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Hornissen in der Morgendämmerung
Durch die Ritzen des verbretterten Fensters wimmerte der Wind. Julia schloss leise die Tür und drehte sich um. Das kleine Zimmer lag im Halbdunkeln. Ihre Mutter, Cecille, wippte im Schaukelstuhl.
„Ruhig.“, flüsterte sie ihr zu. „Sie kommen wieder.“
Die Kufen knarrten auf dem Holzfußboden.
Julia schlich, so leichtfüßig als möglich, zu ihr und griff nach der Lehne.
Sie sah, wie Cecille starr auf das Gemälde an der Wand starrte und ihre wippende Bewegung beibehielt.
„Wir müssen jetzt sehr leise sein, Mutti. Bitte beweg dich nicht. Du weißt, sie reagieren auf Laute und Bewegungen.“
Sie legte behutsam die Hand auf die Schultern ihrer Mutter. Waren sie verkrampft vom Sitzen oder starr vor Angst? Julia wusste es nicht genau, konnte sich aber beides vorstellen. Für eine alte Frau, die die Todesschreie ihres Ehemanns miterlebt hatte, musste jeder Tag wie ein Alp sein und jede Nacht dunkler als der schwärzeste Traum. Doch weder Tag noch Nacht hielten Gefahren bereit, wie sie die Dämmerung gebar. Immer und immer wieder, seit mehreren Monaten.
Julia hörte das metallne Summen. Sie mussten jetzt nahe dem Haus sein. Wie in jeder Dämmerstunde faltete sie die Hände vor der Brust ihrer Mutter und fiel in eine Starre.
Das Summen wurde lauter, hörte sich wie tausend feine Messer an, die die Luft zerritzen. Eine Phalanx aus fliegenden Kriegern auf der Suche nach Beute.
Automatisch gruben sich Julias Finger in den Kleiderstoff der Mutter. Ihre Augen waren fest zusammengekniffen, als wolle sie die Außenwelt ausblenden oder den Tränen verbieten zu kullern. Das verzerrte Gesicht erinnerte an Schmerzen, an schlimme Erlebnisse, an Furcht vor dem, was die Luft zerschnitt. Wohl möglich, dass Julia am liebsten geschrieen, die ganze Anspannung entladen hätte, doch in der Art, wie sie bei ihrer Mutter stand, so erstarrt und regungslos, war es schwer vorstellbar, dass sie überhaupt noch atmete, überhaupt noch Luft in ihren Lungen war.
Julia hörte, wie das Summen leiser wurde, doch sie verharrte noch eine Weile in der schützenden Position. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich die stählernen Hornissen eines solchen Tricks bedient hätten. Sie waren gefährlich, listig, fast intelligent.
Erst, als sie sich sicher war, rein gar nichts mehr zu hören, lockerte Julia ihren Griff.
„Sie sind weg, Mutti. Sie haben uns nicht gefunden.“
Der Schaukelstuhl wippte wieder vor und zurück. Julia schaute zur Wand.
„Du denkst noch oft an ihn, habe ich Recht?“
Cecille schwieg.
„Ich auch. Wir alle denken oft an ihn. Ohne ihn wären wir längst tot.“
Nur das Knarren war zu hören.
„Ich werde wieder zur Zentrale gehen.“
Sie gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange, rückte noch das Rückenpolster zurecht und ging dann zur Tür.
„Ich liebe dich.“, sagte sie, schloss die Tür und zog sich den Schutzanzug über.
Sie musste etwa einen halben Kilometer laufen, bis sie vor dem Titantor stand. Schnell tippte sie den Code auf der Tastatur ein und betrat die Zentrale. In der Schleuse wurde sie mit einer gelblichen Flüssigkeit abgespritzt. Eine Stimme gab den Grad der Tarentium-Konterminierung mit vier Prozent an.
Ein grünes Licht leuchtete auf und Julia durfte passieren.
Eine junge Frau kam auf sie zugestürmt. „Komm schnell, Julia! Die neuen Daten sind errechnet!“
Julia entledigte sich des Anzugs und folgte ihr eilig zu einem Bildschirm, der an der Ostwand des Gebäudes angebracht war.
„Siehst du, die letzte Konzentration war noch zu gering, aber die nächste müsste ausreichen, um die Viecher aufzulösen!“ Die Frau deutete auf die Grafik. „Die Tarentium-Chemikalie zerfrisst ihren Panzer und dann die Steuerelektronik. Ohne die sind sie erledigt. Das wirkt in etwa so wie ihr Gift: Es blockiert unsere Nerven, wir blockieren ihren Apparat!“
Julia schaute skeptisch drein, worauf die Frau ihre Brille richtete und fort fuhr: „Wenn wir bis zur nächsten Dämmerung Sprühanlagen auf den Bergen errichten können und zusätzlich mobile Einheiten an den strategischen Punkten postieren, haben wir eine Chance!“
„Es ist ja nicht so, dass ich deinen Berechnungen nicht traue, Silvia, aber…“ Julia kratze ihren Hinterkopf.
„Sie wird kneifen! Wie sie immer kneift, wenn es ein Risiko gibt!“ Julia drehte sich um und sah in Stefans kantiges Gesicht.
Er streckte sein Kinn vor und fügte hinzu: „Genau wie dein Vater! Vielleicht solltest du es ihm gleichtun und einfach verschwinden – für immer!“
Julia sah, wie er sie herablassend anschaute. Aus seinem Blick sprach Verachtung und Geringschätzung.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Spar dir deine infantilen Ratschläge – sie interessieren hier niemanden!“
„Die einzige Tochter des großen Professors schwingt leere Reden. Wie amüsant. Das konnte dein Vater auch gut: viele Worte, nichts dahinter! Wir hätten schon vor einem Monat auf mich hören und es diesen Biestern zeigen sollen! Stattdessen sitzen wir hier verängstigt wie die Maus vor der Katze und warten bis wir gefressen werden! Und ich soll infantil sein? Wer versteckt sich denn bei jeder Dämmerung noch bei Mutti, hä?“
Julia schien sich nicht provozieren zu lassen und schüttelte den Kopf. „Das wird dein steinernes Herz nicht verstehen!“
Silvia aber sagte: „Vielleicht sollten wir ihre Mutter hierher holen und dich in den Außenbereich umsiedeln.“
Stefan grinste überlegen. „Die graue Maus kann sprechen! Keine Personen über 50 in der Zentrale – aus Platzgründen. Ein gutes Gesetz, finde ich. So wurden wir auch den greisen Professor los und ich konnte bleiben. Und nun, Mäuschen, wende dich lieber wieder deinen Formeln zu. Wir haben morgen etwas zu erledigen!“
Stefan machte eine ironische Verbeugung und ging pfeifend davon.
„Was für ein Arschloch!“, meinte Silvia. „Glaubt, er sei der Größte, weil er es von Northtown bis hierher geschafft hat.“
Sie sah Julias trauriges Gesicht. „Dein Vater hat mit der Tarentium-Formel Großes geleistet. Wir haben ihm viel zu verdanken und werden es nie vergessen.“
„Mutter sitzt nur noch apathisch in ihrem Schaukelstuhl. Seit sie seine Todesschreie gehört hat, spricht sie nicht mehr. Sie wippt nur noch und wippt und wippt…“
Eine Träne lief über Julias Wange und stürzte dann vom Kinn, als wolle sie vergessen, in die Tiefe.
Julia schluchzte und fragte dann: „Funktioniert das Funkgerät wieder? Haben wir Northtown erreicht?“
„Leider nein. Irgendetwas stört unsere Verbindung. Wir versuchen es seit Stefans Ankunft - vergeblich.“
Julia schaute zu Boden. Sie schien betrübt oder nachdenklich oder beides zusammen. Einige Sekunden hielt sie inne, schaute dann auf und sagte: „Stefan hat Recht. Wir sitzen hier und warten auf das Ende. Die Hornissen sind die stärkste Waffe unseres Gegners. Wenn wir sie ausschalten, schaden wir ihm empfindlich. Wir müssen es riskieren, auch ohne Unterstützung aus Northtown.“
Jürgen, ein muskulöser Mann und Anführer der Spezialeinheit, kam zusammen mit dreißig Soldaten in Tarnanzügen in die Zentrale und ging zu den beiden Frauen.
„Wie lautet der Plan, Julia?“
Julia schaute auf den Bildschirm. Er zeigte eine topografische Karte mit den umliegenden Hügeln und die für die Sprühanlagen vorgesehenen Installationspunkte. Rechts davon wurden Wetterdaten angezeigt.
„Es ist riskant.“, sagte sie. „Sehr sogar. Der Kessel hat einen Radius von über 500 Metern – ein großes Gebiet, das besprüht werden muss. Windgeschwindigkeit und Luftfeuchtigkeit müssen gering sein, damit das Tarentium-Aerosol weder verweht noch durch Regen unwirksam gemacht wird. Die strategischen Punkte für die mobilen Einheiten – hier, da und dort…“, zeigte Julia kreisförmig um das Dorf, „…liegen ohne Sichtschutz durch Gebäude oder Vegetation. Die Gefahr, entdeckt und angegriffen zu werden, ist groß. Dennoch brauchen wir diese zusätzliche Attackierungspunkte, sonst haben wir keine Absicherung, falls etwas schief läuft. Was meinst du, Jürgen?“
Jürgen stemmte die Hände in die Hüfte. „Wir werden unsere Schutzanzüge entsprechend tarnen. Wenn die Phalanx der Hornissen über uns geflogen ist, werden wir die stationären Sprühanlagen aktivieren. Das Aerosol sollte die Metallschicht der Biester zerstören.“
„Zieht besser noch eine zweite Schutzschicht an, damit ihr auch wirklich sicher seid!“
„Die Chemikalie zersetzt nur Metalle. Aber du hast Recht, Silvia. Wenn wir gestochen werden sollten, haben wir eine zusätzliche Absicherung! Nach dem Sprüheinsatz werden vereinzelte Hornissen überlebt haben, die wir dann mobil bekämpfen.“
„Erst Atellerie, dann Infanterie also!“, sagte Julia.
„So ist es gedacht! Ich und meine Jungs räumen auf, was übrig bleibt!“
„Und ich werde dabei sein!“ Stefan war unbemerkt wiedergekommen. „Haben wir also den Angsthasen besiegt, Julichen?“
„Sie sprechen mit einem Vorgesetzten, Stefan!“, sagte Jürgen harsch. „Verhalten Sie sich auch so!“
„Ich gehorche meinem Vorgesetzten in Northtown, sonst niemandem!“
Jürgen wandte sich zu Julia. „So einen will ich nicht bei der Mission dabei haben. Er könnte den ganzen Einsatz gefährden!“
„Ich weiß“, sagte Julia, „aber wir können ihn nicht zwingen, in der Zentrale zu bleiben. Und bevor ich sein Leben auf dem Gewissen habe, werde ich ihn entsprechend ausrüsten, damit er da draußen wenigstens eine geringe Chance hat zu überleben.“
„Seid ihr endlich fertig mit euren Heimlichtuereien? Schaut mal auf die Uhr: in ein paar Stunden dämmert der Morgen. Wir müssen uns vorbereiten, oder nicht?“
Julia und Jürgen schauten sich an. „Na gut!“, sagte er zu Julia. „Weil du es bist.“
Er wandte sich zu den Soldaten. „Also los Männer: Wir haben die Atellerie zu laden!“
Kurz vor der Dämmerung waren auf den umliegenden Bergen die Sprühvorrichtungen postiert.
Julia rechnete nochmals alle Daten gegen. Wenn der Sprühdruck über 50 Bar beträgt, würde sich der Nebel über den ganzen Kessel ausbreiten. So konnten sie tatsächlich mehrere tausend Hornissen vernichten.
Sie schaute auf die Uhr. Noch etwa fünf Minuten bis zur Morgendämmerung.
Das Walkie-Talkie rauschte, dann meldete sich Jürgen. „Die Späher melden den Anflug der Hornissen. Sie sind noch etwa fünf Kilometer entfernt und sind in etwa zehn Minuten hier.“
„Ihr wisst, was ihr zu tun habt! Viel Glück, Jürgen. Ich liebe dich!“
„Ich dich auch, Julia! Wird schon schief gehen…“
Plötzlich war die Stimme eines der Soldaten zu hören. „Sir, ich habe im Gebirge ein verdächtiges Gerät gefunden. Wenn mich nicht alles täuscht ist es ein Richtstörer, der auf unsere Antenne ausgerichtet ist!“
„Was?“, rief Jürgen. „Sofort zerstören!“
„Ay Sir!“
Julias Atem stockte. Ein Richtstörer? Was hatte das zu bedeuten?
Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie rannte zur Funkstation und kontaktierte Northtown. „…kommen. Ende.“
„Hier Northtown. Was war denn bei euch los? Wir haben über einen Monat nichts von euch gehört und das Schlimmste vermutet. Alles in Ordnung? Ende.“
„Habt ihr jemanden namens Stefan geschickt? Ende.“
„Negativ. Das gesamte Gebiet zwischen uns und euch ist mit Millionen Hornissen verseucht. Ein Bild des Schreckens! Ende.“
Einen Augenblick später hörte sie mehrere dumpfe Schläge. „Detonationen!“, schrie sie und rannte zum Walkie-Talkie zurück.
„Kommen Jürgen!“
„Die Stationen sind explodiert und die Hornissen greifen an! Sie finden uns, obwohl wir uns nicht bewegen. Ich- arrgh…“
Julia stockte das Herz.
„…liebe d…“
„Jürgen!“, schrie sie. „JÜRGEN!“
Nur noch das Rauschen war zu hören.