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Horizont
Ich denke gerne an die Zeit zurück. An die Zeit, in der ich noch mit dir zusammen war. An die Zeit, in der wir uns sehen konnten, ohne unsere Augen zu verschließen.
Dieser kurze, von Liebe erfüllte Lebensabschnitt. Wie die Schirmchen eines Löwenzahns hielten wir zusammen, schwankten im sanften Sommerwind, bis letztendlich eine Böe kam und uns auseinander stob. Jeder flog davon.
Und du noch weiter, weit über den Horizont hinaus ließ dich der Wind treiben, bis du selbst für ihn zu weit entfernt warst.
Wie sollte ich dich da noch erkennen?
Du hattest einmal gesagt, dass Vergessen das wahre Sterben ist und dass der Tod nur ein Sichtfeld ist, das man überfliegen muss, um zu einer neuen Realität zu gelangen.
Ich hoffe du hast es geschafft, denn gestorben bist du nicht. Du bist immer noch hier. Ein Teil von mir. Ein Teil von der Löwenzahnblume.
Wenn ich meine Augen schließe und mich tragen lasse, dann spüre ich dich, dann sehe ich dich, dann bist du nicht mehr weit entfernt. Doch der Wind kann dich nun nicht mehr berühren, nur ich kann das. Du bist hier.
Meine Augen sind offen und ich stecke immer noch vor dem Horizont fest und kann nicht entkommen.
Ich stehe an deinem kalten Stein und sehe die Blumen, welche sanft und anmutig ihre Köpfe hin und her bewegen.
Der Himmel ist trüb, grau, wolkenverhangen, dennoch ähnelt er dir. Du warst nie eine offene Person, immer etwas verschlossen, verängstigt. Hast dich zu sehr um andere gekümmert und letztendlich die Lasten von Hunderten auf deinen schmalen Schultern tragen müssen, allen voran meine.
Es tut mir so leid. So unendlich leid.
Ich lasse mich auf die Erde fallen, spüre die Kälte, die Angst und Verzweiflung. Sie keimen in mir. Ich weiß es. Sie fangen an, Wurzeln zu schlagen und sich in meinem Inneren zu manifestieren.
Langsam hebe ich meinen Kopf, schließe die Augen und blicke in dein lachendes Gesicht. Du winkst mich zu dir.
Ich gehe vorsichtig auf dich zu, sehe den Horizont und bleibe vor ihm stehen.
Dein Gesicht wird blass und ich strecke meine Hand aus, doch anstatt dich zu berühren, deine Wärme zu spüren, die ich so dringend bräuchte, fasse ich an kalten, herzlosen Stein. Meine Lider öffnen sich.
Du bist nicht fort, nur in einer anderen Welt. Auf der sogenannten anderen Seite.
Tränen fließen über mein Gesicht und ich beginne zu schreien.
Sofort bemerke ich, wie sich eine feste Hand um meine Schulter schließt und mich auf die Füße zieht.
„Die Besuchszeit ist vorbei und der Gefangenen-Transport wartet nicht ewig. Ihr Prozess wird bald beginnen.“
Dein Horizont färbte sich rot. Dunkelrot. Blutrot.
Ich stehe immer noch hier und vermisse dich so sehr, obwohl ich dein Fährmann war.