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Holz
Während seiner Wanderung dachte Johnny kurz an die hitzige Auseinandersetzung, die er letzte Woche mit seinem etwas jüngeren Bruder Markus hatte. In diesem Streit ging es um Konfliktlösung und Erziehung.
Johnny’s Standpunkt sei veraltet, autoritätsgläubig und kurzsichtig.
Lachend schüttelte er den Kopf und schob somit sämtliche Gedanken beiseite.
Ein wunderschöner Ausblick, die Ruhe und das angenehme Wetter brachten ihn dazu, eine Rast einzulegen. Zufrieden legte er sich ins Gras, schaute entspannt in den Himmel und ließ diesen Moment auf sich wirken.
Eine Wolke, die langsam auf ihn zu trieb, erinnerte ihn an seine Deutschlehrerin, welche immer erst den Zeigefinger hob, bevor sie sprach. Der Gedanke an sie brachte Johnny zum Lächeln.
»Ich bin nur eine kleine Stimme«, sagte die Wolke.
»Während ein wilder Sturm meine Figuren schnell hinfort trägt, hilft mir ein milder Wind, dir eine Geschichte zu erzählen.
Ich würde dir gerne von einem Baum berichten. Dieser war besonders. Er war der erste seiner Art, denn er wachte auf.
Zuerst begann der Baum den Wind bewusst wahrzunehmen. Dann spürte er die warme Sonne, den kalten Regen, das Pulsieren des Wassers, welches durch ihn hindurch floss und das angenehme Kitzeln der atmenden Blätter. Er freute sich über diesen interessanten und wunderschönen Austausch mit der Umgebung. Der Baum war glücklich.
Dann kamen die Träume. Sie präsentierten ihm eine fremde Welt, in der er sich jedoch rasch zurechtfand.
Meistens handelten die Träume von einem Jungen. Dieser konnte laufen, springen, werfen und klettern. Dessen Hände formten, buddelten und klatschen; Füße schlichen, sprangen und patschen. Das Kind spielte in Häusern und in Wäldern, alleine und mit Freunden. Er war glücklich.
Auf den ersten Blick zumindest.
Nach wenigen Nächten begannen sich die Träume zu verändern. Auf den Baum wirkten sie dunkler, einnehmender und bedrohlicher.
Der Junge kannte kein Heimweh, war überall zu Hause und hatte viele Eltern. Er war beliebt und für jeden Spaß zu haben.
Hinter seinem Lächeln wartete er jedoch auf die Möglichkeit dieses Leben abstreifen und in ein anderes springen zu können.
Eigentlich wollte er nicht streunen, aber was half sonst gegen die Härte und Verlogenheit daheim? In diesem verzerrten Universum schien die Wärme aus allem gewichen und die Wirklichkeit erschreckend entstellt zu sein. Die Augen seiner Eltern sahen durch ihn durch und schauten auf das Ideal, welches sie bereits vor seiner Geburt erschaffen hatten. Sie tolerierten keine Abweichung, waren taub dem Individuellem gegenüber und empfanden sein Leben nur dann als tragbar, wenn er täglich ihre Bedürfnisse stillte. Wie eine Fliege, gefangen in einem Spinnennetz, spürte er die Starre in sich aufsteigen und mit ihr kam das Schweigen.
Nach einem solchen Traum erwachte der Baum körperlich völlig erschöpft.
Er konnte sich nicht recht über den Besuch einer Krähe freuen, die sich auf seinen Ast setzte und ihr Lied mit rauer Stimme begann.
»Da du ja unbedingt aufwachen wolltest;
lass dir von der Wahrheit sagen was du tun solltest.
Du bist ein Baum nicht ohne Grund;
warst verletzt, gekränkt und wund.
Doch erstmal heiße ich dich hier willkommen;
für mich bist du wunderschön und vollkommen.«
Nach diesen Worten flatterte sie auf den Boden und schaute den Baum erwartungsvoll an. Er hatte Fragen, doch keine Stimme. Er versuchte Äste, Blätter und Wurzeln zu bewegen, aber ohne Erfolg. Selbst den Wind wusste er nicht für sich zu nutzen. Also sahen sie sich an. Er sehnte sich nach ihr, sehnte sich nach Gesprächen und Zweisamkeit, nach Austausch, Respekt und Nähe. Als er resignierte, ertönte ein tiefes, klares Brummen. Erstaunt sahen sich die Zwei an. Die Krähe hatte es also auch gehört! Fröhlich krächzend landete sie nochmals auf seinem Ast und begann erneut:
»Ich warte auf dich;
denk nicht an mich!
Du bist ein Baum nicht ohne Grund;
warst verletzt, gekränkt und wund.
Finde den Weg durch die Zeit;
die Freiheit ist nicht wirklich weit.
Du hast die Verantwortung in deiner Hand,
damit schaffst du den Weg durch jede Wand!«
Er sah ihr noch lange hinterher und war des Öfteren der Meinung, sie in dem einen oder anderen kleinen Punkt am Himmel ausfindig gemacht zu haben. Aber er hatte sich wohl getäuscht.
In der folgenden Nacht träumte der Baum wieder von dem Jungen.
Er saß allein in einem dunklen Zimmer. Auf dem Boden lagen Werkzeuge, selbst geschnitzte Teile einer Rüstung und ein Holzstück, aus dem ein Helm geformt werden würde.
Das Gesicht wirkte älter, ernst und still. Die Gedanken des Jungens sickerten langsam und leise in die Traumwelt hinein. Zuerst waren es einzelne Worte, die kaum verständlich flüsternd aufflackerten. Doch langsam erhielten sie mehr Struktur, Kontur und Klang. Wie ein Auge, welches sich an die Dunkelheit gewöhnen muss, so lernte das Ohr sich auf die Worte der Traumwelt einzulassen. Während der Junge das Holz schnitzte, begleitete ihn der Baum auf seiner Gedankenreise.
›Was nutzt einem die Stimme, die man nicht gebraucht, obwohl man Hilfe benötigt? Die Last auf dem Herzen wiegt so schwer, lähmt die Zunge und vernebelt die Augen. Wenn alles, was übrig bleibt, Beherrschung ist – ein Durchhalten bis zum nächsten Atemzug – wen wundert es, wenn ich ersticke? Von jedem lächelndem Menschen lass ich mich adoptieren, begrabe mich in Abhängigkeit. Nehme mich zurück, bis ich als Körnchen verpuffe, höre auf zu denken und zu fühlen. Funktioniere als Werkzeug.
Aber wer bin ich überhaupt? Wo fange ich an und wo höre ich auf?
Die Unwissenheit, macht mir Angst!
Wirklich klar ist mir nur eins: ich muss hier raus und von hier weg. Sofort!‹
Die letzten Worte knurrte er zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch. Die Luft in dem Raum war eisig, genau wie sein Herz. Er wusste das nun die Zeit gekommen war, die Rüstung anzuziehen und zu kämpfen.
In den Ohren pochte das Blut. Er wollte alles verändern, alles verbessern, die Welt aus den Angeln heben, Menschlichkeit verordnen, die Ansichten der Eltern in ihren Grundfesten erschüttern und dem Wahnsinn ein Ende bereiten. Drum rannte er aus dem Zimmer, schwang sein hölzernes Schwert, schrie, trat und kämpfte einen ehrenhaften Kampf. Den jedoch keiner sah. Seine Schreie, sein Schweiß und seine Bemühungen verebbten an den Rücken der Teilnahmslosen.
Nach einer Ewigkeit ließ er erschöpft das Schwert zu Boden sinken und wandte sich ab. Gekrümmt verließ er das Schlachtfeld und schleppte sich weiter. Keiner hielt ihn auf oder beachtete ihn.
Einen Tag später fand er sich mitten im Wald wieder. Er wusste das die Welt keinen Krieger, Kumpel oder Streuner vermisste. Die Kälte in ihm verhärtete sich, wucherte und drang immer mehr nach Außen, bis sie sich mit der Rüstung verband. Er wurde eine Statue, ein Denkmal für alle Krieger. Er wurde blind, stumm, taub.
Behutsam nahm ihn der Wald in die grünen Arme. Moos bedeckte seine Füße, Efeu kletterte die Beine entlang, wickelte sich um Hals und Mund. Müde schloss er die Augen und gab sich der beruhigenden Umarmung hin.
Der Traum endete in einem friedlichen Schwarz.
Der Baum blickte hoch zum Himmel. Seine Krone bewegte sich geringfügig durch eine schwache Brise. Das leichte Schaukeln beruhigte ihn. Ihm schien, als würde er sich mit ausgestreckten Armen den Ästen seiner Nachbarn zuwenden, als zeigte die Natur eine Umarmung mit unendlicher Langsamkeit.
Diese Ruhe half ein wenig sich von dem aufwühlenden Traum zu distanzieren. Zusätzlich atmete er tief durch, was eine erstaunliche innere Gelassenheit mit sich brachte.
Er genoss die Melodien, die im Wald zu hören waren und ging in ihnen auf. Ja mehr noch, es plagte ihn ein schier unstillbares Verlangen nach Musik. Vom Waldboden verströmten Pilze und Moos ihren angenehmen Duft. Die Sonne wärmte seine Rinde und brachte etwas direkt neben ihm zum Funkeln.
Erstaunt sah er etwas silbriges, leicht gebogenes unter einem Blatt hervorlugen.
Der Baum dachte an die Fundstücke einer Elster, als plötzlich die Krähe von gestern auf seinem Ast landete und auf dem funkelnden Gegenstand herum pickte. Das klappernde Geräusch erinnerte ihn an die Kampfszenen im Traum. Sein Herzschlag wurde schneller. Die Krähe sah ihn daraufhin kurz an, watschelte und hüpfte über seine Äste und pickte an einer anderen Stelle weiter, bis die Rinde ein wenig abplatzte. Darunter wurde ein Stück dickes Leder sichtbar. An einer anderen Stelle mühte sich der Vogel ab, um etwas Weiteres freizulegen. Als auch dort ein dickes Stück Rinde abfiel, flog sie davon.
Interessiert versuchte der Baum etwas zu erkennen und war überrascht von der ungewöhnlichen Farbe des Splintholzes. Während er mehr Details wahrnahm, bewegte sich der helle Holzabschnitt leicht.
Es war definitiv ein leichtes Zucken, dessen war er sich absolut sicher. Seine komplette Aufmerksamkeit richtete sich nun nochmal auf diese eine Stelle. Tief im Inneren ahnte er, das seine Fragen bald beantwortet werden würden. Er sah, wie sich ein Finger leicht beugte und einen dreckigen Fingernagel präsentierte.
Seinen Finger und seinen Fingernagel.
Das saß.
Geschockt starrte er gerade aus. In seinem Kopf stürmten Gedanken und Gefühle. Sein Herz schlug laut, stark und schnell. Nach einer Weile jedoch gelang es ihm, sich zu beruhigen denn alles ergab nun Sinn.
›Ich bin nur eine kleine Stimme‹, dachte er. ›Aber jetzt weiß ich, dass ich eine besitze!
Den Kampf damals, den begann ich nicht nur aus Wut, nein ich tat es für mich. Um mich zu schützen, um zu überleben und um mich weiter entwickeln zu können. Ich war nur leider einfach zu jung für das Alles. Nun verstehe ich, dass der alte Weg keine Zukunft haben konnte und hier endete. Es hat gedauert, aber jetzt habe ich das Gefühl im wirklichen Leben - so merkwürdig das auch gerade aussehen mag - angekommen zu sein.‹
Der Prozess sich aus der Decke des Waldes loszulösen, verschlang einiges an Zeit. Er ging langsam und besonnen vor, um möglichst wenig Unruhe im Wald zu verbreiten. Jedes Körperteil wollte freigelegt und bewegt werden. Manche Stellen wirkten so starr und taub, dass der Krieger erst Beweglichkeit einmassieren musste. Stolz stand er schließlich auf einem Rindenberg umschlossen von Ästen, Blättern und Moos.
Krächzend lockerte er die Rüstung, nahm den Helm ab und ließ alles auf den Boden fallen. Steif bewegte er sich vorwärts.
Kurz nachdem er seine Wanderung begonnen hatte, raschelte es im Baum neben ihm. Die Krähe wartete bereits. Als er sie anlächelte, stieß sie sich vom Ast ab. Doch anstatt mit einem Schrei in die Luft zu starten, glitt sie elegant vom Baum hinab. Ihre langen Beine berührten den Boden und ihm verschlug es fast den Atem.
Langsam bewegte sich eine junge Frau auf ihn zu und blickte ihm tief in die Augen.
Sie zeigte die gleiche Faszination für ihn, wie er für sie.
Als sie vor ihm stand, streckte sie ihm ihre Hand entgegen.
Die Fingerkuppen berührten sich behutsam und zurückhaltend.
Vorsichtig ließ er seine Finger zwischen ihre gleiten und war von der Berührung ganz elektrisiert.
Sein Blick wanderte von der Hand, die noch immer angenehm prickelte, hoch zu ihrem schlanken Hals, den langen dunklen Haaren und ihrem wunderschönen Gesicht.
»Woher wusstest du, dass ich hier bin?«, fragte er mit flüsternder Stimme.
»Du warst ein lauter Baum«, antwortete sie angestrengt.
Beide lächelten.
»Kenne ich dich?«, hakte er weiter nach.
Sie schüttelte den Kopf.
Sein fragender Blick verleitete sie zu einer aufschlussreicheren Antwort.
»Ich bin wie du. Auch aufgewacht. War kein Krieger, ich flog damals weg.« Ihre Stimme war leise aber rau.
Sie suchte nach Worten und ließ den Blick schweifen. Dann legte sie eine Hand auf seine Brust und hauchte: »Ich sehe dich! Du spiegelst meine Wahrheit. Wir haben denselben Klang.«
Er schaute sie lange an und dachte über ihre Worte nach. In seinem Inneren breitete sich eine angenehme Wärme aus und er spürte, dass sie recht hatte. Es schien eine deutliche Verbindung zwischen ihnen zu geben. Als kannten sie sich bereits ein Leben lang.
Der Krieger nahm sie in seine Arme und drückte sie sanft an sich. Noch nie hatte er sich so sehr zu Hause gefühlt wie in diesem Moment.
… entschuldige, junger Mann. Aber ich muss weiter. Ich hoffe die Geschichte hat dir gefallen«, sagte die Wolke. Sie bedankte sich für seine Aufmerksamkeit, zwinkerte ihm zu und trieb langsam davon.
Johnny lag im Gras und ließ die Geschichte auf sich wirken.
Es gab einige Parallelen zwischen seinem Bruder und dem Krieger.
Er dachte erneut an den Streit der letzten Woche und daran wie sehr ihn der Ausbruch seines Bruders überraschte. Markus war schon immer temperamentvoll und rebellisch gewesen.
Zumindest seit der Scheidung der Eltern.
Aber er war kein Hitzkopf. Im Gegenteil. Beim letzten Gespräch hatte er etwas sagen wollen und es sich letzten Endes doch noch verkniffen.
Johnny realisierte, dass er durch seine Engstirnigkeit - die er hier jetzt mal einräumte - dem Gespräch die Basis für eine Diskussion genommen hatte. Markus hätte ihm seinen Standpunkt näher darlegen und wahrscheinlich noch etwas über sich erzählen können, wenn er ihn nicht mit Floskeln mundtot gemacht hätte.
Auf dem Rückweg beschloss Johnny die Geschichte seinem Bruder zu erzählen. Er spürte, das beide von gegenseitiger Offenheit profitieren und das die Beziehung durch einen ehrlichen Austausch nur gestärkt werden würde.