Mitglied
- Beitritt
- 20.04.2002
- Beiträge
- 276
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 17
Horror
Ein letzter Schrei –
Dann ging das Licht im Saal wieder an.
Das Publikum klatschte und johlte begeistert, während Melanie sich nur zögerlich aus der abgesenkten Haltung erhob und argwöhnisch auf die Kinoleinwand starrte, als würde gleich wieder eine böse Überraschung auf ihr erscheinen, um sie zu Tode zu erschrecken. Aber auf der Leinwand lief nur der Abspann, untersetzt mit getragener Konzertmusik.
Melanie wollte nur raus.
Zum x-ten Mal fragte sie sich, warum sie das immer wieder mitmachte. Sie vertrug Horrorfilme überhaupt nicht und konnte danach nächtelang nicht schlafen. Trotzdem ließ sie sich jedes Mal von Lukas aufs Neue dazu überreden.
Weil er solche Filme liebte.
So wie sie ihn...
Lukas und Melanie waren jetzt schon seit ca. drei Jahren ein Paar und hatten sich auf einer Messe für Geschenkartikel kennengelernt – am Puppenstand...
Er hatte nach einem passenden Geschenk für seine Schwester gesucht, die Puppen sammelte. Noch im nachhinein fragte sie sich, woher sie den Mut genommen hatte, ihn anzusprechen. Das war nämlich normalerweise gar nicht ihre Art.
Doch Lukas hatte es imponiert. Und nachdem sie sich ein paar Mal im Café getroffen hatten, tranken sie die nächsten Tassen bei Lukas, der sich extra dafür eine Espressomaschine angeschafft hatte – was sie allerdings erst später erfuhr.
Sie waren beide heimliche Romantiker. Nach außen hin strahlten sie die natürliche Coolness typischer Mittzwanziger aus, doch wenn sie unter sich waren, wurde auf Teufel komm raus gekuschelt, geknuddelt und mit Koseworten um sich geschmissen.
Und wenn nicht seine Liebe für Horrorfilme wäre, wäre alles perfekt. Denn ansonsten stimmte es in der Beziehung. Melanie konnte über alles mit ihm reden. Lukas war unter anderem nicht so eifersüchtig wie ihr Ex-Freund und vor allem für vernünftige Argumente offen. Und im Bett war auch alles in Ordnung. Zwar nicht so toll, dass sie damit angeben könnte, aber immerhin doch gut genug, um damit zufrieden zu sein. Er stand halt nicht so sehr auf andauernden Stellungskrieg und sie lernte schnell, mit den drei Stellungen zufrieden zu sein, die er am liebsten mochte.
Mit all dem konnte sie leben. Aber seine Horrorfilme, die belasteten sie wirklich. Denn danach war sie gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Aus irgendeinem Grund, denn sie nicht verstand, war Lukas die Tatsache sehr wichtig, dass sie seine Filme ebenfalls mochte.
Als sie das erste Mal einen Schlitzerstreifen zusammen gesehen hatten, hatte sie voller Entsetzen den Saal verlassen, weil sie das Blutbad auf der Leinwand nicht mehr ertragen hatte. Davor hatte sie nur Komödien und Liebesfilme gesehen und die teilweise – unfreiwillige – komische Darstellung exzessiver und brutaler Gewalt bei diesem Film hatten sie verstört. Zehn Minuten später hatte Lukas den Saal ebenfalls verlassen, und sie hatten darüber geredet.
Lukas schien auch verstanden zu haben - und hatte nichts dagegen gehabt - daß Melanie sich künftig solche Filme lieber nicht anschauen wollte. Doch schnell hatte sie festgestellt, daß er seitdem ebenfalls solche Filme mied. Sie konnte sich vorstellen, was für eine Überwindung ihn das kosten mußte, denn seine Sammlung an Horrorfilmen war beachtlich und umfangreich. Von alten Schwarz-Weiß-Klassikern bis zu den neuesten Splatter-Movies war fast alles darunter, was einen irgendwie zu erschrecken vermochte.
Umso erschrockener war Melanie, als Lukas ihr eines Tages eröffnete, daß er seine Sammlung für sie verkaufen würde.
Das hatte sie nicht zulassen können.
Auch wenn ein Teil ihrer Seele dauernd gerufen hatte:
"Recht so. Mach nur. Laß Dich nicht aufhalten!!!"
Melanie erinnerte sich noch viel zu gut, wie sehr Lukas in seine Sammlung vernarrt war. Schon bei dem ersten Treffen im Café hatte er ihr fasziniert eine Zusammenfassung der wichtigsten Vampirstreifen von "Nosferatu" bis "From Dusk till Dawn" geliefert, inklusive der üppigen Beschreibung der blutigsten Szenen. (Doch hatte sie zu diesem Zeitpunkt eh meist abgeschaltet und ihn nur verliebt beim Reden beobachtet, während sie nebenher automatisch alles abnickte, was er von sich sprudelte. Er hätte ihr 25 Kühlschränke andrehen können, sie hätte sie, ohne zu Zögern gekauft – auch wenn sie gar nicht das Geld dafür hatte.)
Sie wußte, daß Lukas seine Sammlung über alles liebte. Zuzulassen, daß er sie verkaufte, wäre so, als würde sie ihn zwingen seine Seele zu verkaufen. Also begann sie, ihn anzulügen und etwas von einem Anfangsschock zu stammeln, der sie beim erstmaligen Sehen des Horrorfilms überkommen habe...dass sie aber schon "Blut geleckt" hatte und auf die nächsten Streifen schon ganz gespannt war.
Die Begeisterung von Lukas war grenzenlos und gipfelte in einer zwölfstündigen Horrorfilmnacht, die Melanie tapfer durchhielt.
Seitdem hielt sie jeden Tag durch.
Denn Lukas war jetzt noch begeisterter als vorher bei der Sache.
Wenn es keinen Film im Kino gab, dann ging es in die Videothek – oder er griff gleich auf seine Sammlung zurück. Das einzig Positive an der Sache war, dass, wenn man einen Horrorfilm gesehen hatte, man bereits die Handlung kannte und wußte, wann etwas Schlimmes passieren würde. Und während Melanie sich dann immer scheinbar interessiert nach vorne beugte, damit Lukas nicht mitbekam, dass sie in Wirklichkeit die Augen zukniff, fläzte er sich gemütlich auf seinem Sessel und kommentierte mit trocken-sarkastischen Kommentaren das blutige Geschehen.
Mindestens einen Film am Tag sahen sie zusammen. Und Melanie konnte nicht einmal vortäuschen, müde zu sein oder Kopfschmerzen zu haben...
Natürlich konnte sie es, aber dann kümmerte sich Lukas immer so nett um sie, dass sie jedes Mal ein schlechtes Gewissen bekam und das machte ihr fast mehr zu schaffen, als jeder Horrorfilm, den es zu sehen gab.
Und so war Melanie auch jetzt wieder dabei gewesen, als Lukas von der Doppelnacht "Final Destination 1+2" geschwärmt hatte. Dabei haßte sie die beiden Filme – obwohl sie den zweiten Teil zu diesem Zeitpunkt ja noch gar nicht gesehen hatte.
Aber nachdem sie vor zwei Jahren den ersten Teil gesehen hatte, hatte sie sich kaum allein ins Bad getraut, weil ja irgendein grauenvoller "Unfall" passieren konnte, der einen schrecklichen oder – schlimmer noch – langsamen Tod zur Folge haben könnte. Und dabei war sie dem Tod doch gar nicht von der Schippe gesprungen. Was sollte er also von ihr wollen???
Und das war auch das, was sie am meisten aufregte.
Rational gesehen konnte ihr gar nichts passieren. Hätte sie den Film nicht gesehen, hätte sie ja nie gewußt, daß es solche – kranken – Ideen überhaupt gab und hätte ihr Leben in Ruhe weiterleben können. Aber je mehr Filme sie sich anschaute, desto mehr wuchs ihre Paranoia, denn es gab scheinbar Millionen von Arten, wie man zu Tode kommen konnte:
Eine Schlittschuhkufe, die einem ins Gesicht gedroschen wurde. Ein riesiges Werbeschild, das einfach umfiel, während man nichtsahnend daran vorbei schlenderte. Eine Ansammlung von Vögeln, die sich auf einen stürzten. Killerbienen... Freddy Krüger ...Jason ...Hannibal Lecter... aufgeschlitzt... aufgespießt...Bleistifte in den Augen... Kulis im Hals...geköpft...zerrissen...dehydriert – und was sonst noch alles...
Jede heftige Bewegung in ihrer Nähe ließ ihr Herz flattern und brachte sie an den Rand eines Nervenzusammenbruches. Nach der "Scream"-Nacht, war sie eine Woche lang abends nicht mehr ans Telefon gegangen...
Und warum?
Nur weil sie einen Film gesehen hatte, in dem Schauspieler vorgefertigte Szenen aus einem Drehbuch nachspielten – wenn denn mal ein Drehbuch vorhanden war. Und während die Schauspieler nach ihrem brutalen Ableben und dem "CUT" des Regisseurs wieder aufstanden und feixend Witze über ihr abgefahrenes Make-Up rissen, fuhr Melanie bei jedem zu lauten und fremdartigen Geräusch aus der Haut und starb tausend Tode.
Warum war die Welt bloß so ungerecht? Warum konnte man nicht einen Realitätsschalter in seinem Kopf umlegen, der dem Gehirn überzeugend suggerierte, daß nur Schwachsinn im Kino lief, und der einen alle bösen Szenen auf einen Schlag vergessen ließ?
Warum standen die Leute bloß auf so ein Zeug?
Melanie würde es nie verstehen. Genauso wenig wie sie jemals begreifen würde, warum ein so liebenswerter und fürsorglicher Mensch wie Lukas auf so was abfahren konnte.
Aber vielleicht betrachtete er die Filme durch andere Augen als sie. Wahrscheinlich dachte er dabei so Sachen wie:
Cool, wie haben die das denn gemacht?
Ganz schön viel Kunstblut verbraucht.
Mann, die Gedärme sehen ja fast wie echt aus.
Hey...der unter der Werwolfsmaske, ist das nicht...?
Also fand sie sich damit ab und versuchte verzweifelt, ihre Gedanken in andere Bahnen zu lenken, während Lukas die härtesten Szenen des Films genüßlich auswalzte, nicht ohne auf Fehler innerhalb der Story, der Durchführung oder des Drehbuchs hinzuweisen.
Lukas und Melanie kämpften sich gerade durch die Menge, als er sich plötzlich zu ihr umdrehte und sagte:
"Hey, Melly, was hältst Du davon, wenn wir noch einmal ins Stübl gehen? Ein Bierchen trinken? Was essen? Ich hab nen Mega-Kohldampf."
Seine Augen glänzten voller Vorfreude aufs Essen. Das konnten sie auch, denn aufgrund einer Drüsenstörung konnte er soviel essen wie er wollte. Er nahm so gut wie nicht zu - nur an Weihnachten und auch das hielt meist nicht lange vor.
"Klar", antwortete sie sofort wie aus der Pistole geschossen. "Warum nicht?"
Begeistert nahm Lukas sie bei der Hand und riß sie fast durch die Menge, während er seinen dünnen Körper kunstvoll an jedem vorbei schlängelte.
Melanie wußte genau, warum er dort hinwollte. Dort waren seine Freunde, die fast jeden Abend auf ein bis drei gemütliche Bierchen in ihrer Stammkneipe vorbeischauten. Aber das war in Ordnung, denn die hatten glücklicherweise noch andere Themen im Kopf als nur Horrorfilme.
Lieber hörte sie sich eine Stunde lang frauenfeindliche und versaute Witze an, als über diese verdammte Doppelnacht zu grübeln...
Wie zu erwarten war, waren alle da.
Zuallererst begrüßte sie den Dauerstammgast des Stübl.
"Hallo Werner."
"Hi, mein Zuckermäuschen."
Werner hatte immer viele nette Spitznamen für sie. Wenn er nicht gerade vorgab, sie heiraten oder unanständige Dinge mit ihr tun zu wollen, wenn sie nur endlich diesen "Idioten" – dabei zwinkerte er immer hektisch mit zwei Augen, (da er nicht mit einem Auge blinzeln konnte), um zu zeigen, das das natürlich nicht ernst gemeint war – da loswerden würde, ließ er sich von ihr einen ausgeben.
Allerdings nur von ihr.
Von anderen nahm er nichts an.
Wenn die anderen, Werner was zukommen lassen wollten, mußten sie es Melanie heimlich zustecken.
"Na...bis Du mir auch schön treu gewesen?" fragte sie deswegen auch gleich zwinkernd, während sie mit einer Hand auf das Bier auf dem Tisch deutete.
"Hoch und heilig...hoch und heilig...das hab ich selbst bezahlt...stimmts, Gerd?...Stimmt doch, oder?"
"Hat er tatsächlich", antwortete Gerd, der Wirt grinsend und kopfschüttelnd. "Schon das zweite Mal in dieser Woche. Wenn das so weitergeht, dann will er am Ende noch seine Schulden hier bezahlen."
Und während Gerd das sagte, holte er mit seinen großen Händen einen gläsernen Maßkrug unter der Theke vor, der vor Kassenzetteln fast überquoll.
Alle lachten.
Werner gehörte schon fast zur Einrichtung des Stübl und niemand konnte ihm böse sein. Es gab ja auch keinen Grund dazu. Er war immer fröhlich, gut gelaunt und hatte die derbsten Scherze auf den Lippen. Nur zuviel trinken durfte er nicht, denn mehr als fünf Humpen vertrug er nicht. Deswegen ging er normalerweise auch immer nach dem vierten Bier heim.
Er war mal Lehrer gewesen, allerdings nur zwei Jahre lang. Dann hatte er es nicht mehr ausgehalten...
("Die Kinder sind jedes Halbjahr immer frecher geworden. Da war zwischen Ausnutzung und Anmache alles dabei. Und wenn dann was passiert, ist immer der Lehrkörper schuld, da das "Balg" ja IMMER brav ist. Irgendwann wär ich ausgeflippt und Amok gelaufen. Da hab ich die Arbeit lieber geschmissen...")
...und auf dem Bau angefangen. Jetzt war er Vorarbeiter und eigentlich recht zufrieden, laut eigener Aussage. Warum Werner dann allerdings jeden Abend in der Kneipe verbrachte, war Melanie ein Rätsel. Darauf einmal angesprochen hatte Werner nur gefeixt und geantwortet:
"Wegen Dir natürlich, Mäuschen, weswegen denn sonst..."
Aber Werner war schon an ihrem ersten Abend dort gewesen und hatte auch bereits zum "Stübl" gehört, als Gerd es übernommen hatte.
"Der war schon immer da, den hab ich mit dem Mobiliar übernommen, befürchte ich", hatte Gerd grinsend erzählt, als Melanie ihn darauf angesprochen hatte. "Der Johannes Hoiter hatte mich schon vorgewarnt, daß ich mit seinem Laden etwas übernehmen würde, was ich garantiert nicht mehr los werde..."
"Aber jetzt, wo Du schon mal da bist, da könnte ich ja noch ein oder zwei...", druckste Werner gerade herum.
"Aber klar doch...Gerd!...Die nächsten gehen auf mich...", entgegnete Melanie lachend.
"Bist n Schatz, Mädel...n echter Schatz."
Mit diesen Worten hob Werner sein Glas und prostete ihr zu.
Sie wandte sich mittlerweile dem Tisch zu, an dem Lukas und seine drei Freunde Platz genommen hatten. Robbie, Ernst und Holger.
Robbie hatte seit einem Motorradunfall ein lahmes Bein. Was ihn allerdings nicht daran hinderte, eine Frau nach der anderen abzuschleppen. Er hielt nicht viel von Monogamie und hatte meist mehrere "Häschen" gleichzeitig laufen – momentan drei.
Melanie hatte schon mehrfach versucht, ihm ins Gewissen zu reden, allerdings umsonst. Die einzige Antwort, die sie bekommen hatte, war:
"Was beschwerst Du Dich eigentlich? Ich laß Dich doch in Ruhe. Ausserdem sag ich jeder Frau, daß ich kein Beziehungstyp bin. Sie wissen also Bescheid, auf was sie sich einlassen."
"Sagst Du es Ihnen bevor – oder nachdem – Du sie flach gelegt hast?"
"Natürlich davor", hatte er sich entrüstet.
"Wann davor?" hatte sie nachgehakt.
"Kurz davor."
Ernst und Holger waren dagegen richtig zahm und ein eingespieltes Team. Was daran lag, daß sie nicht nur schwul, sondern auch ein Paar waren. Sie paßten besser zusammen als jedes Ehepaar, daß Melanie bis jetzt kennengelernt hatte. Manchmal unterhielten sie sich – und ihre Freunde – nur in Bruchstücken von Sätzen, weil Ernst immer den Satz von Holger beendete und umgekehrt. Das taten sie in so perfekter Synchronisation, daß es wie einstudiert wirkte. Aber das war es nicht. Sie taten es einfach. Trotzdem sorgte das immer für Lacher bei den Freunden.
Ernst und Holger hätten mit dieser Nummer Geld verdienen können, wenn sie es hätten steuern können, doch das konnten sie nicht. Manchmal geschah es, manchmal nicht. Es war irgendwie nur eine Macke, die beide zusammen entwickelt hatten. Und Macken dieser Art funktionierten selten, wenn man sie jemandem zeigen will.
"Hallo Leute!"
"Hi Mel", grüßte Robert kurz, während er mit der linken Hand intensiv eine Nachricht mit seinem Daumen in sein Handy hämmerte und mit der rechten Hand die Zigarette zum Mundwinkel führte. Wahrscheinlich besäuselte er wieder eine seiner neuesten Errungenschaften – oder bürstete sie eiskalt ab.
"Hallo Mellyschätzchen", flöteten Ernst und Holger unisono, während sich beide vom Stehtisch aufrichteten und ihre "quasischwule" Haltung annahmen:
Den Rücken durchgedrückt, die Hände nach links und rechts abgewinkelt oder in die Hüften gestemmt wie Prostituierte, die auf ihre Freier warteten. Den Oberkörper leicht nach vorne geschoben, hielten sie Melanie gönnerhaft ihre Wangen hin, damit sie ein Küßchen drauf hauchen konnte.
Danach entspannten sie sich wieder und lümmelten wie die anderen auch an dem Tisch herum.
"Und wie war die Doppelnacht?" grinste Holger sie herausfordernd an, als wüßte er genau, dass sie die "Ich-liebe-Horrorfilme"-Scharade nur für Lukas durchzog. Wahrscheinlich war es auch ganz genau so.
"Hammerhart", war das Einzige, was sie daraufhin entgegnete. Mehr musste sie auch nicht sagen, denn Lukas sprudelte innerhalb kürzester Zeit die Story beider Films runter, verglich sie nebenbei gekonnt miteinander und mit ähnlichen Werken aus Asien, und er beschrieb noch einmal die grausigsten Szenen beider Teile in allen blutigen Einzelheiten.
Robert hob während des Vortrags grinsend den rechten Mundwinkel, während Ernst und Holger angeekelt zurückwichen:
"Das ist ja widerlich. Wie kannst Du so was nur angucken? Irgendwann wirst Du noch mit einem Fleischermesser über unsere kleine Melly hier herfallen." entfuhr es Holger wie jedes Mal.
"Ach, so ein Quatsch. Das ist doch alles nur gespielt. Nichts davon ist echt...."
"Genau", wurde er von Gerd unterbrochen, der lautstark zwei Bier vor den Neuankömmlingen postierte. "Denn das einzig Wahre ist DAS hier. Mein Bier."
"Na, wenns schon mal da steht, dann sollte man es auch nicht verdunsten lassen. Also Prost!" Mit diesen Worten hob Robert sein Glas an und prostete den anderen zu. Dann kippte er es auf Ex.
"Pah! Angeber!" kam es sofort von Lukas, der sein Bier lieber genoß und nur zwei Schluck davon getrunken hatte. Auch Holger, Ernst und Melanie stimmten sofort mit ein und pseudobeschimpften ihren Kumpel:
"Du Bieratmer!"
"Kumpelschwein – jetzt müssen wir wieder warten, bis Dein neues Bier kommt..."
"Saufnase!"
Es sollte ein lustiger Abend werden...
Drei Stunden später waren Robert und Lukas so richtig volltrunken. Arm in Arm hielten sie sich schwankend am Tisch fest und grölten Trinklieder.
"Es geht doch nichts über wahre Liebe...", begann Holger.
"...unter Männern", endete Ernst.
Melanie hatte sich wohlweislich nur an Cola festgehalten – vom ersten Bier mal abgesehen. Schließlich mußte sie ihren alkoholisierten Freund ja noch nach Hause fahren können. Allerdings schien der trotz steigendem Alkoholpegel einfach nicht müde werden zu wollen, während Melanie schon seit zehn Minuten dauernd gähnen musste.
Auch Werner hatte wieder einmal Talsperre gespielt und sich volllaufen lassen. Dieses Mal hatte sie allerdings nicht wie sonst aufgepaßt, wieviel Bier sie ihm ausgegeben hatte.
So war es schließlich dazu gekommen, daß Werner "aus Versehen" ihren Stehtisch abgeräumt hatte, als er ein weiteres Bier bei ihr schnorren wollte. Als Melanie bei Gerd nachfragte, dass wievielte Bier sie denn jetzt schon bezahlen würde, erschrak sie fast zu Tode, als dieser "Sieben" sagte...
"Sieben???", rief Melanie erschrocken aus. "Dann wären das mit dem ersten ja schon acht. Nein, Werner, das reicht...tut mir leid...das nächste Mal wieder..."
"Nu no oins...nu no oins", hatte er genuschelt, sich dann aber doch brav getrollt und war nach Hause gegangen.
Das war vor einer halben Stunde gewesen.
Lukas und Robert schienen immer noch bester Stimmung, während sie selbst die Müdigkeit in allen Knochen spürte.
"Holger?...Ernst?", wandte sie sich an das Pärchen. "Könntet Ihr mir einen Gefallen tun?"
Mit Kennerblick ließ Holger seinen Blick über die beiden schweifen, während Ernst die richtige Schlußfolgerung zog:
"Wir sollen die beiden Schnappsdrosseln nach Hause bringen..."
"Ja...das wäre nett...aber ich will nur den Schlaksigen da. Der, der nicht hinkt und unverschämt dauernd arme, unschuldige Frauen flach legt." sagte sie grinsend.
"Des habbisch g'ört", meldete sich Robert sogleich zu Wort. "Is alles gannisch wa'. S' gibbd ga geine ammen...unschulligen Fraun, dassinn alles – "
"Vorsicht, Robbie!" zischte ihn Melanie an, urplötzlich ernst geworden. "Treib's nicht zu weit!"
"...Sch –" Hier verstummte Robert.
Er war betrunken, aber nicht lebensmüde. Das letzte Mal, als er sich gehen ließ, bevor Melanie das Lokal verlassen hatte, hatte sie ihm fast ein Veilchen verpaßt. Nur dem rechtzeitigen Eingreifen Lukas' war es zu verdanken gewesen, daß damals nicht mehr passiert war. Und jetzt war Lukas nicht wirklich in der Lage, ihm zu helfen – oder ihr.
(So ungern Melanie das Wort "Schlampe" hörte, so ungern ließ sich Robert von Frauen schlagen, da er es für ein Zeichen für Schwäche hielt, einer Frau unterlegen zu sein – in welcher Hinsicht auch immer.)
So schwieg er lieber und sah zu, wie sich Melanie von allen verabschiedete, ohne ihm zu nahe zu kommen.
"Bis zum nächsten Mal", sagte sie nur zu ihm, lächelte aber schon wieder. Dann drückte sie noch einmal Lukas und küßte ihn, obwohl seine Fahne sie fast umbrachte.
"Tschüss, Schatz – und sei nicht so laut, wenn Du heimkommst..."
Als Melanie die Tür hinter sich schloß, schien sich auch die Realität der Zivilisation zu verabschieden.
Hinter der Tür des Stübl waren Licht und Freunde gewesen.
Vor ihr lagen Dunkelheit und Kälte.
Und das Grauen...
Natürlich wußte sie, wie lächerlich es war, mit umherschweifenden Blicken nach den tiefen Schatten zu suchen, die irgend etwas verborgen halten könnten, was ihr Schaden zufügen mochte.
Doch...
Am liebsten wäre sie wieder zurückgegangen – unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand. Aber wahrscheinlich hätten ihre Freunde ihr die Angst an ihrem Gesicht ablesen können, und diese Blöße wollte sie sich dann doch nicht geben.
"Es ist doch nur der Parkplatz", versuchte sie sich einzureden.
Aber hatte es da vorher nicht mehr Licht gegeben?
(Hatte die Stadt, weil sie sparen mußte, Laternen abgebaut? )
Unsicher ging sie los.
Ihre Schuhe klackten auf dem Kopfsteinpflaster vor der Kneipe, und das Geräusch schien hohl in der Gasse wieder zu hallen. Der Parkplatz lag auf der anderen Straßenseite. Er war riesig und einfach zu übersehen.
Es standen nur noch fünf Autos da.
Ihres und vier andere.
Total verstreut.
Sie sollte es sehr schnell bemerken, wenn jemand auf sie zukommen würde.
Aber würde es ihr auch etwas nützen?
Während sie sich auf den Parkplatz zu bewegte, öffnete sie ihre Tasche und kramte blind nach ihrem Schlüssel, ohne die dunklen Ecken in ihrer Umgebung aus den Augen zu lassen, aber es war wie verhext. Sie konnte ihren Schlüsselbund klimpern hören, aber bekam dauernd etwas anderes zwischen die Finger:
Ihren Lippenstift, ihre Brieftasche, eine Packung Taschentücher –
Verdammt...
Das machte sie nur noch nervöser, denn genau das war die klassische Situation eines Horrorfilms:
Das Opfer sucht panisch nach dem Schlüssel für das Auto und kann ihn nicht finden, während sich das Böse von hinten anschleicht.
VON HINTEN!
Einer Eingebung folgend wirbelte sie herum –
aber da war nichts außer der Straße, die sie überquert hatte und den dunkel getönten Scheiben des "Stübl".
Gehetzt drehte sie sich einmal im Kreis. Sie vermeinte die Bedrohung förmlich zu spüren, auch wenn sie nichts sah.
Ihr Herz schlug viel zu laut. Sie konnte kaum etwas Anderes außer ihrem heftigen Herzschlag hören.
Oder war es der Puls?
Und hatten nicht gerade ihre letzten zwei Filme, bewiesen, daß es gar keine Monster brauchte, um sie zu töten, sondern nur der Tod selber, der noch eine Rechnung mit ihr offen hatte.
'Aber ich bin ihm doch gar nicht von der Schippe gesprungen. Ich hatte keine Visionen vom nahenden Tod, dem ich entkommen bin, nur damit er mich weiterhin verfolgt...'
Aber der Gedanke blieb.
Die Laternen schienen dunkler zu werden.
Nur einen kleinen Schimmer.
Oder bildete sie sich das nur ein?
Das Gefühl eiskalter Panik setzte ein, während ihr Mund kleine weiße Wolken ausspie.
(Eine Szene aus "Sixth Sense" fiel ihr ein:
Ein kleiner, blaßgesichtiger Junge mit weit aufgerissenen Augen, der Geister sieht und das Prinzip jemandem zu erklären versucht, der sich später selbst als Geist erweist. In seiner dünnen, fast flüsternden Stimme sagt er:
"Wir können spüren, wenn Geister hinter uns sind, wenn sich plötzlich die Temperatur ändert und es kälter wird, dann sind es die Geister, die hinter uns stehen...Sie beobachten uns und sind überall."
Sagte er das nicht so ähnlich?
Lukas hatte den Film als langweilig empfunden und gleich erkannt, dass Bruce Willis tot sein musste.)
Wieder drehte sie sich um.
Und wieder war nichts zu sehen.
Melanie wollte nur noch nach Hause. Sie riß sich zusammen und hielt die Tasche unter eine Laterne, während sie den Schlüssel suchte und auch endlich fand. Dann rannte sie zum Auto – es war ihr egal, ob es jemand beobachtete und wie es auf denjenigen wirken mochte – steckte den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn herum.
Zumindest versuchte sie es, aber der Schlüssel schien zu klemmen.
"Nein", stieß sie angsterfüllt hervor, während sie den Schlüssel verzweifelt hin und her drehte und sich dabei in alle Richtungen gleichzeitig zu drehen versuchte, um womöglich nahendes Unheil rechtzeitig zu erkennen.
Tatsächlich hörte sie es schließlich klacken.
Sie riß an der Tür.
Doch die war zu.
"Nei...ein", wimmerte sie, gepackt von der grausigen Erinnerung an einer Unzahl von Szenen, bei denen Frauen nicht rechtzeitig in ihre Autos kamen und dafür leiden – STERBEN – mußten.
Wieder drehte sie den Schlüssel, erneut klackte es, und dieses Mal ging die Tür auf.
Melanie schmiss sich förmlich auf den Fahrersitz, riss knallend die Tür zu und hämmerte den Knopf der Türsicherung nach unten.
Stieß den Zündschlüssel so hart ins Schloß. das er fast abbrach.
'Geh an', dachte sie nur. 'Bitte geh an.'
Mit dem üblichen satten Ton sprang das Auto an, als wollte es ihr sagen, daß alles in Ordnung war und sie sich keine Sorgen zu machen brauchte.
Sie war sicher.
Aber das war sie nicht.
Und nichts war in Ordnung.
Das merkte Melanie, als sie einen routinemäßigen Blick in den Rückspiegel warf-
- und ein schelmisch zwinkerndes Augenpaar sah...
- und erstarrte...
Sie hätte den Bierdunst in der Luft nicht gebraucht.
Sie hätte auch die hart zupackende Hand nicht gebraucht, die ihre rechte Brust "liebkoste", als würde sie die Festigkeit von Kokosnüssen testen. Der Schock saß so tief, daß sie den Schmerz im ersten Moment gar nicht spürte.
Sie hätte nicht den anderen Arm gebraucht, der sich halbwegs sanft um ihre Kehle legte, um sie an ihrem Platz auf dem Fahrersitz zu halten.
Und sie hätte nicht die Stimme gebraucht, die sanft lallend durch das Auto hallte:
"Hab auffich gewadded....Sssugggamoischen...wi wedden viiiil Spasss hammm"
Melanie bekam von dem ganzen Drumherum gar nichts mit. Sie konnte nur auf das Augenpaar starren, während ihr zum ersten Mal bewußt wurde, daß der Horror nicht dort draußen lag.
Nicht in einem Hollywoodfilm mit noch so blutigen Szenen.
Nicht in Monstern und Untoten oder Vampiren, die nach ihrem Blut dürsteten.
Nein, der Horror – ihr ganz persönlicher Horror – lag in einem zwinkernden Augenpaar.
Einem Augenpaar, das nur mit beiden Augen zwinkern konnte...
ENDE