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Hotel Du Nord
Das verwaschene Gelb einer einsamen Straßenlaterne beleuchtet das Kopfsteinpflaster. Eine noch einsamere Dame der Nacht wartet in ihrer Nähe auf Kundschaft. Sie steht im Halbschatten der Lampe. Gut genug beleuchtet, dass die Freier sehen können, wieso sie da steht. Allerdings auch nicht zu nah am Licht, denn das ist kein Freund von billiger Schminke, schlechten Toupets und wässrigen Augen. Mein Blick schweift ab von Rosie. Rosie, die wie immer an der Laterne steht, die wie immer einen Rock trägt, der kürzer ist als erlaubt, und die wie immer eine Zigarette nach der anderen raucht. Der Mond spiegelt sich im Kanal, der unter dem Fenster vorbeifließt, eigentlich aber steht. Er steht und modert bis zu dem Fenster rauf, aus dem ich mich rauchend lehne. Nur selten kommt um diese Uhrzeit ein Auto vorbei. Die Bewohner in den einstmals schönen, aber heruntergekommenen Häusern schlafen bereits fest. Schön ist in dieser Gegend höchstens in einem relativen Sinn. Nicht schön wie die Architektur auf den großen Boulevards, nahe der Oper, im 16. Oder in St. Germain. Es ist eher der kleinbürgerliche Frieden, der von den weiß gespachtelten Fassaden ausgeht. Frieden, der sich für ein paar ruhige Nachtstunden über das Viertel legt. Keine Marktweiber, die sich anschreien, der fettige Schnellimbiss geschlossen und die Autos am Straßenrand geparkt. Die Kleinhändler, Arbeiter, Putzfrauen, Müllmänner und Friseusen schlafen. Auf den Straßen treiben sich nur noch wenige Gestalten herum, die entweder nach Hause wollen oder deren Treiben die Kirche nicht toleriert. Die Besoffenen, die Geilen, die Ganoven. Alle, denen nie ein Platz zugeordnet wurde und die sich ihre Nischen gesucht haben.
Obwohl ich erst seit ein paar Wochen in der Stadt bin, weiß ich, dass der Kanal im Sommer mehr stinkt als im Winter.
Ein Fahrradfahrer kommt angefahren. Er wird langsamer, als er auf die Laterne zufährt. Im Schritttempo fährt er an Rosie vorbei, mustert sie und beschleunigt. Rosie hat heute kein Glück.
Eine Wolke hat den Mond verschluckt. Sie ist zu groß, um ihn bald wieder auszuspeien. Ich ziehe ein letztes Mal an meiner Zigarette, werfe sie aus dem ersten Stock auf die Straße und wende mich meinem Hotelzimmer zu. Am Holzstuhl vor dem kleinen Schreibtisch hängt mein Sakko, in dem ich noch weitere Zigaretten finde. Mit einem frischen Glimmstängel im Mund werfe ich mich auf die löchrige Tagesdecke.
Es ist nicht so, dass ich körperlich erschöpft wäre. Ich habe den ganzen Tag nur rumgelegen, geraucht, Bier getrunken und ab und zu für ein paar Minuten auf das leere Blatt in der Schreibmaschine gestarrt. Ich komme mir langsam lächerlich vor. Wie das billige Klischee einer Karikatur eines Klischees. Ich hole das Feuerzeug aus meiner Khakihose, gebe mir Feuer und inhaliere tief. Vor zwei Jahren hatte ich versucht, das Rauchen aufzugeben. Mein erster Schritt in die richtige Richtung war gewesen, auf Light-Zigaretten umzusteigen. Mit dem Ergebnis, dass ich zog wie ein Ertrinkender und dadurch vermutlich noch mehr Teer in meine Lungen beförderte. Irgendwann war ich wieder auf normale Zigaretten umgestiegen. Den starken Zug hatte ich beibehalten.
Da auch zwei weitere Zigaretten nicht die Erleuchtung gebracht haben, das Bier auf dem Nachttisch leer ist und meine Schreibblockade sich auch in den nächsten Stunden nicht auflösen wird, gehe ich runter in die Hotelbar, um mir noch einen Drink zu genehmigen.
Als ich in den holzgetäfelten Raum komme, sitzt Rosie an der abgewetzten Theke. Eine Theke, in die mehr Bier, Wein und verschütteter Schnaps geflossen sind, als eine Gruppe Matrosen auf Landgang vertragen könnte. An den Wänden südfranzösische Landschaften und romantische Buchten, gemalt in Öl und auf billigen Leinwänden. Außer Rosie ist nur noch ein Gewohnheitstrinker in der Bar, den ich vom Sehen her kenne. Vor sich hinstarrend, bestellt er einen Pastis nach dem anderen. Kurz überlege ich, ob ich ihn ansprechen soll. Doch ich lasse es sein. Ich setze mich, ohne Rosie anzusprechen, und bestelle ein Bier. Eigentlich eine Todsünde in einer Stadt, in der jeder, wenn nicht Pastis, immer und überall Wein trinkt und das Bier sowieso schmeckt wie abgestandene Pisse.
„Scheißnacht, was?“
„Weiß nicht. Bin froh, dass ich meine Ruhe habe.“
Kann ich verstehen. Manchmal ist es vermutlich besser, kein Geld zu haben, als es sich verdienen zu müssen.
„Findest du auch, dass der Kanal immer mehr stinkt?“
Rosie reagiert nicht auf meine letzte Frage. Sie sitzt nur da und schaut auf ihren Pastis. Der zu kurze Rock bedeckt nur in Ansätzen ihr Hinterteil. Ihre Beine sind noch straff und jugendlich. In der rechten Hand hält sie eine blaue Gitanes, die sie in einer gleichmäßigen Bewegung zum Mund führt.
„Scheiße, kannst du blöde Fragen stellen“, antwortet sie dann doch.
Sie schaut mich kurz an und lächelt. Es klingt grob, doch ich weiß, es war nicht so gemeint. Seit zwei Wochen unterhalten wir uns beinahe jeden Abend kurz an der Bar. Wir treffen uns immer, wenn sie eine Pause braucht und ich mal wieder eine Schreibblockade oder einfach nur Durst habe.
„Ja, stinkt er nun mehr oder nicht?“
Wieder erscheint ein Lächeln auf ihrem zu früh gealterten Gesicht. Sie kann keine zweiundzwanzig sein, doch wie sie mir erzählt hat, macht sie den Job bereits, seit sie siebzehn ist. Das hinterlässt Spuren.
„Was ist so komisch?“, frage ich.
„Du fragst immer so einen Scheiß.“
Sie dreht sich wieder zu mir, greift zu mir rüber, nimmt meine Bierflasche und trinkt sie in einem Schluck aus. Sieht wohl nach einer wirklich schlechten Nacht aus. Ich bestelle uns beiden noch einen Pastis, und wir trinken gemeinsam weiter. Keiner redet. Nur trinken. Und wir sind doch beide froh, nicht alleine sein zu müssen. Später geht sie wieder zu ihrer verdammten Laterne und ich zu meiner Schreibmaschine.