Hommage an Remisow
Als er das Abteil der U-Bahn betrat, unter Einhaltung aller unausgesprochenen Benimmregeln des gewählten Transportmittels, lag der nachmittägliche Regenschauer noch als Kondensationswolke im Abteil. Nachdem er sich gegenüber der Eingangsschleuse, im sicheren Alkoven der sich niemals öffnenden Gegentür postiert hatte, umfasste seine Hand den ungewöhnlich warmen Haltegriff. Wer hatte diese Wärme hinterlassen, die ihn an ein gerade verlassenes Bett am frühen Morgen erinnerte. War er gerade, an dieser Person vorbei, in den Wagen gestiegen und hatte doch nicht bemerkt, wie diese sich nach vielen Stationen von dem vormals kühlen Rund verabschiedet hatte? Vielleicht eine Mitvierzigerin, Mutter dreier Kinder, mit ihren eingecremten kräftigen Händen. Der große Schwarzafrikaner mit seinen gewaltig sanften Handtellern, die mühelos einen Basketball unter Zuhilfenahme der Finger umspannten ? Hatte er das Metallrohr auf die Temperatur einer Wärmflasche erhitzt ? Unerhört heiß mutete der begrenzte Fleck an, beheizt, was unmöglich schien.
Keiner im Raum bemerkte seine Verwunderung, doch war die junge Frau vor ihm seltsam nahe gerückt. Sie las die Tagespresse und mühelos konnte er über ihre Schultern hinweg den Text entziffern. Doch der nicht endende Wärmestrom lenkte seine Gedanken auf die möglichen Verursacher des Phänomens. Es mußten bestimmt zwei Personen an dieser Stelle Halt gesucht haben, es war nicht anders zu erklären. Ein inniges Liebespaar, wärmer als alle umgebenden Gestalten des werktäglichen Abendverkehrs, in verzückter Gedankenlosigkeit, sich umschlingend und Hitze produzierend. Doch waren ihm diese symbiotischen Menschen nicht aufgefallen. Hatten sie die Bahn womöglich noch gar nicht verlassen ? Hatten sie sich einen kühleren Platz gesucht und beobachteten seine Wonnen ?
Als er den Wagen nach drei Stationen verließ, hatte er zur Aufrechterhaltung des Wunders beigetragen. Er blickte sich noch einmal um, prüfend, ob eine weitere Person ebenso feinsinnig die Besonderheit des Ortes zu würdigen wisse. Die Reihen bewegten sich auf ihrer Reise nach Jerusalem, freiwerdende Plätze einnehmend. Menschen stiegen zu, doch er konnte nicht mit Sicherheit bestätigen, daß einer von ihnen sein Geheimnis weitertrug.
An der Haustür angekommen mußte er an seine Mutter denken, die ihn nun mit kühler Entschlossenheit zum Händewaschen gedrängt hätte. Sollte er das Geheimnis fortspülen, im kalten Waschbecken ? Er zündete sich eine Zigarette an, setzte sich auf seinen Balkon und sog genüsslich an den fremden Bazillen. Es war ihm egal, aus welchen Kulturkreis sie stammten. Die Weintrauben waren ein perfektes Pendant, eröffneten sie ihm doch die Möglichkeit, seine Finger immer wieder zum Mund zu führen, zu riechen, sie zum umschließen und das Wunder immer wieder neu zu überdenken. Als er seinen Handaschenbecher berührte war ihm, als wäre er wieder in das Abteil gestiegen. Die erste Asche hatte das Metall auf fremde Weise erhitzt.