Horizont
Der Frühling hatte dunkel und kalt begonnen, es war seit Monaten der erste sonnige und warme Tag. Fröhlich durchschritt ich den Torbogen der Stadtmauern. Reges Treiben herrschte auf den Straßen. Der Gestank von Abfall, Menschen- und Tierexkrementen schlug mir entgegen. Die Natur würde noch einige Wochen brauchen um den Müll des Winters zu beseitigen. Es war Sonntag, das gemeine Volk brauchte nicht zu arbeiten. Ich betrat den Marktplatz und blieb an einer großen weit ausladenden Buche stehen. Ein Schreiben, vergilbt und von Feuchtigkeit gezeichnet, erregte meine Aufmerksamkeit.
Zur Einhaltung des Landfriedens im Jahre 1152:
Das Recht der Leute solle gesichert sein, der Friede in allen Gauen unseres Reiches wird erhalten, wenn folgende Bestimmungen beachtet werden:
Tötet jemand einen Menschen, muss er die Todesstrafe auf sich nehmen. Es sei denn, er könne durch Zweikampf beweisen, dass er jenen anderen bei Verteidigung des eigenen Lebens erschlagen hat. Wenn er nicht unter dem Drucke der Not, sondern vorsätzlich jenen getötet hat, dann gebe es für ihn weder den Zweikampf noch eine andere Entschuldigung, sondern er werde zum Tode verurteilt.
Wenn jemand einen anderen Menschen verwundet, dann werde ihm, falls er nicht im Zweikampf beweist, dass er dies bei der Verteidigung des eigenen Lebens getan hat, die rechte Hand abgeschlagen.
Wer einen Gegenstand im Werte von fünf Schillingen oder mehr stiehlt, soll am Strick aufgehängt werden, wenn der Wert geringer ist, werde der Dieb mit Ruten gestrichen, mit Zangen gepeinigt oder kahl geschoren.
Die Richter vor Ort sollen dem Rechte entsprechen.
gezeichnet Kaiser Friedrich I Barbarossa König von Deutschland
Ich las die Zeilen aufmerksam. Kaiser Rotbart, hatte neue Gesetze erlassen, nun wollte man den Landfrieden sichern. Eine vernünftige Lösung.
Die Stimmen am Markplatz wurden lauter. Eine Kutsche war herangefahren und hatte in der Mitte des Platzes gehalten. Neugierig näherte ich mich, es sollte eine Bestrafung durchgeführt werden. Dieses Schauspiel wollte ich mir nicht entgehen lassen.
Ich schob mich an den Leuten vorbei, nach vorne.
Der Verurteilte, ein junger Bursche, wurde vom Wagen gestoßen und dem wartenden Richter vorgeführt. Er hatte dunkles Haar, freundliche Augen, zerlumpte Kleider. Er sah nicht wie ein Verbrecher aus. Der Richter begann mit lauter und eindringlicher Stimme zu sprechen:
„Du bist überführt und verurteilt worden. Wir wollen keine Zeit verschwenden. Das Urteil soll sofort vollstreckt werden. Verbrennen sollst du. Das Feuer wird deine dunkle Seele aus deinem schäbigen Körper heraustreiben. Brennen sollst du, bis zu deinem Tode. Für Kaiser, Gott und die Gerechtigkeit.“
„Und für uns“
schrie ein voreiliger Bursche aus der Menge.
Es kam Bewegung in den Verurteilten. Bis jetzt, hatte er völlig apathisch dagestanden.
„Ich bin unschuldig. Den Mann, den er mir vorwirft, getötet zu haben, kannte ich nicht. Er ist mir niemals begegnet....“
Ich hörte seine Worte, sollte er die Wahrheit sagen. Seine Augen, seine Art zu sprechen, er kam er mir nicht wie ein Mörder vor. Ich war noch jung und unerfahren, hatte nie einem kennen gelernt. Unsicher starrte ich den Mann an. Er tat mir leid.
„Schweig, Elender.“
Der Richter unterbrach ihn.
„Das haben wir alle schon gehört. Du wirst unsere Zeit nicht weiter stehlen. Die Leute sind nicht her gekommen um deine Lügen zu hören.“
„Verbrennt ihn, verbrennt ihn,“
schrie das Volk im Chor. Auf ein Zeichen des Richters umringten Soldaten den Scheiterhaufen. Der Scharfrichter ein bulliger Mann zerrte den Verurteilten zum Schafott, seine Hände und Füße wurden an einen Pfahl gebunden. Er wurde nicht geknebelt, er sollte laut winseln.
Das Feuer fraß sich mit unglaublicher Geschwindigkeit, rauchlos durch das trockene Holz. Der Scharfrichter verstand seine Arbeit. Ungläubig beobachtete ich die Leute, sie schrien und lachten, sie freuten sich über die willkommene Abwechslung. Vereinzelte riefen ihm zu, er solle kreischen. Der Mann tat nichts. Ich war überrascht. Er musste unter unsäglichen Schmerzen leiden. Das Feuer erfasste seine Beine, er rührte sich nicht. Die Luft füllte sich mit dem Gestank von brennenden Kleidungsstücken und Fleisch. Eine Panik erfasste mich, ich wollte den Platz verlassen, wollte nach Hause, mich in meinem Bett verkriechen, nichts sehen, nichts hören. Als ich mich abwandte, begann er leise und sanft zu sprechen. Nur die Leute die, in seiner unmittelbaren Nähe standen, konnten ihn hören. Ich verstand ihn. Siedend heiß durchfuhr es meinen Körper und es lag nicht am nahen Feuer.
„Ich bin unschuldig. Ihr tötet mich ohne Grund. Der Herr wird euch dafür betrafen.“
Nicht die Worte des Mannes, nein, die Ruhe mit der er sie aussprach und seine Ausstrahlung ließ mich zweifeln. Der Verurteilte war unschuldig. Blitzartig brannte sich dieser Gedanke in mein Hirn. Der Scheiterhaufen brannte, die Kleider des Mannes brannten, sein Körper brannte. Verzweifelt stürzte ich nach vorne durch den Ring der Soldaten, sprang auf den Scheiterhaufen und zerriss die angesengten Seile.
Es regnete, viele Menschen waren zusammen gekommen. Die Stimme des Richters erschallte.
„Verurteilt, wegen Hexerei sollst du den angemessenen Tod erhalten. Gefesselt an Händen und Füßen werden wir dich in den Fluss stürzen. Kommst du aus eigener Kraft aus dem Wasser heraus, wird das Gottesurteil dich frei sprechen. Gehst du unter, war die Anklage gerecht. Du wirst...“
Seine Worte drangen an meine Ohren, ich nahm sie nicht auf. Ich hatte versucht einen Mörder zu befreien, zu spät, er war schon Tod gewesen. Ich hatte den Gang durchs Feuer überlebt und sollte nun als Hexer ersäuft werden. Mein Blick schweifte über das umstehende Volk. Die Leute hetzten, kaum einer hatte Mitleid. Im Hintergrund sah ich ein Mädchen. Es stand neben einer Frau, Unschuld spiegelte sich in ihren Augen. Ein Lächeln trat in ihr Gesicht. Ich schloß meine Augen und wartete auf die Erlösung. Unendliche Zeit verrann.
Ein fester Stoß trieb mich in die Fluten. Aus den Augenwinkeln sah ich den Scharfrichter, der schon tags zuvor, den anderen Mann verbrannt hatte. Der Aufprall raubte mir die Sinne. Unfähig jeder Bewegung, sank ich ins Flussbett. Die Zeit schien still zu stehen. Das eiskalte Wasser beflügelte mich. Die Luft in meinen Lungen brachte mich an die Wasseroberfläche zurück. Ich stieß die Luft aus und saugte gierig frische in mich hinein. Abwechselnd sank ich nach unten und erreichte die Oberfläche. Meine Kleider wurden schwer, die Kräfte schwanden. Abermals durchstieß ich das Wasser. Ich füllte meine Lungen und tauchte unter. Kraftlos und panisch erwartete ich meinen Tod. Ich hasste die Menschen. Ein letztes aufbäumen, hastig füllte ich meine Lungen.
Die Strömung ließ nach, der Fluß wurde flacher. Langsam fühlte ich Wärme in mir aufsteigen. Die Kälte des Wassers erreichte mich nicht. Ich atmete ein, der Druck auf meinen Lungenflügeln ließ nach. Der schlammige Grund des Flusses verwandelte sich in feine Kiesbänke die von Wassergräsern umsäumt wurden. Fische umtanzten mich, Krebse und Muscheln lagen am Grund. Wenn ich das Wasser trank, erfrischte es. Meine Stricke hatten sich gelöst.
Tagelang verweilte ich am Flussufer, untätig. Dann sprang ich zurück in die Fluten. Mein Körper bot einen erbärmlichen Anblick. Fische hatten kleine Stücke aus dem Leib gebissen. Krebse und andere Bodentiere waren in ihm. Ich blieb eine Weile. Ein schöner drahtiger Fisch, entriss ihm die Augen. Ich gönnte es ihm und nahm Abschied.