Sicht nach hinten erst einmal beendet war. Insoweit erzog das Auto den Fahrer zu einem moderaten Fahrstil. Gedacht war das auffällige Fahrzeug letzlich für die Marketing-Abteilung.
Aber so weit war es noch nicht.
Als erste AOK in den neuen Bundesländern gab ich nach Absprache mit der Unternehmensberaterin R., bei der ich mehrere Lehrgänge besucht hatte und die indirekt für die im AOK Landesverband nicht gelittenen Verbesserungsvorschläge verantwortlich war, 2 großformatige Stellenanzeigen in der FAZ am Samstag auf.
Innerhalb des AOK-Systemes kam es zu einem Aufschrei, da wir neben Sozialversicherungsfachangestellten auch Hochschulabsolventen suchten. Diese wurden zu dieser Zeit noch als systemfremde Störer betrachtet. Betriebs- und Volkswirte, Gesundheitswissenschaftler und Juristen wurden erst später vom System akzeptiert.
Alsdann kam ich mit der Unternehmensberaterin überein, daß wir für die zu besetzenden Stellen grundsätzliche Stellenbeschreibungen anfertigen und dann nach den Anforderungen der Stelle die Besetzungen vornehmen wollen. Die Bewerbungsgespräche wollten wir zusammen durchführen. A. hatte zwischenzeitlich ausgerechnet, daß bei einer Mitgliederzahl von 1,5 Mio. Versicherten ca. 1.700 Mitarbeiter unterschiedlichster Couleur erforderlich seien. Zwischenzeitlich wurde mein Blick auch etwas erweitert. Zum Kassenbezirk Halle gehörte auch das Umland. Dort waren alle möglichen Niederlassungen der SV mit entsprechenden Bezirksdirektoren und -direktorinnen. Der Bezirk der AOK Halle war zu meinem Erstaunen ziemlich groß. Oben gehörte Dessau mit einem wunderschönen Bauhausgebäude dazu, dann Städte wie Bernburg, Gräfenhainichen, Hettstedt, Hohenmöhlsen, Köthen, Querfurt und Weißenfels.
Überall war ein gleiches Auftreten gefordert, sämtliche Gebäude mußten restauriert werden. Alle Gebäude waren mit EDV, Möbeln und Literatur auszustatten. Dazu brauchten wir vernünftiges Personal und Leute, die Kenntnisse hatten und auf die man sich verlassen konnte.
A. und die Unternehmensberaterin erarbeiteten ein vorläufiges Organigramm. Wir entschieden uns für eine zentrale Steuerung von Halle aus. Alle Schlüsselabteilungen sollten in Halle sein, die Geschäftsstellen sollten wie Satelliten mit der Zentrale verbunden werden und das know how sollte in der Zentrale gebündelt werden. Aufgrund der Größe sollten die Abteilungsleiter oder -innen führungserfahren sein und auch Sachkenntnis vorweisen. Wir gingen davon aus, daß sämtliche Mitarbeiter einer Intensivschulung unterzogen werden mußten, da den Einheimischen das westdeutsche System mit den dazugehörigen gesetzlichen Regeln total unbekannt war. Mit Unverständnis wurde aufgenommen, daß die Polikliniken geschlossen werden sollten und daß es die Pille nicht mehr auf Krankenschein gab.
Als erstes hatten wir uns vorgenommen, die einzelnen Bezirksdirektoren in Augenschein zu nehmen mit dem Ziel, festzustellen, ob es sich um sog. rote Socken oder um Sozialversicherungsexperten handelt.
Jeder Bezirksdirektor als auch jede Bezirksdirektorin mußten sich um ihre Stelle bewerben. Wir sahen Sie sämtlich an und sprachen mit allen ausführlich. Die Gespräche fanden in einem kleinen Zimmer in der AOK Halle statt, das völlig überheizt war und dessen Heizung sich schlicht nicht regulieren ließ. Je wärmer es wurde, umsomehr roch der Raum nach dem DDR-typischen Desinfektionsmittel. Die Wärmeregulierung mußte wie in DDR-Zeiten über das Öffnen und Schließen des Fensters vorgenommen werden. Wir lernten eine Vielzahl von interessanten und sympathischen Direktoren und Direktorinnen kennen. 2 konnten wir nicht übernehmen, da diese lediglich wegen ihres Parteibuches an Ort und Stelle saßen. Der Rest wurde, wie es damals hieß, „geschult“.
Zwischenzeitlich hatten sich einige Veränderungen ergeben. Unser Errichtungsteam war durch Entsendungen, Abordnungen und Einstellungen zwischenzeitlich auf annähernd 60 Personen angeschwollen. Diese hatten natürlich auch mal das Bedürfnis, eine Mahlzeit einzunehmen. Das Einkaufen von Frühstücksbrötchen war nur Leuten vorbehalten, die auch über einen Doktortitel verfügten: Es gab aus meiner Sicht in Halle nur 2 Bäcker und beim Brötchenholen mußte man sich ca. 1 bis 2 Stunden anstellen. Das war freilich nicht meine Welt. Eines Tages kam eine Dame in mein Arbeitszimmer, ca. 50 Jahre alt, und fragte, ob ich nicht jemanden bräuchte, der für die Verköstigung verantwortlich sei. Sie sei Köchin und habe derzeit keine Arbeit und würde aber zum Zwecke des Bestreitens des Lebensunterhaltes eine solche suchen.
Die Dame kam wie gerufen, wurde in Unkenntnis jeglicher Regeln des BAT mit 1.500,-- DM brutto eingestellt und war fortan verantwortlich für das Vorbereiten des Frühstücks und für belegte Brötchen zu Mittag. Die Dame wurde im Ergebnis Leiterin des Sitzungsdienstes. Zur Vermeidung von Jagdwurst, Salami-, Käse und Schinkenbrötchen zum Frühstück gab es extra eine Anweisung, daß die Wessis morgens gern Marmelade essen würden. Also gab es morgens Marmeladenbrötchen, jeweils daumendick mit Butter und Marmelade.
Aus Kostengründen war ich vom Roten Ross in eine Privatwohnung in die Otto-Grotewohl-Straße gezogen. Gegen die Adresse hatte ich nichts einzuwenden, da Otto Grotewohl schließlich einmal bei der AOK Braunschweig gearbeitet hatte. Ich war Untermieter eines mir völlig unbekannten Menschen, der in den Westen gegangen war. Die Wohnung war möbliert und der Einzug kam über die Vermittlung einer Mitarbeiterin des Hallenser Bezirksdirektors zustande. Die Dusche hat mich sehr beeindruckt: Sie war nicht gefliest, man duschte auf nackter Wand. Diese war lediglich kurz übergeputzt, die darunter liegenden Steine konnte man sehen. Die Dusche war nur zu benutzen, wenn am Waschbecken an dem vorhandenen Plastikwasserhahn ein Hebel umgelegt wurde. Diese Technik versetzte mich in Staunen aber immerhin, ich konnte duschen.
Mittlerweile hatte ich mich auch an den Gestank gewöhnt. Durch die Trabbis, andere Zweitakter und die Kohleheizung roch es inder ganzen Stadt irgenwie merkwürdig. Durch das nahe gelegene Buna Werk in Merseburg gab es auch einen gewissen Staubflug der dazu führte, daß die Autos morgens so aussahen, als hätte es geschneit. Dieses regte die Unternehmensberaterin unheimlich auf. Sie war mit ihrem neuen Mercedes 190 E in einem Hotel in Merseburg untergebracht und konnte den nächtlichen Nieselregen an Staub und anderen Immissionen jeden Morgen live an ihrem Mercedes wiederfinden.
Neben dem Geruch und dem Staub kam noch hinzu, daß die Kommunikation doch etwas eingeschränkt war. Ich hatte häufiger das Bedürfnis, meine Ehefrau telefonisch zu kontaktieren. Dieses war mit dem Festnetz unmöglich, da Leitungen in den Westen immer besetzt waren. In Halle selbst ging die grüne Lampe des C-Netz-Telefones immer aus was bedeutete, daß das arme Ding keinen Empfang hatte. Ich mußte zum Zwecke des Telefonierens immer abends gegen 22.oo h Richtung Lutherstadt Eilsleben fahren. Kurz davor ist eine relativ enge Kurve auf einem Berg mit einer Parkmöglichkeit. Dort signalisierte das Telefon Empfang. Eine Kommunikation war somit nur dann möglich, wenn man Opfer dafür brachte.
Die Unternehmensberaterin und ich saßen gerade in einem Bewerbungsgespräch. Zwischenzeitlich hatte ich auch eine Sekretärin, die die Organisation der Termine, die Besprechungen mit den Bezirksdirektoren, die jetzt Geschäftsstellenleiter hießen, organisierte, die den Rundschreibenversand organisierte und kurzum die typische Sekretärinnenarbeit verrichtete. Es handelte sich um eine äußerst gut aussehende Dame die mich dadurch verblüffte, daß sie abends immer von einem dicklichen Herren im Blaumann abgeholt wurde, der so aussah, als käme er gerade von einem Ölwechsel. Solche Kombinationen waren im Osten ziemlich häufig anzutreffen; sie sollten sich im Laufe der Nachwendezeit nach meinen Informationen öfter einmal ändern. Diese gutausehende und zu allem Überfluß auch noch gut gekleidete Dame kam plötzlich herein und rief: „Es ist etwas wichtiges passiert“ und holte mich aus dem Gespräch heraus. Sie teilte mir mit, daß am Nachmittag unangemeldet eine Kommission des Vorstandes des AOK Landesverbandes zur Kontrolle kommen würde. Wie ja jedermann weis, wurde damals neben der hauptamtlichen Geschäftsführung die AOK von einem ehrenamtlichen Vorstand geführt. Dieser setzt sich paritätisch aus gewählten Mitgliedern von seiten der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer zusammen. Im Gegensatz zu den hauptamtlich Beschäftigten wissen manche von ihnen nur mit dem Zusammenraffen des gesamten intellektuellen Potentials, was eine Krankenkasse überhaupt macht. Ich wunderte mich und fragte die Sekretärin, was den die Herren kontrollieren wollten? Wir wären doch erst am Anfang. Einige Büros waren zwar schon eingerichtet, einige Mitarbeiter hatten ihren Dienst aufgenommen, die Kommunikation zwischen der Zentrale und den Geschäftsstellen war im Aufbau und begann zu funktionen, was sollte da wohl kontrolliert werden?
„Es geht um das weiße Ledersofa“ sagte sie. Was für ein weißes Ledersofa? Im AOK Landesverband ging jedenfalls aus welchen Gründen auch immer das Gerücht umher, daß der Errichtungsbeauftragte ausgeflippt sei und ein weißes Ledersofa gekauft habe, auf dem er residiere. Dieses habe er sich zuhause nicht leisten können, deswegen habe der das auf Kassenkosten, also aus dem Fundus der Beiträge der Mitglieder, gekauft und somit Kassengelder zu Unrecht ausgegeben. Ich staunte, weil im gesamten Hause kein weißes Ledersofa aufzufinden war.
Ich ahnte allerdings, daß womöglich die von A. und mir erworbene und teilweise eigenhändig in die AOK getragene Sitzgruppe aus braunem Kunstleder gemeint sein könnte.
Es erschien dann eine 4-köpfige Vorstandsdelegation in Begleitung des stellvertretenden Geschäftsführers des AOK-Landesverbandes. Alle sorgten sich um den Lack ihrer Fahrzeuge. Von Merseburg herüberkommend waren regelmäßig weiße Schwaden aus Asche auszumachen, die sich wie Schnee auf den Lack sämtlicher Fahrzeuge legten. Nachdem wir die Herren beruhigt hatten, daß nämlich der weiße Schnee den Lack nicht verätzen würde, sahen sie sich im Gebäude um. Wir zeigten stolz unser braunes Kunstledersofa. Als auch ein weiterer Rundgang im Hause kein weißes Ledersofa zu Tage brachte und den Herren der Geruch des DDR-Infektionsmittels in der Nase zu Beschwerden führte, stärkten sie sich erst einmal mit den üblichen belegten Brötchen.
Dann war der Besuch beendet, das weiße Ledersofa war vom Tisch.
Wir wandten uns wieder unseren Alltagsaufgaben zu. Das waren regelmäßig Einstellungsgespräche mit dem Ziel, die einzelnen Abteilungen mit Leben zu erfüllen.
Dazu kamen die regelmäßigen Besprechungen mit den Außenstellen, da die AOK Halle ja aus einer Vielzahl von Niederlassungen bestand.
Hinzu kamen auch noch eine Vielzahl von Veranstaltungen, in denen den ehemals SV-Angehörigen das neue Sozialversicherungssystem näher gebracht werden mußte.
Ein kleines Problem waren die Treffen mit dem Koordinierungsteam in Berlin. Vor einer Dienstreise mußte immer das Auto aufgetankt werden. Der Fahrer Otto S. verabschiedete sich morgens dann mit den Worten „Ich fahre tanken“. Ab und zu fragte ich gegen 16.oo h dann mal nach, wo denn der Fahrer geblieben sei. Als Antwort erhielt ich, daß dieser nach wie vor Tanken war. In Halle gab es zu dieser Zeit ein oder 2 Tankstellen mit der Folge, daß einmal Volltanken regelmäßig 6- bis 8 Stunden dauerte.
Mittlerweile war auch ein Justitiar eingestellt. Ein junger Mann, der sich im aufblühenden Teil Deutschlands seine Sporen verdienen wollte. Eines schönen Arbeitstages verließ er mit einer Akte sein Büro, um irgendetwas dienstliches zu erledigen. Ich stand zufällig auf dem Flur und konnte folgendes beobachten: Da die AOK-Mitarbeiter überwiegend aus Frauen bestanden, konkurrierten diese untereinander dahingehend, daß jede besser aussehen wollte als ihre Kollegin. So begab es sich, daß eine Mitarbeiterin, bekleidet mit einer durchsichtigen Bluse ohne etwas darunter zu tragen, dienstlich genau in dem Moment über den Gang ging, wie auch der Justitiar. Geblendet durch diesen Anblick vergaß der Justitiar, daß auf dem Gang auch Pfeiler zum Zwecke der Stützung des Gebäudes vorhanden waren. Es gab ein leichtes dunkles Geräusch, der Justitiar prallte ob des ihm sich eröffnenden Anblicks gegen einen Pfeiler und hatte für 2 Tage eine relativ große Beule an der Stirn. Dieses sind die Begebenheiten, wenn Ablenkungen während der Dienstzeit auftreten. Solche Umstände sind auch geeignet, die Existenz einer Berufsgenossenschaft zum Behufe der Absicherung gegen Arbeitsunfälle zu rechtfertigen.
Zu den Aufgaben meiner Sekretärin gehörte die gesamte Terminplanung, die Korrespondenz mit den Bezirksdirektoren und das Verfassen von Rundschreiben. Zu ihren Aufgaben gehörte auch die Bewirtung der Gäste und ab und zu das Kochen von Café, damit bei mir zum Zwecke des Verrichtens der Arbeit keine Müdigkeit aufkam. Eines schönen Tages erhielten wir wieder einen Scheck über 2 Mio. DM vom AOK Bundesverband, damit wir unsere Aufgaben erfüllen konnten. Ich sagte der Sekretärin, sie möge den Scheck bei der Bank einreichen und alsdann Café kochen. Ich mußte dann im Hause irgend etwas erledigen und kam nach einer halben Stunde zurück. Ich staunte nicht schlecht, als ich mein Büro völlig offen sah, die Sekretärin weit und breit nicht zu sehen war und der Scheck gut sichtbar auf ihrem Schreibtisch lag. Ich habe mir das dann im Nachhinein so erklärt, daß Schecks in der DDR aufgrund der nicht vorhandenen Kaufkraft der Mark der DDR nicht als wertvoll galten. Die Sekretärin hatte sich entschlossen, zuerst den Café zu kochen und dann den Scheck einzureichen. Ich frage mich noch heute, was wohl passiert wäre, wenn irgendein Unhold den Scheck genommen hätte und auf seinem Konto eingereicht hätte. Wahrscheinlich hätte man gedacht, ich hätte mich daran bereichern wollen. Im Ergebnis wurde der Scheck eingereicht; die Sekretärin wurde in die Bibliothek versetzt. Dort kamen nie Schecks an.
Nachdem mein viertes Kind in Form meines dritten Sohnes geboren wurde, hatte ich zum Zwecke des Anstoßens auf dieses freudige Ereignis vom Flughafen Hannover, dort aus der Ringeltaube, den dort günstig zu erwerbenden Mumm Sekt mitgebracht. Für einen passenden Moment lagerte die Kiste in meinem Büro.
Für den Abend war ein Presseempfang geplant. Auf diesem Empfang sollte wieder über den Stand der Aufbauarbeit und die Segnungen des krankenversicherungsrechtlichen Sozialstaates gesprochen werden. Ich war des Fleisch Essens müde und hatte einen Marketingmitarbeiter gebeten, für diesen Empfang „etwas fischiges“ zu besorgen. Denkbar ist, daß ich auch gesagt habe „vielleicht ist etwas Krustentier dabei“.
Auf einem Seminar unserer Unternehmensberaterin hatte ich gelernt, daß man sich als Veranstaltungsleiter ungefähr eine Stunde vor Beginn des Tagungsraum noch einmal anschauen sollte, um Überraschungen zu vermeiden. Ich ging also vorher in den Raum und staunte nicht schlecht: Ich hatte schon die verschiedensten Krustentiere, Langusten als auch Hummer in Frankreich gesehen. Aber diese 6 Hummer, die in der Mitte des Tisches standen, wiesen eine Größe auf, wie ich sie noch nie vorher gesehen hatte. Ich dachte, wenn das die Presse sieht, berichten diese nicht über den Aufbau der AOK, sondern über eine exaltierte Lebensweise der Raubritter aus dem Westen. Mit Hilfe einer Mitarbeiterin dekorierte ich den Tisch um und verstaute die 6 riesigen Hummer in einem gerade neu eingebauten Büroschrank. Die Pressekonferenz verlief dann planungsgemäß. Eine kleine Ausnahme vielleicht. Nach dem Ende des offiziellen Teiles saß ich noch mit einer Redakteurin der Bild-Zeitung zusammen. Ihr schilderte ich mein Leid, ohne an Böses zu denken: Ich teilte ihr mit, daß ich während der Woche ab und zu Heißhunger auf etwas Süßes habe. So hätte ich den einen Tag einen unbändigen Appetit auf Marzipan von Niederegger aus Lübeck gehabt. Da ich mich nicht auskannte, bin ich mit dem Fahrer von Geschäft zu Geschäft gefahren. Ich meine, wir haben dann kleinere Marzipanbrote, die aber schon ziemlich alt waren, in dem einzigen Kaufhaus von Halle gefunden. Am nächsten Tag stand prompt ein riesiger Artikel in der Bildzeitung „M. suchte Marzipan“.
Was lernt man daraus? Auf Pressekonferenzen sollte man nur das mitteilen, was offiziell und unverfänglich ist.
Nach dem Ende der Pressekonferenz mußte dann das Problem mit den 6 Hummern gelöst werden. In der Abteilungsleiterrunde wurden diese dann zusammen mit dem Lufthansa Sekt zur Feier des neugeborenen Sohnes vor dem Verderben bewahrt.
Die AOK Halle/Saale nahm pünktlich mit Beginn des Jahres 1991 ihre Tätigkeit auf.
Der Beginn wurde mit einem Neujahrsempfang im Beisein des sachsen-anhaltinischen Sozialministers feierlich begangen.
Wir konnten uns alle glücklich schätzen, denn bei einem Treffen mit dem damaligen Sozialminister Blüm in Finsterwalde wurden die Errichtungsbeauftragten der AOK in den von sozialistischer Herrschaft und russischer Besatzung befreiten Bundesländern sämtlich als „Vorreiter des Sozialstaats“ bezeichnet.
Zum Verfasser:
Helmut Markgraf ging nach dem Aufbau der AOK Halle/Saale wieder zurück nach Hannover. 2 Jahre später begann er eine Tätigkeit bei der AOK Magdeburg und war im Anschluß als Fachanwalt für Sozialrecht in Leipzig tätig. Derzeit ist er Justitiar bei einer mittelständischen Firma in Leipzig, die im Gesundheitssektor tätig ist.