- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Horsdorp an der Wuemme Geschichten: Fehlleitung
Im Frühling, wenn die Eiche voll im Laub stand, war das Postamt dahinter kaum zu erkennen, und das war gut so; denn der Bau, in dem es untergebracht war, hatte schon bessere Zeiten gesehen. Seine zerbröckelnde, graue Fassade, mit dem Fahrradständer davor, ließ nicht ahnen, welch anmutiges Mädchen hinter dem Schalter auf den nächsten Kunden wartete; doch es sprach sich herum, und so war es kein Wunder, dass junge Männer von nah und fern dieses Postamt aufsuchten, wenn sie Geld abheben oder Briefmarken erstehen wollten. Monika jedoch, so hieß die junge Dame, gab keinem der Herren den Vorzug, behandelte alle gleich freundlich. Sie hätte auch gar nicht gewusst, wen von ihnen sie hätte ermuntern sollen, hatten doch alle den gleichen dummen Ausdruck im Gesicht. Sicher, einer hatte blonde Haare, der andere dunkle. Einer trug einen Bart, ein anderer einen Ring am Ohr, doch hatten alle den kuhäugigen Blick, der Monika ahnen ließ, dass sie nur an das eine dachten, wobei es doch so viel anderes gab. Und dann war da noch jemand.
Willi Kemper stand vor dem Apothekerschrank und holte die Herztropfen heraus. Er war nervös, und er verstand nicht wieso. Sein Job in der Drucksachenverteilstation der Post von Dünkelskirchen kannte keine Höhen und Tiefen. Die Säcke kamen morgens an, wurden geöffnet, und der Inhalt aufs Band geschüttet. Er wurde sortiert, gebündelt und in drei andere Säcke geworfen, die in ihren Gestellen hingen. Einer für Dünkelskirchen, ein anderer für Möhldorf und der dritte für Horsdorp an der Wümme. Wenn Willi und seine Kollegen aus drei Meter Entfernung die Bündel in die Säcke warfen, trafen sie fast immer den Richtigen. Wenn nicht, gab es einen Postwagen, der die drei Ämter anfuhr und die fehlgelenkten Drucksachen weiterleitete. Es konnte nichts schief gehen. Wieso also war Willi nervös? War es, dass er bei seiner Tätigkeit unterfordert war? War es Monika, die im Postamt von Horsdorp an der Wümme hinter dem Schalter saß?
Er liebte die Ruhe seines Jobs, doch zugleich hasste er sie. Er war gestresst. Wieso? Konnte Langeweile Stress verursachen? Willi hielt seine Hand auf und schüttelte die Flasche. Sein Herz klopfte wie verrückt, und es kam nichts raus. Kein einziger Tropfen, und die Flasche war noch halb voll. Was für eine Ironie! Vor seinem geistigen Auge sah er die Schlagzeile im Dünkelskirchener Boten. ‘Willi Kemper aus unserem Ort erlag einem Herzanfall, nachdem er vergeblich versuchte hatte, Tropfen aus der Flasche zu bekommen’. So ging es nicht weiter. Er durchsuchte seinen Bücherschrank. Hier war es. Das Handbuch für Autogenes Training. Vor Jahren hatte er einen Kurs in der Volkshochschule besucht. Er schlug das Buch auf. Und das ging so - er erinnerte sich, setzte sich gerade auf einen Stuhl und übte - ‘Der rechte Arm ist schwer, der linke Arm ist schwer, beide Arme sind schwer, auch die Beine sind schwer, alle Glieder sind ganz schwer’.
Von da an machte er es jeden Tag, und schon bald spürte er, wie er ruhiger wurde. Er schlief auch schneller ein. Und dann war da Monika.
Hin und wieder war es an ihm, sich in das Postauto zu setzen, und fehlgeleitete Drucksachen in die richtigen Postämter zu fahren. Und es kam immer öfter vor. Wenn er sich suggerierte, ‘ich will Monika wiedersehen, ich will Monika wiedersehen’, glitt seine Hand aus und ein für Horsdorp an der Wümme bestimmtes Drucksachenbündel landete in einem anderen Sack. Suggestion war unfehlbar. Er wollte Monika wiedersehen, und er sah Monika.
Er sah sie nur von weitem, und dann nur ihren Rücken. Er war zauberhaft, ihr Rücken, gleich, ob sie Briefmarken abriss, Einschreiben entgegennahm oder Geld auszahlte. Und wenn sie sich auf ihrem Stuhl nach hinten drehte, um nach einem Formular zu greifen, ihn, Willi, gleichzeitig anlächelte, wenn er verlegen auf sein Bündel Drucksachen blickte, dann merkten sie beide, dass es noch etwas anderes gab. Für Monika einen Mann, dessen Blick verriet, dass er nicht nur an das eine dachte. Dachte er überhaupt? Und wenn, an was? Für Willi etwas, was ihn aus dem dumpfen Trott der Drucksachenverteilstation herausreißen konnte. Schon wurde er wieder unruhig, und zu Hause setzte er sich in Droschkenkutscherhaltung auf den Stuhl und übte. Er sprach seine Entspannungsformel ‘alle Glieder sind ganz schwer’ und schlief prompt ein. Im Laufe der Zeit merkte Willi, dass es ihm immer schwerer fiel, sich wieder aus dem Schlaf zu befreien, und er nahm sich vor, die Übungen einzustellen.
Einmal noch, zur Frühstückspause, während er mit seinen drei Kollegen am Plastiktisch in der Station das mitgebrachte Brot aß, führte er seinen Kollegen vor, wie er sich entspannte. Sie benötigten eine ganze Stunde, ihn aus dem Schlaf zu rütteln.
Eines Tages sprach Monika ihn an. Einfach so. Sie fragte: “Können Sie mich nach Hause bringen? Mein Wagen springt nicht an.”
Es schien Willi, der Motor des Postwagens würde freudig brummen, die Reifen sich weiter aufblasen und das aufgemalte Posthorn losschmettern.
“Halten Sie hier an. Haben Sie Lust auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen?”
Sie sprachen über dieses und jenes. Willi sah sich um. Es sah aus wie bei Ikea. So hell und freundlich, ganz anders als bei ihm.
Monika war reizend. “Nächstes Mal komme ich zu Ihnen. Ich bin neugierig darauf, wie Sie wohnen.”
Als sie mit einem selbstgebackenen Kuchen bei ihm auftauchte und sich auf einen Stuhl setzte, den Willi einmal vom Sperrmüll aufgelesen hatte, stieg ihr der muffige Geruch der Wohnung in die Nase.
“Sie sollten mal lüften,” rief sie in die Küche hinein.
“Ich vertrage den Straßenlärm nicht, ich bin zu nervös,” kam die Antwort.
“Ich auch,” rief sie zurück.
“Ich versuchte es mit Entspannungsübungen.” Willi kam mit zwei Tassen Kaffee aus der Küche hervor und setzte sie auf dem Tisch ab.
“Wie gehen die denn?”
“Bleiben Sie aufrecht auf Ihrem Stuhl sitzen und beugen sich dann nach vorn. Nehmen Sie die Knie etwas auseinander, beugen den Kopf vor und drücken ihn gegen das Brustbein. Schließen Sie die Augen und sprechen Sie mir nach: ‘Der rechte Arm ist schwer, der linke Arm ist schwer, beide Arme sind schwer, auch die Beine sind schwer, alle Glieder sind ganz schwer’.
Monika sprach die Worte nach. Als sie nichts mehr hörte, öffnete sie die Augen. Willi hing in seinem Stuhl und schlief.
Monika nippte an dem Kaffee und wartete.
“Willi, wachen Sie auf!” rief sie. Er rührte sich nicht.
Monika wartete noch eine Viertelstunde und aß den halben Kuchen auf.
Sollte sie ihn rütteln und aus dem Schlaf reißen? War es nicht gefährlich?
So fuhr Monika heim und ordnete ihre Prioritäten.
Es dauerte nicht lange, und sie heiratete einen der jungen Männer mit dem kuhäugigen Blick, der nur an das eine dachte und jeden Tag die dreißig Kilometer von Dünkelskirchen nach Horsdorp an der Wümme gefahren war, um bei ihr Briefmarken zu kaufen.
Willi hat sich immer noch nicht ganz von seiner letzten Übung erholt. Doch um die Arbeit für ihn interessanter zu machen, übertrug man ihm zusätzlich die Verwaltung des Kühlschrankes, der, in dem die Cola ist.