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Hosenknöpfe

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12.02.2004
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Hosenknöpfe

Bertrams Großvater war ein zahnloses Relikt aus einer anderen Epoche und hatte die seltsame Eigenart, nie etwas wegzuwerfen. Er hauste in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit hohen Räumen, die vom Parkettboden bis zur Decke mit Büchern, Verpackungen, Dosen, Marmeladegläsern und jedem nur erdenklichen Trödel vollgestopft waren. Er führte ein gebücktes Leben in einer labyrinthischen Anlage aus schwankenden Regalen, und man musste sehr laut schreien, wenn man mit ihm kommunizieren wollte. Das war einer der Gründe, warum sein Enkel ihn eher ungern besuchte. Ein weiterer war, dass er ihn für jede Art von Botengängen missbrauchte, und ihm immer wieder dieselben Geschichten vorjammerte. Aber er gab ihm Geld. Bertram studierte Kunstgeschichte und arbeitete nicht. Mit anderen Worten: Er war chronisch pleite.
Die Besuche bei seinem Großvater waren ihm peinlich, und doch wiederholten sie sich in regelmäßigen Intervallen, so wie der Mond notgedrungen um die Erde kreist.

An diesem Vormittag begleitete ihn sein Freund Fredl, mit dem zusammen er den Studentischen Kulturverein leitete. Anschließend wollten sie ein Fest vorbereiten. Der Zweck des Studentischen Kulturvereins bestand darin, den allerbilligsten Alkohol in großen Mengen einzukaufen und ihn etwas teurer in ein möglichst zahlreiches Publikum zu füllen. Alkoholvergiftungen waren bei solchen Festen nicht selten, aber was wollte man erwarten, bei diesen Preisen?

„WIE GEHT ES DIR, OPA?“ schrie der abgerissene junge Kulturwissenschaftler dem Tattergreis ins Ohr, und war dabei in Gedanken schon bei der Vorbereitung des Fests.
„OPA!!!! ICH HABE DICH GEFRAGT...“
„DICH GEFRAGT, WIE ES DIR GEHT. VERSTEHST DU???“
Noch einmal brüllte er: „WIE GEHT ES DIR?“
Das vogelartige Gesicht des Alten machte einen Ruck in seine Richtung. Dann krächzte er: „Wer???“
Sein langhaariger Enkel schrie: „ICH MÖCHTE WISSEN, WIE ES DIR GEHT!“
Er Alte wandte sich beleidigt ab: „Ist das ein Grund, so zu schreien?“

Unterdessen untersuchte Fredl all die Regalwände voller Plunder, bis er auf etwas stieß, das sein lebhaftestes Interesse erregte: In einer windschiefen Regalwand lagen drei schwere Postsäcke, die gefüllt waren mit lauter völlig gleich aussehenden Hosenknöpfen. Fredl, der dickliche BWL-Student, griff hinein und machte ein Gesicht, als hätte er einen Schatz gefunden.

Im weiteren Verlauf des Besuchs lehnte der Greis alle Bitten um Geld hochmütig ab. Fredl fragte, ob er seinem Enkel dafür die Säcke mit den Knöpfen („DEN KNÖPFEN, VERSTEHEN SIE???“) geben wollte. Der Alte erzählte daraufhin, wie er in irgendwelchen Kriegswirren die Säcke mit ebendiesen Knöpfen erbeutet hatte.
Fredl schrie: „ICH GEBE IHNEN 100 EURO!“ Der Alte war einverstanden.
So kam der Vorstand des Studentischen Kulturvereins in den Besitz von etwa siebzig Kilo grünschimmernden Hosenknöpfen.

* * *

Diese Transaktion entsetzte Bertram so sehr, dass er eine zeitlang nicht fähig war zu sprechen, sondern nur stumm hinter Fredl hertrottete. Schwer bepackt wie die Maulesel gelangten sie eine Stunde später zu dessen WG-Zimmer. Jetzt endlich brummelte Bertram: „Das ist sicher das Blödeste, was du je getan hast! Wovon sollen wir jetzt Stoff kaufen? Sag mal, geht es dir noch gut? Wahrscheinlich bist du einfach durchgeknallt. Das soll es geben. Bitte sag mir, was zur Hölle wir mit diesen ganzen Scheiß Knöpfen tun sollen!“

Fredl versuchte, es ihm zu erklären: Bei ihren Festen verwendeten sie Biermarken, damit das Ausschenken schneller ging. Das Papier-und-Buch-Geschäft der Hochschülerschaft hatte etwas Ähnliches, nämlich Geschenksgutscheine, und last but not least kannten sie den Besitzer des Uni-Cafés gut. Außerdem gab es ein Ehepaar mit einer sehr alternativen Einstellung, das regelmäßig Bücherflohmärkte in den Uni-Gebäuden veranstaltete. Vielleicht konnte man sie dazu bringen, Hosenknöpfe an Zahlungs statt anzunehmen – vorausgesetzt, sie konnten damit Kaffee und Kuchen am Buffet bezahlen. Es war ein Dominoeffekt, oder wenn man so wollte ein Pilotenspiel; eigentlich aber doch kein Pilotenspiel, weil alle dabei gewannen. Vorausgesetzt, alle machten mit.

Bertram stammelte: „Du, ehrlich: Ich versteh das nicht!“
Fredl entgegnete: „Das macht nichts! Du bist zwar nicht der Hellste, aber ich brauche dich. Mach dir also keine Sorgen!“

Er kannte schließlich den Geldschöpfungsmultiplikator „m“ aus seinen Vorlesungen, und wusste, dass sich die Gesamtgeldmenge aus „m“ mal der Zentralbankgeldmenge ergab. So gesehen hatten sie nicht drei, sonder mindestens fünf Postsäcke zur Verfügung. – Vorausgesetzt, der Geldschöpfungsprozess funktionierte auch mit Hosenknöpfen, und es gelang ihnen, das neue Zahlungsmittel zu etablieren.

„Wir müssen es nur schaffen, allen einzureden, dass man jetzt auch mit Hosenknöpfen zahlen kann, und wir sind reich,“ sagte Fredl.

Es war leicht: Das Wort „reich“ genügte, um Bertram mit Begeisterung zu erfüllen. Er verstand nichts von Geld. Er hatte nur gern welches.
Also zogen sie einige Wochen lang los, um jeden zu überzeugen. Das Tolle daran war ja, dass es kein Risiko gab, weil sich der Studentische Kulturverein bereit erklärte, sämtliche Hosenknöpfe gegen richtiges Geld umzutauschen, und zwar zu einem Kurs der ÜBER der eigentlichen Kaufkraft des Hosenknopfs lag.

* * *

Die Zeit verging. Das neue Zahlungsmittel etablierte sich. Die Säcke wurden leerer. Bertram und Fredl trugen bald teure Kleidung und konnten es sich leisten, jeden Tag in einem feinen Restaurant zu essen, seit dieses Hosenknöpfe (nebst Bargeld, Visa und Master Card) als Zahlungsmittel akzeptierte.

Aber etwas stimmte nicht. Bertram hatte so ein Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. Wenn er über den Campus schlenderte, die Säcke voller Hosenknöpfe, und damit nur so zum Spaß laut klimperte, blieben alle im Umkreis von fünf Metern stehen wie vom Donner gerührt. Einmal hatte er irgendeinem Studenten eine Handvoll Hosenknöpfe gezeigt und gesagt: „Die bekommst du, wenn du mir die Schuhe schön sauber machst.“
Der Student hatte ihn angesehen wie einen Irren. Dann hatte er ein Taschentuch hervorgezogen und ihm die Schuhe mit viel Spucke gereinigt.
Eine Stunde später küsste ihn irgendein Mädchen für zwanzig Hosenknöpfe. Er fragte auch sie nur so zum Spaß, und nachher sagte er: „Um Gottes Willen! Es sind doch nur Hosenknöpfe...“
Sie antwortete gierig, in diesem Fall könne er ihr ja ruhig alle geben, die er bei sich hatte.

Es reichte!

Er traf Fredl in einer Schicki-Micki-Bar und sagte nur: „Ich steige aus!“
Noch am selben Tag legte er alle Ämter im Studentischen Kulturverein zurück, und gab anschließend eine Pressekonferenz. Alle Knöpfe die er noch hatte überließ er Fredl – gegen etwas Geld, denn auch er hatte jetzt ein Auto, eine Wohnung und eine verwöhnte Freundin.

In den nächsten Tagen erschienen Berichte in allen Wirtschaftsmagazinen. Alle Analysten waren sich darin einig, dass Bertrams Rückzug ein schwerer Fehler war.

* * *

Sie ahnten den Zusammenbruch nicht: Die Menge an Hosenknöpfen war bald nicht mehr ausreichend. Mangelnder Knopfumlauf führte dazu, dass immer mehr Händler aus dem System ausstiegen. Fredl musste Unmengen von Hosenknöpfen gegen Euro tauschen, und ganz am Ende hatte er Schulden und wusste nicht, wie er seine Rechnungen zahlen sollte. Jetzt spotteten alle über ihn, besonders die Professoren; auch jene, bei denen er sich noch vor einer Woche mit Hosenknöpfen milde Beurteilungen erkauft hatte.

Glücklicherweise musste er nicht Privatkonkurs anmelden, denn bald engagierte ihn ein internationaler Investmentfonds gegen ein sehr gutes Gehalt.

Und Bertram? Weil ihn das schlechte Gewissen plagte, besuchte er seinen Großvater. Aber der jagte ihn davon, und brach in zahnloses Geschrei aus: „Tritt bloß nicht über meine Schwelle, du Lump! Du und dein Freund, ihr habt mir mein Vermögen gestohlen, mir armen alten Mann!“
Dann schlug er die Tür zu und jammerte: „Da bin ich nun so lange Millionär gewesen und habe es nicht gewusst...“ und Tränen rannen über seine ausgezehrten Wangen.

Traurig verkroch er sich in seiner Wohnung, in der es unter anderem ein Dutzend Kisten voller völlig gleichartiger Murmeln gab. Er hatte sie in den Wirren irgendeines Krieges erbeutet und seither aufgehoben. Man wusste ja nie, wann man so etwas brauchen konnte...

 

Hallo Fritz,


an deiner Geschichte hat mir ausnehmend gut gefallen, dass sie in einem so munteren gut lesbaren Schreibstil geschrieben wurde. Sie liest sich in einem Stück runter. Gut gemacht.

Was mir auch gut gefällt, ist die hintersinnige Darstellung wie man durch Überzeugungskraft die Welt finanziell betrügt, wie manche Mechanismen sich verselbständigen, ohne dass man wie der Zauberlehrling in der Lage wäre den "Besen" zu bremsen, der am Ende nur noch Unheil anrichtet und nicht zu vergessen die vielen kleinen versteckten und nicht in den Plotvordergrund stehenden Verhaltensweisen von Menschen, die für Geld alles machen oder sich machen lassen. Da sind jede Menge Seitenhiebe in deinem Text enthalten.

Da ich aus dem Lager derjenigen komme, die eine heftige zynische, aber zumindestens höchst sarkastische Satire lieben, befindest du dich mit dieser seicht ironischen Darstellung nicht so ganz auf meiner Favoritenliste.

Ich finde aber, dass du eine feine, hintersinnige saubere Satire hingelegt hast und Geschmäcker sind nun mal verschieden.

Lieben Gruß
lakita

 

Hallo Elvira,

so ist es.

Lieben Gruß zurück,

Fritz

 

hello Fritz,

endlich habe ich begriffen, wie Wirtschaft funktioniert! Da hast Du eine feine Geschichte abgeliefert - für eine Satire allerdings beinahe eine Spur zu zahm.

'Die Besuche bei seinem Großvater waren ihm peinlich, und doch wiederholten sie sich in regelmäßigen Intervallen, so wie der Mond notgedrungen um die Erde kreist.' - Das tut der Mond etwa täglich. Hat er seinen Großvater jeden Tag besucht? ;-)

Viele Grüße vom gox

 

Lieber gox,

der Mond durchläuft immer wieder dieselben Phasen, und dafür muss er sich stets gleich bewegen. Vollmond ist nicht jeden Tag, sondern nur alle 28 Tage. Folglich besucht Bertram seinen Großvater auch nicht täglich. Ich hoffe, diese stringente Beweisführung hat Dich überzeugt ;)

Der Text erhebt nicht den Anspruch, die Wirtschaft zu erklären. Er erklärt nur, wie sich der kleine Fritz die Wirtschaft vorstellt.

Viele Grüße vom

Fritz

 

hello Fritz,
Deine Beweisführung ist allemal überzeugend - leider steht aber in Deiner Geschichte nichts vom Vollmond. Es ist nur die Rede von Intervallen, in denen der Mond um die Erde kreist. Und das tut er etwa täglich.

Viele Grüße vom Vollgox!

 

Hey gox,

ich werd mich gleich mal aus dem Fenster lehnen, um das zu überprüfen!

 

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