Hosengewalt
Ich ging die Straße entlang. Das Wetter war ok, könnte besser sein. Ein Mann kam mir entgegen, mittleren Alters, lichtes Haar. Schon von der Ferne fiel mir auf, dass er den Hosenstall offen hatte. Mir war sofort klar, dass ich diesen Makel aus der Welt schaffen musste, dass ich es diesem armen Mann schuldig war. Während wir aufeinander zukamen, versuchte ich den nötigen Mut in mir aufzubauen, um ihn darauf anzusprechen. Schon war er da, und ich stellte mich ihm in den Weg. Ziemlich kühn, sich einfach so hinzustellen! Ich kam mir dabei wie ein Arschloch vor, ein Gefühl, gegen das ich mit aller Kraft ankämpfte.
„Entschuldigung! Nein, entschuldigen Sie bitte!“
Der Fremde hatte mich beinahe umgerannt, und stand nun ganz dicht vor mir. Unsere rechten Schultern berührten sich. Sah der Mensch denn nicht, wo er hinrannte? Merkwürdig sah er aus, hager, regelrecht ausgezehrt. Ein blindes, dürres Männchen, das ziellos durch die Gegend lief, offenbar nicht einmal recht ansprechbar war, und obendrein den Hosenstall offen hatte! Der Schlitz gähnte mir obszön entgegen. Aus der Nähe wirkte die Öffnung weitaus größer als noch vor kurzem. Es musste einfach gesagt werden:
„Mein Herr, Ihr Hosenstall ist offen!“
Quälend langsam hob der Mann den Kopf und blickte mir in die Augen. Feine Linien lagen auf seinem Gesicht, und ein Ausdruck, der fast alles bedeuten konnte. Unschlüssigkeit? Langeweile? Gereiztheit? Was für ein unscheinbarer, nichtssagender, kleiner Mann, dachte ich mir. Jemand, der in der Masse verschwindet – wäre da nur nicht dieser sperrangelweit geöffnete Hosenstall!
Eine kleine, unangenehme Stille entstand zwischen uns, dann begann sich endlich etwas in diesem leblosen Gesicht zu regen: Die dünnen Lippen klafften ein wenig auseinander, und ein schwaches Stimmchen ertönte wie ein Winseln:
„Aber so gehen Sie doch... Warum... Wer sind Sie? Was denn?“
Er hielt in seinem Stammeln inne, und etwas wie ein Erkennen zeigte sich auf seinem Gesicht. Mit einem Mal ging eine Art Verwandlung an dem Mann vor. Ich erschrak sogar ein wenig.
„Wohnen Sie hier? Hier in der Nähe?“
Seine Stimme klang nun plötzlich um einiges fester und selbstbewusster. Das war keine Stimme, mit der zu spaßen war. Ich nickte nur etwas schüchtern; ja, ich wohnte in der Nähe. Von diesem Moment an passierte alles ganz schnell. Vor allem sehr viel schneller, als ich es dem Männchen zugetraut hätte. Er wandte sich leicht von der Straße ab, mit einer Körperkrümmung, als wollte er gegen die Häuserzeile pinkeln. Mit einigem Erstaunen sah ich, wie er die Hand in seinem Hosenstall verschwinden ließ, und sie kurz darauf wieder hervor zog. Zusammen mit einer Kanone. Einer sehr großen Kanone. Das ganze dauerte etwa so lange, wie ein Lichtstrahl braucht, um von Trinidad nach Tobago zu gelangen, wenn er's eilig hat.
„Wir gehen zu Ihnen!“
Kanonen dieser Größe gestatten keinen Widerspruch. Stumm nickte ich ihr zu, und wir gingen los.
„Ich muss hier kurz mein Lager aufschlagen, nehmen Sie's mir nicht übel.“
Er konnte richtig nett sein. Würde man nie glauben, wenn man ihn so sah, wie er mit seiner Kanone herumfuchtelte, und mit der anderen Hand Lebensmittel aus meinem Kühlschrank schaufelte, um sie sich in den Hosenstall zu stopfen.
„Geben Sie doch wenigstens acht, da geht doch die Hälfte zu Bruch!“
„Dafür hab ich keine Zeit.“ bellte das Männchen. „Die Schweine sind mir auf den Fersen. Ich kann von Glück reden, dass ich noch am Leben bin!“
Nein, er hatte kein Mitleid mit zerbrechlichen Senfgläsern. Er schloss den Kühlschrank und ging ans Fenster. Seine Kanone begleitete ihn wohin auch immer er ging. Ich wollte mich nicht so recht an das Ding gewöhnen.
Ans Fensterbrett gelehnt, kramte er eine Zeit lang angestrengt in seinem Hosenstall und holte schließlich etwas hervor, das wie eine Tube Zahnpasta aussah. Er verteilte den Inhalt auf das äußere Fensterbrett, und begann dann wieder etwas in seinem Hosenstall zu suchen. Was diesmal zutage kam, war sogar noch ein Stück seltsamer: Ein Fön. Er steckte ihn ein und begann fachmännisch die Zahnpasta zu föhnen. Das Leben ist schon eine wundersame Sache, dachte ich mir. Zuerst geht man noch ganz normal die Straße hinunter, und ein paar Minuten später ist man auch schon gezwungen, irgendeinem schwerbewaffneten, hosenstallklaffenden Typen dabei zuzusehen, wie er Zahnpasta auf dem Fensterbrett föhnt.
Eine Antenne kam aus seinem Hosenstall und wurde einen Meter lang. Dann begann er auch noch zu singen. Es war ein ganz erbärmlicher Ton. Mehr ein Quietschen als ein Singen. So sinnlos mir sein Vorgehen auch erschien, so ernsthaft und konzentriert wirkte er doch dabei.
„Verdammt!“ rief er schließlich aus. „Es haut einfach nicht hin!“
„Nun ja...“
„Die Schweine blockieren mein Signal!“
Eine bräunliche Flüssigkeit floss als dünnes Rinnsal aus seinem Hosenstall. Langsam, fand ich, stand mir ein gewisses Recht auf Einspruch zu.
„Hören Sie mal, muss das sein?“
„Ich muss meine Körpertemperatur regulieren, Mann!“ schrie er und richtete die Kanone auf mich. Seine Hektik erreichte langsam ein Maß, dass mir bedrohlich erschien. Ich versuchte das Thema zu wechseln. Eine gewisse Sache hätte ohnehin längst angesprochen werden sollen:
„Wissen Sie, ich bin's nicht gewohnt, sowas zu sehen. Das ist mit Sicherheit der ungewöhnlichste Hosenstall, den ich je zu Gesicht bekommen habe! Unfassbar eigentlich!“
Langsam schwand die leuchtende Röte aus seinem Gesicht.
„Sie meinen meine Zone. Eine kryptovoluminöse Zone der Dritten Ordnung. Ein extrem fortschrittlicher Prototyp, und genau der Grund, wieso ich mich hier verstecken muss. Diese Schweine sind dahinter her!“
„Die sind hinter Ihrer Hose her?“
„Darauf können Sie Gift nehmen, Mann!“
Wie herbeigerufen begannen sich die besagten Schweine auch schon zu melden. Unscheinbar und wie selbstverständlich kam ein kleines dunkles Objekt durch das geöffnete Fenster geflogen und landete auf dem Boden. Harmlos lag es dort. Mein Verstand brauchte eine kleine Ewigkeit um zu erkennen, worum es sich handelte. Das Männchen hingegen hatte schon zu Ende gedacht und reagierte auf die neue Gefahr, in dem es sich buchstäblich darauf stürzte: Mit einem entschlossenen Satz warf sich das Männchen so zu Boden, dass sich seine Zone über die Granate stülpte, und diese vollständig umschloss. Mit aller Kraft die in ihm steckte, presste das Männchen seinen Schritt gegen den Boden, als die Wucht der Explosion, gedämpft, aber immer noch gewaltig, seinen Körper erfasste. Sein roter Kopf und sein wie in kontrollierten Krämpfen zitternder Leib zeugten von äußerster Anspannung. Bevor ich richtig verstand, was vor meinen Augen passierte, stand er auch schon wieder aufrecht vor mir, als wäre nichts geschehen, und nur der sich sachte kräuselnde Rauch, der aus seiner Zone aufstieg, zeugte von dem Unheil, dem wir soeben entgangen waren.
„Verdammt fortschrittlicher Prototyp“, hauchte er, nur etwas außer Atem. Ich widersprach ihm nicht. Wie um das Kompliment zu bestätigen, wuchs nun wieder die Antenne aus der Zone, und begann wie wild zu piepsen, woraufhin das Männchen zum Fenster stürzte um mit seiner gigantischen Kanone auf die Straße zu feuern. Wieder bemerkte ich, wie fließend und fachmännisch seine Bewegungen anmuteten, agil und geschmeidig wie bei einem Gepard. Tatsächlich schien der Eindruck nicht zu täuschen: Schon nach wenigen Schüssen begannen er und seine Antenne in ihren jeweiligen Sprachen um die Wette zu jubeln.
„Ich hab die Schweine erwischt!“
Das Piepsen der Antenne steigerte sich zu einem frenetischen Johlen. Ich war der einzige, der den Mund hielt. Ich hoffte fast, er würde vergessen, dass ich überhaupt da war. Aber noch viel mehr hoffte ich, er würde endlich verschwinden, mitsamt Zone, Kanone und allem Drum und Dran. Doch der Zauber war noch nicht vorbei: Ein kleiner Hubschrauber kam durchs Fenster geflogen. Ich griff mir an den Kopf. Das Männchen schoss auf den Hubschrauber. Als das zu nichts führte, setzte er seine Zone ein: Ein großes Geschütz kam aus seinem Hosenstall und begann zu feuern, wobei er die Füße fest in den Boden stemmen musste, um den Rückstoß abzufangen. In wirren Manövern versuchte der Hubschrauber auszuweichen, und lenkte so den Kugelhagel auf die Küche, die von der Hosenstallkanone zu Sägemehl zerschossen wurde. Der Helikopter begann zu taumeln, dann zu rauchen, und krachte schließlich auf den Küchenboden. Nach ein paar letzten Schüssen, die das Männchen aus seinem Schritt abfeuerte, und die jede letzte Regung der Maschine ersterben ließen, verschwand das Geschütz wieder in seinem Hosenstall. In der neu entstandenen Stille ging er hinüber, um das Wrack zu begutachten.
„Ha! Da haben mir die Schweine mal einen Gefallen getan! Richtig nett von ihnen!“
„Heißt das, der Spuk ist zu Ende? Oder wollen Sie das Klo auch noch in Stücke schießen?“
„Klappe halten! Ohne Gewalt ist diesen Schweinen nunmal nicht beizukommen, Sie haben ja keine Ahnung, Mann!“
Mit Genuss, wie ein Feinschmecker der eine Forelle zerlegt, nahm er den Hubschrauber auseinander, und stopfte sich einzelne Teile in den Hosenstall.
„Auf die Art muss ich nicht mal mein Signal absetzen. Sie werden mich bald los sein. Das haben Sie deren Unfähigkeit zu verdanken.“
In seinem Schritt begann es zu rumoren. Die Zone war geschäftig. Schließlich begann sich etwas auszufahren, das ganz ähnlich aussah, wie das Geschütz von vorhin, nur runder, glatter und futuristischer.
„Adieu!“ rief das Männchen und lüftete seinen imaginären Hut. Dann sprang es aus dem Fenster. Beinah wäre ich auch hinausgestürzt, so eilig wollte ich ihm nachblicken. Jede Sorge wäre natürlich unbegründet gewesen: Ein dicker roter Flammenstrahl schoss lärmend aus seinem Schritt. Mit einer Geschwindigkeit, die meinen Alltagsverstand überforderte, raste das Männchen empor, und verschwand donnernd über die Dächer der Stadt, angetrieben von einer Technologie, deren Kraft in diesem Augenblick schlichtweg atemberaubend war. Sein Unterleib schien zu brennen, doch es war ein sehr konzentriertes, kontrolliertes Feuer. Es trug ihn dem Horizont entgegen. Während die Sonne unterging, blickte ich ihm nach.
Vergessen konnte ich ihn natürlich nie. Er ist nun Teil meines Lebens. Wann immer mir auf dem Gehsteig jemand mit geöffnetem Hosenstall entgegen kommt, wechsle ich die Straßenseite. Und das werde ich tun, so lange ich lebe.