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Homo Solanum Tuberosum

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06.04.2002
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Homo Solanum Tuberosum

Waldemar Schleicher

HOMO SOLANUM TUBEROSUM

Als Genforscher in den 70er Jahren herausfanden, dass Kartoffelpflanzen im genetischen Code zwei Chromosome mehr besitzen als Menschen, brach eine Massenpanik aus, die auf dem Glauben basierte, die Kartoffeln seien höher entwickelt als die Menschen und dass diese den homo sapiens sapiens vom Platz des dominanten Lebewesens verdrängen würde. Doch die Intellektuellen lachten diese Theorie aus und verspotteten sie - bis sich die Menschheit kaum ein Jahrzehnt später unter der Herrschaft einer neuen, brutalen Rasse wiederfand: den homo solanum tuberosum, den KARTOFFELMENSCHEN...

Sie waren hässlich, ja, hässlich war gar das falsche Wort dafür. Schrecklich, abstoßend, todesgleich traf es wohl eher. Grob gesehen waren es Menschen, mit festen Zyllindern statt Armen, Beinen, dem Körper. Eine runde Knolle als Kopf. Die ganze Haut war rauh, braun, erdig. Kartoffelig. Wurzelansätze drangen aus ihren Achselhöhlen, ihren "Gesichtern", auf ihren Brüsten. Sie schnitten sie ab, jeden Morgen. Das war ihre "tägliche Hygiene". Eine nasse Höhle, von weißen Schleimnetzen überzogen, innen, außen. Ihr "Mund". Ein Fächer von grünen Blättern, weit hinten in diesem "Mund". Die Zunge. Kleine, dunkle Löcher, von schwarzen Schleimnetzen bedeckt - die Augen. Ihre Hände... die Finger wie Tumore, unregelmäßige, systemlose, wilde Fleischhügel. Nie trugen sie Kleidung, keine Geschlechtsmerkmale. Sie waren einfach nur die Kartoffelmenschen, weder Mann noch Frau. Sie stecken die Wurzelansätze in Erde, daraus wuchsen sie. Sie wuchsen in der Erde auf.
Und im ganzen Körper kein Tropfen Blut, kein Splitter eines Knochens, kein einziger noch so winziger Fleischfetzen. Nur Stärke. Ein großes Lager Stärke.

Der Wächter hielt ein ungelenk geschmiedetes Gewehr in seinen missbildeten Händen. Es sah sehr dümmlich aus, doch Samedi Rookes hatte schon zu oft gesehen, wie gut diese Waffen funktionierten. Rookes riss seine Augen vom Wächter und leitete sie zurück auf die Erde. Er schob seinen Spaten in den Boden, kippte ihn an, hob ihn, drehte ihn um, und schob ihn wieder in den Boden.
Das war es, was die Stärkies sie die ganze Zeit machen ließen. Erde umgraben.
Der Kerl neben Samedi schüttete seinen Spaten falsch aus, so dass Sam etwas in die Augen bekam. Er ließ den Spaten fallen und rieb sich die Augen.
Der Wächter richtete seine unförmige Waffe auf Rookes. Er quietschte einen ohrenbetäubenden Laut, dann zischte er. Samedi war lange genug Sklave der Stärkies, um ihre Sprache zu verstehen.
"Nummer zwei, heb den Scheißspaten auf und grab weiter!", hatte die Missgeburt geschrien. In ruhigerem Ton dann: "Dein Volk hat die Schuld bei unserer Erde noch nicht abbezahlt."
Als er das gesagt hatte, warfen die Sklaven ihm verfluchende Blicke zu, die der homo solanum tuberosum nicht zu deuten wusste. In den Jahren der Herrschaft hielten sie es nicht für nötig, ihre Untertanen zu verstehen.
"Das wirst du mir büßen, Dreckhaut", flüsterte Rookes. "Du wirst es büßen."

Es vergingen drei Stunden. Die Sonne ging unter und die Sklaven wurden zum Füttern in die Fütterungshalle geschickt. Sie war groß, viel größer als das Speisezimmer der Stärkies. Beide waren voneinander durch eine Betonwand und die Stahltür - im Sklavenslang der "Thor" - getrennt. Zwischen Beidem gab es zwei entscheidende Unterschiede: die Kartoffelmenschen standen nicht unter militärischer Kontrolle und konnten essen, was ihnen schmeckte. Das war ein farbiges Nährsalz. Sam hatte mal ein paar Körner davon auf dem Boden gefunden und gegessen. Es war so bitter, dass er sein Gesicht zu einer grotesken Visage verzog. Die Wachen sahen ihn und wussten sofort, was er getan hatte. Strafe: 96 Stunden ununterbrochene Arbeit.
Rookes schob einen weiteren Löffel voller Mehl in seinen Mund. Er nahm einen Schluck Wasser(das aus den dreckigeren Flüssen der Erde stammte) und mixte zwischen seinen Kiefern eine klebrige Teigmasse. Er schluckte sie. Ein zweiter Schluck Wasser putzte seine Mundhöhle.
Im Hintergrund schrie ein Wächter sein Quietschen hinaus. Sam hörte nicht alles, aber er verstand, dass der Typ einen menschlichen Wirtsklaven anschrie. Er hatte das Nährsalz DDST-12934 mit dem Nährsalz DDST-13934 verwechselt. Der Bediente - Direktor der Arbeiterkolonie - das sehr erzürnt. Das machte der Wächter deutlich klar.
Samedi versuchte, nicht darauf zu achten. Er wiederholte die Nahrungsprozedur. Morgen gibt es Fleisch, dachte er und musste sich bei dem Gedanken fast übergeben. Das Fleisch waren Abfälle von geschlachteten Schweinen und Rindern aus der Menschenzeit. Das war nun Jahre her.
Der vollgeschrieene Wirt ließ vernehmen, dass er den Tränen nah war. Er setzte ein Bein in Bewegung. Der Wächter hielt ihn mit der großen, wulstigen Hand auf. Wieder begann das Geschrei.
"Ich bin noch nicht fertig!", verstand Rookes. Ihm war der Hunger vergangen. Er schaute nur gebannt auf sein Glas voller Mehl, als würde er erwarten, dass da ein Männchen herauskriechen würde. Aber er hörte dem Stärkiewächter zu.
"Du gehst jetzt wieder da hoch und kommst mit dem DDST-12934 zurück!", quietschte der Kartoffelmensch. Drei dicke Tränen rannten das purpurrote Gesicht des Wirtes herunter. Er war so jung. Höchstwahrscheinlich verstand er den Typen mit der hässlichen Kanone gar nicht.
"Wenn ich auch nur ein Korn von diesem Hundefutter rieche, dass du dem Herrn (es folgte ein vollkommen unverständliches und unidentifizierbares Geräusch) anbieten wolltest, Blütling..."
Der junge Wirt heulte einmal auf. Er hielt eine große Schüssel in den Händen. Sie war voll von grünem Pulver. Das Nährsalz. Fast ließ er sie fallen.
"Lass sowas nicht passieren, wenn du deine Arbeit behalten willst", "sagte" der Wächter. Dann stieß er etwas Erstickendes aus(Rookes hatte das als Lachen katalogisiert). Der Sklave versuchte, die Fassung zu bewahren. Er hatte verstanden. Er ging los.
"UND MIT 'N BISSCHEN ANSTAND, BITTE!", quietschte der Stärkie ihm nach. Der junge Wirt unterdrückte sein Wimmern.
Samedi nahm sich die Freiheit, dem Mann(nicht mehr als ein Junge) mit den Augen zu folgen. Er lief durch eine streng bewachte Tür. Seine Schritte verhallten. Der Holzstuhl unter Sams Hintern schien härter zu werden. Er sah durch die Runde. Alle saßen, schweigend, auf ihr Glas Mehl und Glas Wasser schauend.
Der Wirt kam wieder. Er trug eine Schüssel voller rotem Pulver in den Händen. Damit eilte er an dem Wachen vorbei, der ihn angeschrien hatte. Rookes ballte seine Hände zu Fäusten und schob sich mit dem Stuhl etwas zurück. Er sah es kommen.
Der Stärkie schlug mit seinem Gewehr in die Schüssel.
"Du Säuger hats wohl geglaubt du kannst mich verkohlen!", quietschte er in voller Lautstärke. Keiner der Sitzenden rührte sich. Sie zuckten nicht einmal zusammen. Es war schon zu oft passiert, es war schon zu oft geschehen, um sie zu überraschen. Die anderen Wachen sahen unter ihrer erdigen Haut irgendwie amüsiert aus. Sam konnte es nicht wissen. Aber er wusste es. Er fuhr mit seinem Stuhl noch einige Zentimeter zurück. Sein Kopf hob sich und schaute gerade in den Raum.
"Das ist DDST-13934, das kann ich doch riechen!", höhnte der Wächter und schubste den Wirt von seiner Gehrichtung weg.
Samedi stand auf und ergriff den Stuhl mit beiden Händen. Die homo solanum tuberosum hatten keine Nasen.
"Du hast es nur rot angemalt!", spottete der Wächter. Er fasste den Jungen mit der linken Hand und schleuderte ihn auf die nächste Ecke zu.
Rookes schritt vor. Er fasste den Stuhl so fest, dass alles Blut aus seinen Händen entwichen war. Kein einziger Kartoffelwache rührte sich.
"Nur angemalt", zischte der Wächter in ruhigem Ton. Sam hörte keine Worte mehr. Nur Zischen. Anonymes Zischen eines Tieres.
Er tat einen schwerfälligen Schritt auf die Ecke zu. Einen zweiten.
Der Wächter holte mit der Waffe aus. Man konnte in der ganzen Halle hören, wie das Metall die Luft schnitt.
Platsch.
Der Wirt flog meterweit nach hinten. Eine blutrote Platzwunde wuchs auf dem Unterkiefer.
Rookes trat näher. Seine Schritte wurden größer. Zwei Wachen drehten sich um und quietschten. Kläffen. Kläffen von unterworfenen Hunden.
Der Stärkie holte aus und - platsch - setzte das Gewehr auf der Schulter des Sklaven auf. Wieder holte er aus und...
"He, Erdmännchen!"
Der Wächter drehte sich um. Er sah nur die verschwommenen Umrisse eines Stuhlbeines, was ihm aber nicht bewusst wurde. Druck fiel auf sein rechtes Auge. Keinen Moment später war er auf der Betonwand aufgespießt. Von einem Stuhl im Beton.
Rookes zog den Stuhl wieder an sich, bekam das in die Wand gehauene Bein aber nicht wieder los. Er brach es ab. Als er sich umdrehte, bereit von den Wachen erschossen zu werden, sah er keine wachen mehr. Keine Menschen. Keine Halle. Er sah Chaos.

Hilly Poe hob seinen Kopf. Der Gewehrkolben war aus Stahl, er hatte ihn in der Ecke bewusstlos geschlagen Wie lange war er weggewesen? Zwei Stunden? Drei Stunden? Jedenfalls, dachte er, ich bin wieder da. Zurück in den Alltag.
Noch bevor er aufstehen und sich in Erinerung rufen konnte, was denn als Letztes passiert sei, sah er, was er in seinem von Hoffnung verlassenen Herz nie zu erwarten wagte:
Kein Stuhl stand mehr an den Tischen. Die Tische waren selbst als Rammböcke genutzt wurden. Stuhlbeine, Waffen, Holzsplitter und Blut bedeckten den Boden. Und Körper. Unzählige Körper. Tote Menschen, Hunderte toter Menschen, Verletzte. Hilly Poe, Wirtsklave, hatte oft tote Menschen gesehen. Aber nur sah er mehr.
Tote Stärkies.
Sie lagen, meist zu Kartoffelbrei geschlagen, im Raum verteilt, Holz und Stahl ragte aus ihren toten Leibern.
Der Thor war aufgebrochen.
Als Hilly Poe ins Speisezimmer trat und es sah, da war ihm eins plötzlich klar.
Die Zeit der Kartoffeln war vorbei.

"Nummer zwei, heb den Hammer auf und mach weiter!", schrie der Mensch. Dann fügte er gemütlich hinzu: "Dein Volk hat die Schulden bei uns noch nicht abbezahlt."
"Das wirst du mir büßen, Blütling", zischte der Sklave leise. "Du wirst es büßen."


9. August 2002

 

Ja, Mut zur Lustigkeit! Ich würde das eher als dramatische Komik einstufen. Komik mit Aussage. Sicherlich einfach gestrickt. Aber schon ein netter Versuch. Du beweist Kreativität! Vielleicht ist der Anfang zu reißerisch. Und auch andere Schwachstellen gibt es. Aber im Großen und Ganzen bin ich mit dem Versuch zufrieden, würde eben jetzt nur an eine Überarbeitung denken.

 

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