Horst und die Spinne
Horst hämmerte fast schon teilnahmslos in die Tasten. In Windeseile wuchs das Dokument Zeile für Zeile. Fast hätte er die Außenwelt schon völlig ausgegrenzt, wenn da nicht dieser schwarzer Fleck gewesen wäre, den Horst noch im Augenwinkel vernahm. Was war dieses schwarze Etwas, das so schien, als ob es sich bewegen würde? Nein, es schien nicht nur so, es bewegte sich tatsächlich, und zwar in Richtung Computermaus. Vorsichtig richtete Horst den Blick genau auf den Eindringling.
Es handelte sich um eine Spinne, ein riesiges Exemplar. Unbeeindruckt setzte sie ein Bein vor das andere, fast schon provokant, so erweckte es zumindest den Eindruck. Von den menschlichen Bewohnern dieses Hauses blieb sie jedenfalls unbekümmert. Dieses Insekt erlaubte sich tatsächlich die Frechheit, in Horsts Privatsphäre einzudringen, aber nicht mit mir, dachte sich Horst.
Er konnte nicht behaupten, dass er Angst vor Spinnen hätte, doch ganz wohl war ihn auch nicht zumute. Möglicherweise handelte es sich noch um ein giftiges Tier, dessen Biss Horst wohl lieber nicht erleben mochte. Wie soll nun weiter vorgegangen werden? Die Spinne töten? Nein, das wäre
unvereinbar mit seinen Gewissen. „Ich bin doch kein schlechter Mensch“, dachte sich Horst. Spinnen seien überdies sehr wichtig für das Ökosystem, hatte er einmal gelesen. Horst berücksichtigte ebenso die dadurch entstehenden, unvermeidbaren Spuren und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass eine Räumung mit einem Glas und einer Zeitung wohl die beste Alternative wäre.
Horst spähte durch den Raum, suchend nach den notwendigen Utensilien. In der Angst, die Spinne könnte sich in der Zwischenzeit verkriechen, hoffte er, diese in unmittelbarer Nähe zu finden. Sofort bemerkte er das leere Trinkglas. Eine Zeitung oder Ähnliches lag allerdings nicht in der Nähe, erst jetzt fiel ihm auf, dass der Drucker nicht mit Papier gefüllt war. Schade, denn dann wäre es schon griffbereit gewesen. „Wenn ich schnell genug bei der Haustüre bin, brauche ich keine Abdeckung“, nahm Horst an. Die Fenster kamen leider nicht in Frage, denn er hatte vor jedem Fenster ein Fliegennetz montiert. „Wie ist die überhaupt hereingekommen“, wunderte sich Horst.
Mit dem Glas in der Hand näherte er sich langsam der Spinne. Horst visierte ein letztes Mal den Eindringling an und stülpte anschließend das Glas über, sodass das Tier seine freie Bewegungsmöglichkeit verlor. Horst grinste, „das wäre doch gelacht“, dachte er sich. Mit aller Kraft scheint die Spinne, ihre einstige Freiheit zurückgewinnen zu wollen, doch waren letztlich ihre Mühen vergebens. Kein Insekt der Welt vermochte es, Glas durchzubrechen. Wohl aber gelänge der Spinne die Flucht, wenn Horst einfach so das Glas anheben würde. Die Spinne fiele einfach aus der Öffnung, ihr Zutun wäre nicht einmal erforderlich. Horst musste also noch das Glas gekonnt umdrehen, damit das Tier nicht sofort wieder herausfällt. Horst zögerte etwas, mit einem beherzten Dreh gelang es ihm jedoch, diese Hürde zu überwinden.
Er rannte die Treppen hinunter und öffnete die Haustüre. Jetzt war es an der Zeit, sich ein für alle Mal von der Spinne zu verabschieden. Horst würdigte sie noch eines letzten Blickes. In diesem Moment musste er jedoch feststellen, dass die Spinne fast schon entkommen war, nur noch wenige Zentimeter trennte sie vor der Öffnung des Glases. Horst zuckte zusammen, als wäre gerade Strom durch seinen Körper geflossen. Ruckartig bewegte er das Glas nach vorne – oder besser gesagt warf, wie Horst gleich darauf feststellen musste. Wie in Zeitlupe sah er, wie das Glas zunächst kurz empor stieg und sich dann wieder den Boden näherte. „Klirr“, das Glas zerbarst in gefühlte tausend Scherben.
„Na wenigsten bin ich die Spinne auch los“, Horst versuchte seinem Missgeschick wenigstens etwas Positives abzugewinnen. Horst fühlte die leichten Regentropfen, die der Wind durch die geöffnete Türe blies. Er blickte in den Himmel, keine Wolke in Sicht. Horst verstand. Es waren keine Regentropfen, sondern es war die Spinne, die gerade seinen Unterarm hochkletterte. Er beobachte die Spinne genauer. Augen schienen ihn mit ungeheurer Häme anzugrinsen, acht an der Zahl, eines jener Details aus dem Biologieunterricht, an denen sich Horst noch erinnern konnte. Es machte den Eindruck, als ob sich die Spinne gerade zu Tode lachen würde. Das allerletzte Wort war aber noch nicht gesprochen. Horst holte tief Luft und blies die Spinne davon. Von da an verschwand sie endgültig.
Nachdem Horst die Scherben vom Gehweg beseitigte, ging er zurück in seine Wohnung, diesmal frei von derlei Geschöpfen wie das Tier vorhin. Er setzte sich wieder auf jenen Stuhl, auf dem er gesessen hatte, ehe es ihm die Spinne verwehrte, das Dokument fertig zu stellen. Doch die nächste Störung lies nicht lange auf sich warten. Ein Summen, es kam nicht etwa von dem Computer, sondern von einer Wespe. Horst schrie entsetzt: „Spinne, wo bist du?“.