Horst hat ein Problem
Ich poste diese Geschichte, um zu sehen, ob sie nicht nur der Person, für die sie einst gedacht war, etwas sagt oder gibt. Also, wenn sie nicht gefällt, so habt ihr mein vollstes Verständnis.
Ich möchte Ihnen von jemandem erzählen. Ich kann mich nicht erinnern, wie dieser Jemand mit Namen hieß - in solchen Fällen ist es ja Tradition, im englischen Sprachraum zumindest, solche Personen mit John Doe zu bezeichnen. Aber John, nein, dieser Name passte nicht auf ihn.
Es war einfach kein John. Vielleicht war es ein Tom. Oder ein Patrick. Zur Not wäre auch Daniel eine Möglichkeit gewesen. Aber John? Niemals.
Doch glücklicherweise befinden wir uns nicht im englischen Sprachraum, jedenfalls ich nicht, wobei ich ja keine Ahnung habe, ob dieser Bericht hier irgendwann in andere Sprachen übersetzt wird.
Glücklicherweise habe ich gesagt? Nun, ich weiß nicht, ob es im Deutschen auch so einen Standardnamen für unbekannte Personen gibt. Womöglich hat sich heutzutage auch schon eingebürgert, überall auf der Welt John Doe zu sagen?
Doch was kümmert mich das? Ich nenne ihn, diesen Jemand, jetzt einfach mal... Horst.
Dieser Name passt eigentlich auch nicht auf unseren Jemand, passen würden Max oder Moritz oder Tim oder Marcel, aber Horst klingt so schön deutsch. Hm, wenn Sie wollen, können wir auch Horst-Max oder Tim-Horst sagen, dann ist dieser wundervolle Name Horst mit einem zutreffenderen Namen verbunden und wird somit sowohl der Wahrheit als auch meinem für sie vielleicht nicht nachvollziehbarem Sinn für Sarkasmus gerecht. Auf der anderen Seite gibt es zur Bezeichnung etwas dummer Personen auch den Spruch "Was? Du bist in Eduard verknallt? Das is doch der totale Horst!", und in einer Hinsicht war Horst (oder wer auch immer...) wirklich ziemlich dumm.
Wo beginne ich denn nun am besten? Soll ich ganz weit ausholen, soll ich zurückgehen in Horsts Kindheit und Schulzeit, um die Ursachen dieser speziellen Dummheit oder besser Unfähigkeit zu suchen? Oder wollen Sie gleich die eigentliche Geschichte hören? Ah, ich sehe, an Hintergrunddetails sind Sie nicht interessiert, gut, das macht es auch für mich einfacher. Fangen wir also an.
Es war einmal ein Horst. Und eines Tages begab es sich, dass Horst eine Lehre als Maurer anfing. Er hatte eigentlich vorgehabt, die deutsche Sprache und ihre Literatur zu studieren, aber seine Mutter hatte sich in einen Bauarbeiter verliebt und diesen geheiratet, bevor Horst das stolze Alter von achtzehn Jahren hatte erreichen können. Das heißt also, sein neuer Vater, der den schönen Namen Jerome trug, hatte noch Entscheidungsgewalt über Horst, die er dann auch gleich zu Horsts Vorteil einsetzte. Er nahm ihn nach der achten Klasse aus der Schule und schickte ihn auf den Bau. "Damit aus dier wat orntliches wirt!" hatte er kategorisch gesagt, und Horsts Proteste waren wirkungslos verpufft.
Schon am ersten Tag seiner wundervollen neuen Lehre, der er sich, wie allen Dingen seines Lebens, mit viel Optimismus und Hingabe stellte, lernte Horst ein Mädchen kennen. Ja, liebe Leser, nun wird's erst richtig interessant, stimmt's?
Dieses Mädchen hieß Sieglinde, trug also auch einen wirklich klangvollen, aus guter alter deutscher Tradition entstandenen Namen. Sie war genauso alt wie Horst, und Horst fand sie recht hübsch.
Nun lernte er sie die Tage und Wochen über besser kennen, sie verbrachten ziemlich viel Zeit zusammen. Horst fühlte sich in ihrer Nähe wohl und glaubte zunächst auch, ihr ginge es genauso - denn sonst hätte sie ja etwas sagen können!
Eines weiteren Tages dann spürte unser armer Horst, dass mit Sieglinde und insbesondere mit ihrem von Horst erwarteten Verhalten ihm gegenüber etwas nicht ganz stimmte. Er nahm also seinen ganzen Mut zusammen und sprach Sieglinde darauf an, während sie gerade damit beschäftigt war, sehr schwere Mauersteine zwanzig Meter weit von einer Wand zur anderen zu tragen. Als sie gerade zwei dieser Steine in ihren Armen hielt, stellte sich Horst ihr den Weg.
"Hast du mal eine Minute Zeit?" fragte er, und er ignorierte ihre von den Steinen verursachten Qualen. Er nahm sie ihr auch nicht ab oder so, nein, er stellte einfach nur seine Frage, während ihre Arme langsam taub wurden. "Muss das... jetzt sein...?" ächzte sie, doch Horst bekam vom Ächzen gar nichts mit. "Ja. Es ist sehr wichtig." sagte er nur. Sie nickte ihm zu und meinte, er solle schnell machen. Er stellte also seine Frage, und hörte mit Entsetzen ihrer Antwort zu. Die letzten Worte, die er an diesem Tage von ihr hörte, sagten sinngemäß aus, dass es ihr nicht gefiel, wie er sich an ihr festhielt. Und das machte Horst die nächsten vier Tage sehr zu schaffen, aber es bildete vielleicht die Grundlage für ihn zu erkennen, wie es wirklich um ihn stand, Sieglinde betreffend.
Ich langweile Sie doch nicht, liebe Leser? Sie müssen wissen, während ich dies niederschreibe, höre ich aufmunternde, fröhliche Musik, und da merke ich natürlich nicht, ob es langweilig wird oder interessant. Also, sagen Sie mir bitte, wenn es Ihnen auf den Geist geht.
Als er sie dann wiedersah, nach vier Tagen wie gesagt, da wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Er war schon immer sehr menschenscheu gewesen - nun hatte er wenigstens einen Grund dafür, sich zurückzuziehen, denn er wollte ihr ja schließlich nicht auf die Nerven fallen. Am Montag also ging er ihr den ganzen Tag über aus dem Weg, mauerte nur dort an Wänden, an denen sie grad nichts zu tun hatte. Horst ertränkte seinen Kummer in bayrischer Volksmusik, durch Ohrhörer in seinen Kopf gepresst - eine Flucht vor dieser Welt. Horst war schon zu bedauern. Seltsamerweise war er selbst jedoch der einzige, der das bemerkte.
Na ja, auf jeden Fall ließ es sich, kurz vor Feierabend, doch nicht vermeiden, sie mal zu sehen. Und sie lächelte ihn an. Was Horst vollends verwirrte. Er wollte nicht zurücklächeln, tat es aber ganz automatisch - wobei er gleichzeitig versuchte, es aus dem Gesicht zu vertreiben, so dass es sehr komisch ausgesehen haben musste. Armer Horst!
Dienstag war der nächste Tag, es war ein Tag der Besserung, der Heilung für die angeknackste Psyche unseres armen Horsts. Wieder wollte er ihr aus dem Weg gehen - doch oh Wunder, gleich zu Beginn des Tages, an der ersten zu mauernden Mauer, kam sie zu ihm und mauerte an seiner Seite. Horst wäre am liebsten weggegangen, aber woanders gab es gerade nichts zu mauern. Aber jegliche ihrer Versuche, ein Gespräch zu beginnen, wehrte er mit knappen Worten ab.
Dann, im Laufe des Tages, sahen sie sich noch ein paar Mal, und während einer Pause, kurz bevor sie die letzte Mauer für Dienstag hochziehen mussten, standen sie sich gegenüber, warfen sich Blicke zu, schwiegen aber weiterhin.
Bei der letzten Mauer also, da schien sich alles wieder zu normalisieren. Horst bemühte sich, ganz normal zu wirken - bei ihm sowieso ein Ding der Unmöglichkeit. Am Ende wollte er mit Sieglinde darüber reden, über das, was ihre wenigen Worte bei ihm ausgelöst hatten. Aber dann kam auf einmal ein weiterer Maurerkollege hereingeplatzt, und unterbrach Horst in seinem Stammeln.
Mittlerweile schreiben wir Mittwoch! Ja, die Zeit schreitet schnell voran in Horsts chaotischer kleiner Welt! Abgesehen davon, dass ich endlich fertig werden will.
Also, es war Mittwoch... da war schon wieder alles wie sonst auch. In einem hastig dahingesprochenen Satz führte Horst seine Gedanken vom Vortag zu Ende und endlich schien wieder alles wie immer. Aber der arme Horst hatte ja noch Donnerstag und Freitag um sich neue Probleme zu schaffen.
Denn am Donnerstag kam Sieglinde wieder ständig, wie Horsts Vater das ausgedrückt hätte, angekrochen, weil sie anscheinend auch nicht alleine Mauern bauen wollte. Ist ja auch langweilig, andauernd nur Steine aufeinander zu schichten.
Schon immer hatte Horst Sieglinde sehr hübsch gefunden. In der Größe passte sie zwar gar nicht zu ihm, war sie doch fast zwei Meter groß, und wog etwa hundert Kilogramm, aber das machte nichts. Vor allem jedoch fand Horst ihr schönes, wohlgenährtes und pausbäckiges Gesicht so schön, und ihre dicken schwieligen Maurerhände, die seinen so ähnlich waren.
Es gab Tage, da überlegte Horst, wie sein Leben hätte anders verlaufen können, wenn seine Mutter nicht Vater Jerome geheiratet hätte.
Er stellte sich vor, er hätte sein Studium wie geplant begonnen. Er stellte sich vor, er hätte auch dort eine intelligente, nett anzusehende Kollegin... wie hieß dieses schwere Wort mit Kom? Komili...? War ja auch egal, das war Horsts Welt ja eh nicht mehr, und "Mitstudentin" tat es auch. Er stellte sich vor, er hätte andere Auffassungen von Schönheit entwickelt, und sie entspräche diesen, mit einem hübschen intelligent blickenden Gesicht, zarten Händen mit schlanken Fingern und ansonsten auch einer recht guten Figur, nicht so stämmig wie Sieglinde... Sieglinde - auch der Name hätte dann anders sein müssen, vielleicht etwas exotisches?
Bevor wir nachher zurückkommen auf Horsts Vorstellungen, noch einmal zur aktuellen Lage.
Wir haben jetzt Freitag und Freitags ist im Maurergewerbe traditionell frei. Jedenfalls bei Horsts Firma. Horst ging am Donnerstag abend dann schlafen und wachte am nächsten Morgen auf - und seine ersten Gedanken galten Sieglinde. Was ihm überhaupt nicht gefiel und ihn in seiner Verwirrung sehr lange im Bett bleiben ließ, so als ob er krank wäre. Horst hatte wohl keine Wahl - er musste sich endlich eingestehen, was er schon immer befürchtet hatte: er musste sich eingestehen, dass er Sieglinde mehr als nur freundschaftliche Gefühle entgegenbrachte, und dass er darum auch so verletzt von dieser Sache mit dem Festhalten gewesen war.
Mit dieser Information können wir jetzt wieder auf Horsts Phantasie-Studium schwenken, denn am Wochenende überlegte er sich, was er nun mit diesem neuen Problem tun sollte, und was ein eventueller anderer Horst mit einem ähnlichen Problem tun würde.
Horst stellte sich vor, er wäre als Student in der Lage, ansprechende, intelligente, träumerische, ironische und melancholische Texte zu schreiben, in Prosa- oder in Gedichtform. Wobei Horst, verdummt durch seine Maurerlehre, längst nicht mehr wusste, was Prosa überhaupt war.
Sind eigentlich Maurer unter meinen Lesern? Es tut mir leid, dass Sie sich vielleicht etwas angegriffen fühlen durch meine Einstellung Ihrem Gewerbe gegenüber. Ich habe durchaus Achtung vor Ihren Werken, aber bitte verstehen Sie, dass ich, um mir diesen Text hier auszudenk... äh, um diesen Bericht zu verfassen, einen möglichst konträren Beruf zu einem Germanistik-Studium wählen musste.
Horst stellte sich also vor, er könne schreiben. Was hätte er denn mit dieser Fähigkeit getan? Hätte er Sieglinde (oder ihrem Gegenstück) einen Brief geschrieben? Oder hätte er alles in eine, womöglich witzige, Geschichte verpackt? Vielleicht hätte er ja auch ein Gedicht geschrieben? Ja... Als Abschluss einer Geschichte, vielleicht auch mehrerer, die er ihr dann gezeigt hätte... Vielleicht das folgende:
Hab dir einen Brief geschrieben
Und nun seh ich dich ihn lesen.
Alle paar Momente
Blickst du auf, hältst inne.
Blätterst dieses um
Und folgst dem Handlungslauf.
Du berührst damit nicht nur Papier,
Du berührst viel mehr auch mich.
Denn all die Zeilen,
Weißt du das,
Waren doch schon immer ich.
Hast du mich denn verstanden?
Oder hast du mich ausgelacht?
Doch was ich wirklich wissen will
Woran hast du beim Lesen - -
Hast du an mich gedacht?
Vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, hätte sie die Anspielungen verstanden. Doch sie, diese nur eingebildete imaginäre Sie, war für Horst eigentlich ziemlich irrelevant.
Denn er hatte ja Sieglinde, und ihr konnte er keine Geschichten oder Gedichte schreiben - er konnte es doch sowieso nicht.
Nein, für sie musste er etwas anderes machen. Vielleicht ein Haus bauen, mit den ganzen Steinen, die manchmal als Abfall übrig blieben, nach den langen Arbeitstagen? So ein hübsches kleines Haus, mit einer Küche drin, in der sie zusammen essen könnten?
Liebe Leser, Sie wollen jetzt ja bestimmt wissen, ob Horst Glück hatte mit seiner Sieglinde, aber ehrlich gesagt - ich will es Ihnen gar nicht sagen.
Ich kann Ihnen erzählen, dass Horsts Erwartungen wie fast immer negativ waren, dass er natürlich glaubte, in keiner Weise bei ihr Erfolg zu haben, und wer weiß, vielleicht hatte der arme Horst ja Recht? Oder aber... doch nein, das wäre doch zu schön, um wahr zu sein, oder nicht?
Entscheiden Sie selbst, welches Ende für Ihren ganz persönlichen Horst (denn er ist Ihnen im Laufe des Berichts bestimmt so sehr ans Herz gewachsen, dass Sie ihn für Ihren Horst halten? Und wenn nicht das, so kennen Sie doch bestimmt jemanden, der Horst in gewisser Weise ähnelt?) in Frage kommt.
Denken Sie sich aus, was Sie wollen - ich habe keine Zeit mehr; ich muss weg.