- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Horsdorp an der Wuemme Geschichten: Der Astronom
Klaus Eylmann
Der Astronom
Zischend schlossen sich die Türen und der gelbe Autobus fuhr an. Eine alte, dunkelgekleidete Frau hielt sich krampfhaft am Haltegriff fest, als sie mühsam die Stufen zum Gang emporstieg. Sie war der einzige Fahrgast, der An der Möhle, der letzten Haltestelle vor der Endstation in Horsdorp an der Wümme, zugestiegen war. In dem Bus war es kalt. Er nahm Fahrt auf und ratterte die von Kastanienbäumen umsäumte Landstraße entlang. Die alte Frau blickte zum Fenster hinaus. In einiger Entfernung floss neben der Straße behäbig die Wümme dahin, wurde von der Fahrbahn überquert und setzte den Weg links von ihr fort, bog dann nach Westen ab und verlor sich am Horizont. Das gelbe Schild mit der Aufschrift Horsdorp an der Wümme, Kreis Dünkelskirchen kam in Sicht. Der Bus verringerte seine Geschwindigkeit, fuhr am Autohändler sowie an der Apotheke vorbei und hielt vor dem Gasthof Zum Roten Ochsen. - Endstation.
Der Fahrer drückte einen Knopf, es zischte und die Türen des Busses öffneten sich. Die alte Frau stieg unbeholfen aus dem Fahrzeug, während der Fahrer sich erhob und das Richtungsschild von Horsdorp durch das von Dünkelskirchen ersetzte. Danach kletterte auch er aus dem Bus und ging in die Gaststube.
Durch die Butzenscheiben drang gedämpftes Tageslicht, warf die Schatten der Fensterkreuze auf den Tresen, hinter dem eine Frau wirtschaftete. Mürrisch wandte sie sich um. Der Fahrer blickte um sich, bevor er sich an einen Tisch setzte. Er war der einzige Gast.
“Guten Tag, Anna. Einen Kaffee bitte. Wie gehts denn so?”
“Frag mich nicht, Otto.” Anne goss den Kaffee in eine Tasse und nahm ein Stück Kuchen aus der Glasvitrine.
“Frag mich nicht.”
“Trauerst du immer noch deinem Ex hinterher? Das solltest du dir langsam abgewöhnen. Denk mal an was anderes. Schaff dir ein paar Hobbies an.”
Anna schien schlecht gelaunt, als sie die Tasse mit dem Kaffee und den Teller mit dem Kuchen vor ihn auf den Tisch stellte. Ihr Gesicht hellte sich auch nicht auf, als Otto seinen Arm um sie legte.
“Anna, du weißt, auch ich bin allein. Aber ich habe immer was um die Ohren. Der Astronomiekurs an der Volkshochschule von Dünkelskirchen ist so interessant und man lernt nette Leute kennen. So was solltest du auch mal machen.”
“Ja, zwei mal die Woche dreißig Kilometer nach Dünkelskirchen, das hat mir gerade noch gefehlt.”
“Und,” Anna löste sich aus seinem Griff. “Und ausserdem habe ich keine Zeit. Auch wenn hier nur am Wochenende Betrieb ist, wir machen erst gegen Mitternacht Schluss. Wenn ich dann nach Hause komme, bin ich noch so aufgedreht, dass ich nicht einschlafen kann. Der Kuchen ist von mir. Den brauchst du nicht zu bezahlen.”
“Danke,” erwiderte Otto mit vollem Mund. “Du bist so nett zu mir. Was hältst du davon, wenn ich dich mal an deinem freien Abend besuche?”
“Ich weiß nicht recht.”
Sie sagt nicht nein, dachte Otto.
“Nun sag schon ja. Für mich sind dreißig Kilometer ein Klacks. Ich bin das Autofahren gewohnt.”
Anna blickte Otto prüfend ins Gesicht.
“Nun gut, dann sagen wir nächsten Dienstag gegen sieben Uhr abends.” Anna zog einen Kugelschreiber aus der Schürzentasche, griff nach einem Bierdeckel und schrieb ihre Adresse darauf.
“Hier wohne ich. Du brauchst zu Hause nichts zu essen. Ich werde dir was kochen.”
Otto steckte den Bierdeckel ein und sah auf die Uhr. “Ich muss los, Anna und noch mal vielen Dank für den Kuchen.” Dann war Otto verschwunden. Anna hörte noch, wie der Bus anfuhr. Sie war wieder allein in der Gaststube, allein mit ihren Gedanken. Otto strahlte Zuverlässigkeit aus. Er war kein Beau, aber wer war das noch mit fünfzig. So alt war er wohl, und sie selbst war ja auch keine Schönheit. Ihr schien, als sei Otto jemand, mit dem man sich bei einem Glas Wein angenehm unterhalten, der die Spinnweben ihrer trüben Gedanken, die sie umhüllten, wenn sie allein war, durch seine Anwesenheit einfach wegpusten konnte.
Otto kam auch die anderen Tage vorbei, immer dann, wenn sein Bus in Horsdorp vor dem Roten Ochsen auf Fahrgäste wartete. Er sprach mit Anna über dieses und jenes, nur nicht über seinen bevorstehenden Besuch, bis Anna es nicht mehr aushielt: “Otto, du kommst doch am Dienstag?”
“Natürlich komme ich. Ich freue mich schon drauf. Bei euch ist es so schön dunkel.”
Was soll das denn nun wieder heißen? fragte sich Anna.
Dienstag war Gaststättenruhetag. Es war soweit, war Annas freier Tag, und sie hatte einige Stunden damit verbracht, das Abendessen zuzubereiten.
Als Otto aus seinem kleinen Ford stieg und mit einem Strauß gelber Rosen auf Annas Haus zuging, war es bereits dunkel geworden. Die Tür öffnete sich, als ob Anna hinter der Gardine auf ihn gewartet hätte.
“Otto, komm rein. Und was für schöne Rosen, die werde ich gleich ins Wasser stellen. Das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen.” Anna vergrub ihr Gesicht in dem Blumenstrauß.
“Es ist verflucht kalt draußen, Anna, was duftet denn hier so verführerisch?”
“Boeuf a la Mode.”
“Böff was?”
Otto nahm im Wohnzimmer am Esstisch Platz, während Anna auftrug.
Sie setzte sich ihm gegenüber und schenkte sein Glas voll.
“Prost Anna. Was ist das für ein Roter?” Otto griff nach der Rotweinflasche und las: “DOC. DOC ist immer gut. Da hast du was Gutes ausgesucht. Und das Böff, wie das duftet!” Otto füllte seinen Teller und schlang das Essen hinunter. Nach einigen Minuten war er damit fertig.
“Also, ich hab eine Überraschung.” Otto erhob sich. “Muss nur schnell zum Wagen. Bin gleich wieder zurück.”
Anna blickte zum Fenster hinaus. Es war zu dunkel, um zu erkennen, was Otto anschleppte. Er kam auch gar nicht ins Haus, sondern setzte seine Last im Vorgarten ab.
Anna zog einen Mantel an und ging zu Otto hinaus.
“Sieh dir das Teleskop an. Ist es nicht ein Prachtstück? Es hat einen 25 cm Spiegel. Hier bei euch sind die Sterne besser zu sehen. In Dünkelskirchen ist es einfach zu hell. Stell bitte die Klappstühle auf, während ich das Teleskop richte.”
Wie benommen baute Anna die beiden Klappstühle auf, die Otto aus dem Kofferraum seines Wagens gezogen und auf den Rasen gelegt hatte.
Otto setzte sich auf einen der beiden Stühle und justierte das Teleskop, dann stand er wieder auf.
“So, ich hab das Fernrohr auf den Mond gerichtet. Setz dich auf diesen Stuhl und sieh mal durch das Okular. Ist es nicht wunderbar, wie deutlich die Krater und die Berge zu sehen sind?”
Anna blickte durch das Teleskop, sah die Krater Tycho, Langrenius und die Mare Nubium, Crisium. Sie sagten ihr nichts.
“Na, was meinst du, Anna? Ist das nicht phantastisch? Und sieh dir mal den Sternenhimmel an. Für die Sternbilder braucht man nicht unbedingt ein Teleskop.” Otto setzte sich auf den Stuhl neben ihr und zeigte nach oben.
“Oben im Norden siehst du den Großen Bären und rechts daneben den Kleinen Bären. Noch weiter rechts haben wir den Drachen und das Sternbild des Herkules. Siehst du die vier Sterne dort, die ein Rechteck bilden, vom dem aus drei andere Sterne nach oben zeigen? Also das ist der Kleine Bär oder Ursa Minor, dessen hellste Sterne den kleinen Wagen bilden, wo drei Sterne wie eine Deichsel aussehen, und der oberste Stern, der besonders hell leuchtet, ist der Polarstern. Wenn du den siehst, dann weißt du, wo Norden liegt.
Das Sternbild rechts davon ist der Drachen. Drei Sterne des Drachens, die wie ein Dreieck aussehen, haben einen Nachbarstern, der heißt Kuma. Sieh dir den einmal durch das Teleskop an. Warte, ich stelle es dir mal ein.” Otto kniete sich neben Anna auf den Boden und machte sich am Fernrohr zu schaffen. “So, sieh jetzt mal durch.” Anna starrte in das Okular.
“Nun siehst du, Anna, Kuma besteht in Wirklichkeit aus zwei nebeneinanderliegenden Sternen. Es ist ein Doppelstern. Ist das nicht aufregend?”
Anna sagte nichts. Wie versteinert saß sie auf dem Klappstuhl und fror.
“In der Volkshochschule haben wir ja nicht nur die Sternbilder kennengelernt, sondern auch viel über die Geschichte der Astronomie gehört. So hat zum Beispiel Galilei vier Monde gesehen, die den Jupiter umkreisten. Die Erde mit nur einem Mond konnte nicht der Mittelpunkt des Universums sein, wie damals angenommen wurde. Später hatte Johannes Kepler entdeckt, dass die Planetenbahnen elliptisch sind. Darüber hinaus wurden wir auch in die Astrophysik eingeführt. Sagt dir der Begriff Hertzsprung-Russel Diagramm etwas?”
“Nein, Otto. Das sagt mir überhaupt nichts. Kannst du mir das nicht im Haus erklären? Mir wird kalt.”
“Später,” meinte Otto und hantierte am Teleskop. “Ich stelle es jetzt auf die Zone zwischen Mars und Jupiter ein. Dort haben wir den Asteroidengürtel. Etwa eintausendeinhundert Asteroiden schwirren dort herum. – Lass mal sehen, ich glaube jetzt hab ich’s. Ja, und etwa die Hälfte davon ist erst katalogisiert. Stelle dir mal vor, ich finde einen, der noch keinen Namen hat, den können wir nach dir oder nach mir benennen. Was meinst du dazu, Anna?”
Ottos Blick löste sich vom Teleskop. Er sah zur Seite. Der zweite Stuhl war leer. Otto schüttelte den Kopf und versuchte einige Asteroiden zu erkennen. Es gelang ihm nicht. Sein Fernrohr war nicht stark genug. Er stellte es auf den Mars ein, der hellrötlich schimmernd am Nachthimmel stand.
Er dachte an die geplante Marsexpedition der NASA, an die siebenundfünfzig Millionen Kilometer, die zurückzulegen waren, an die zweihundertzwanzig Tage, die eine Besatzung im Raumschiff verbringen musste, und das wegen ein paar Bakterien, welche die NASA dort zu finden hoffte.
Nun, es ging auch um eine mögliche Kolonisierung. Otto wäre gern dabei gewesen, doch er musste seinen Bus weiterfahren. Wenn er in einer Milliarde von Jahren in der Zukunft leben würde, dann wäre es einfacher. Dann hätten sie weiter in den Raum hinaus gemusst, weil sich die Sonne zu einem Roten Riesen aufblähen und alles auf der Erde verbrennen würde. Aber nun ja, dachte Otto resigniert, nun saß er des nachts in Annas Vorgarten, blickte durch das Teleskop und am nächsten Morgen würde er wieder seinen Bus lenken. Zum Glück brauchte er erst nachmittags seinen Dienst anzutreten. War Anna schon schlafen gegangen? Auch ihm wurde kalt.
Otto erhob sich und trug die Stühle und das Teleskop zum Wagen zurück. Der Schein der Straßenlaternen spiegelte sich auf der Straße. Sie war vereist. Otto blieb unschlüssig vor dem Wagen stehen, dann ging er in den Vorgarten zurück und auf das Haus zu. Zögernd klopfte er ein paar mal an die Tür. Sie öffnete sich nicht. Otto versuchte es noch einmal. Die Tür blieb verschlossen. Er schaute auf das Fenster des Wohnzimmers. Das Zimmer war dunkel.
Verdammter Mist. Da hab ich was falsch gemacht. Er blickte auf die Uhr: kurz nach Mitternacht - und stieg in seinen kleinen Wagen, mit dem er in quälender Langsamkeit über die vereiste Landstraße die dreißig Kilometer nach Dünkelskirchen zurückfuhr.