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Holly
Es war wie eine Sucht. Eine Begierde, welche immer stärker wurde. Ich konnte nicht aufhören. Ich verspürte weder Schmerz noch Mitleid, nur Macht, welche meinen Körper berauschte wie eine Droge, die mich unbesiegbar machte …
Als ich Holly das erste Mal sah, erinnerte sie mich irgendwie stark an die Porzellanpuppe, welche bei meiner Oma in der verstaubten Vitrine gestanden hatte. In Kinderzeiten hat mich diese Puppe immer fasziniert. Langes, blondes Haar zu zwei Zöpfen zusammengebunden, grosse, blaue Augen, in welchen man sofort versank und die einem irgendwie eindringlich ansahen. Die pfirsichfarbene, weiche Haut und die zärtlich geformten, vollen Lippen.
Sie ist mir sofort aufgefallen. Sie sass alleine auf der Schaukel, die hellblauen Schnallenschuhe fest auf dem Boden, den Blick gen Himmel gerichtet.
Der Spielplatz war völlig leer. Es war zu kalt zum Spielen. Verwelkte Blätter bedeckten den Boden und zarte Nebelschleier schlichen darüber hinweg und gaben dem ganzen Bild eine leicht melancholische Note.
Ich kam gerade von meiner Arbeit - ein langweiliger, anstrengender Tag im Büro, wie immer. Die Verpackungsfirma, in der ich bereits meine Ausbildung im Bereich Zeichnen und Design gemacht habe, übernahm ich nach dem plötzlichen Tod meines Vaters. Ihm hatte sehr viel an der Firma gelegen, denn auch er erbte die Leitungsposition von seinem Vater, dieser wiederum von seinem Grosvater und so weiter. Mittlerweile beschäftigt die Firma über 500 Arbeitskräfte und liefert ihre Produkte landesweit mit Erfolg. Ich verbrachte die meiste Zeit des Tages in meinem geräumigen Büro, welches Glücklicherweise fernab von den lauten Maschinen und der Telefonzentrale liegt. Ausser ein paar neuen Werbeideen und einer Reklamation einer gewissen Mrs. Johnson, welche sicher alle zwei Wochen wieder bei uns anruft, da sie mit irgendetwas nicht ganz zufrieden war, gab es nicht viel für mich zu tun. Dennoch hatte ich keinen Grund mich zu beklagen. Ich verdiene mehr als genug für mich allein und es fehlte mir an nichts. Ich hatte ein grosses Haus mit einem grossen Garten, fuhr ein schönes Auto und hatte Maria, welche sich rührend um die Arbeit im Haus und um mich kümmerte. Ständig hörte ich von Ihr und Leuten, die mich kannten die Frage, weshalb ich noch immer in diesem riesigen Haus lebte, auch wenn ich mich bereits seit einigen Jahren von meiner Ex-Freundin Josephine getrennt habe. Doch ich liebte dieses Haus. Da ich bereits darin aufgewachsen bin, steckte es voller Erinnerungen und ich hatte angst, dass ich diese verlieren würde, sobald ich das Haus verkaufen würde. Zudem war ich ein leidenschaftlicher Sammler. Seit Jahren sammelte ich allerlei Schätze der Geschichte. Besonders stolz war ich auf einen kleine Skarabäus Käfer, der im Grab von Pharao Mykerinos geborgen wurde und auf ein Gemälde von Michelangelo Merisi da Caravaggio auf dem ein grosser, dunkler Engel zu sehen ist, der gerade über einen gottlosen richtete, natürlich ebenfalls ein Original. Sie alle hatten in meinem Haus ihren Platz gefunden und ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Schätze in einer moderneren, kleineren Wohnung genauso zur Geltung gekommen wären, wie sie es hier taten.
Ich konnte also von mir behaupten, ich sei ein glücklicher Mensch, der sich eigentlich jeden Wunsch hätte erfüllen können, nur irgendetwas vermisste ich so sehr, dass es schon fast schmerzte. Man kann nichts vermissen, dass man noch gar nicht kennt. Dachte ich zumindest. Doch mir war, als würde mir etwas fehlen. Egal wie viel ich besass oder wie viel ich kaufte, von dem ich glaubte, dass ich es haben möchte, ich erlangte nie die gewünschte Befriedigung – bis ich Holly sah.
Holly war wie der erste Sonnenstrahl nach einem verregneten Tag. Sie war wunderschön und ich verspürte den unbehaglichen Drang, sie besitzen zu wollen. Sie zu haben, für mich allein. Es ähnelte ein bisschen an das Gefühl, wenn ich einen Kunstgegenstand sehe, den ich unbedingt für meine Sammlung brauche. Da war dieses gewisse Etwas, diese Anziehungskraft, welche so unwiderstehlich und einzigartig war. Ja, ich meine dieses Etwas das einem überfällt, packt und nicht wieder loslässt
Ich wuchs in einer wohlhabenden Familie auf und war es gewohnt, alles zu erhalten wonach mir stand. Ich wünschte mir ein Fahrrad und ich erhielt es, ich wünschte mir Freunde und auch diese hatte ich, auch wenn ich immer das unangenehme Gefühl hatte, sie würden mir etwas vormachen. Doch bei Holly war das anders.
Tage und Nächte vergingen und ich versuchte krampfhaft mir klar zu machen, dass ich sie nicht besitzen konnte. Ich versuchte zu verstehen, dass Holly ein Mensch war und kein Objekt das man kaufen und sein Eigen nennen darf. Und der Gedanke daran machte mich krank.
Das Bild von Ihr, Ihre blauen Augen und das vollkommene, kindliche Gesicht, die Unschuld in Person, hatten sich in meine Gedanken gefressen, haftete dort fest wie eine Brandnarbe.
Holly liess mich nicht mehr los. Damals, auf der Schaukel, hatte sie mich kurz angesehen. Nur ein flüchtiger Blick so kurz wie ein Wimpernschlag, doch so intensiv wie eiskaltes Wasser im Gesicht. Und seit daher kann ich sie nicht mehr vergessen. Ich musste mehr über sie herausfinden.
Ich begann Holly zu beobachten. Sie war oft auf dem Spielplatz und sass, meistens alleine, auf der Schaukel. Mal wippte sie nur leicht hin und her, mal sass sie ganz still und blickte in die Wolken. Und dies oft Stundenlang. Dies war auch eine der vielen Eigenschaften, welche mich an ihr faszinierten. Diese Konzentration in ihren Augen, wenn sie nach oben schaute. Die kleinen Lippen leicht aneinandergepresst, die Augenbrauen zusammengekniffen, als ob sie nur darauf wartete, dass etwas grosses, faszinierendes am Himmel auftauchen würde. Es war mir auch, als ob Holly die anderen Menschen um sie herum gar nicht wahrnehmen würde, als ob sie in ihrer eigenen Welt leben würde, in der es niemanden gab ausser sich selbst, die Schaukel und den grossen, sich endlos erstreckenden Horizont.
Holly besuchte die St. Sophia Mädchenschule am Ende der Stadt. Sie hatten gerade Schulferien.
Holly lebte mit ihren Eltern, die ich ab und an im Stadtlokal „Torino“ beim Essen gesehen habe, in einem geräumigen, weissen Haus am anderen Ende meiner Strasse. Ich glaube nicht, dass Holly Freunde hatte, zumindest traf sie sich nie mit anderen Kinder.
Ihr Zimmer lag im ersten Stock. Ein mittelgrosses, quadratisches Fenster und zu meiner grossen Freude, genau neben einer hohen, alten Buche.
Je mehr ich über Holly herausfand, je länger ich beinahe jeden ihrer Schritte und Taten verfolgte, desto mehr wollte ich über sie erfahren. Holly wurde zu meinem Hobby und bald schon zu meinem Leben. Immer wieder fragte ich mich wie ich für ein etwa sieben Jähriges Mädchen eine solche Faszination entwickeln konnte. Doch ich scheiterte bei jedem Versuch, es mir erklären zu wollen. Nebst dem Holly ein wirklich aussergewöhnlich hübsches Mädchen und zudem noch sehr Intelligent ist, war sie ein ganz normales, verträumtes Kind, welches zur Schule ging und sich oft auf dem Spielplatz aufhielt. Doch diese unerklärliche Anziehungskraft, die auf eine wunderbare und zugleich beängstigende Art und Weise übernatürlich auf mich wirkte, hatte ich nicht einmal bei dem Skarabäus Käfer verspürt als ich verbissen darum gekämpft habe und so alle anderen Interessenten bei der Auktion überboten habe. Für Holly empfand ich weit mehr und langsam begann ich, mich davor zu fürchten.
Ich kam mir vor wie ein Verrückter, als ich Tag für Tag zum Spielplatz ging, mich auf die Bank setzte, welche hinter ein paar kleinen Bäumen versteckt lag, von der aus man aber gut auf die Weinrote Kinderschaukel sehen konnte und einfach dasass und das kleine Mädchen anstarrte. Sie einfach anzusehen, und zu wissen dass Holly in meiner Nähe war, gab mir ein kleines Stück der ersehnten Befriedigung. Ich muss erwähnen, dass es keine sexuelle Anziehungskraft war, welche von Holly ausgeht und mich beinahe um den Verstand bring. Ich bin kein Kinderschänder und würde sie niemals anfassen! Doch es gibt viele Menschen, die das so sehen könnten, und das war ein weiteres Gefühl, welches mir schwer auf dem Magen lag. Doch ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, Holly wieder und wieder zu sehen. Ich war wie von ihr besessen. Konnte nicht schlafen, fand kein Interesse mehr an den Dingen, welche ich früher als mein Hobby bezeichnete und dachte ständig nur noch an etwas. Holly. Dieser Name, er erschien mir überall, egal wo ich mich befand oder was ich Tat. Zusause im Radio oder bei der Arbeit in meinem Büro und ihr Gesicht verfolgte mich ständig in meinen Träumen. Ich konnte mich jedoch keinem anvertrauen. Dieses mir bis jetzt unbekannte Gefühl diese Art Sucht nach dem kleinen Mädchen hätte niemand verstehen können. Ich wäre beschimpft, ja vielleicht sogar zu einem Psychologen geschickt worden, der mich dann mit Medikamenten und stundenlangen Gesprächen versucht hätte, zu analysieren und diese „Obsession“ auf irgendein tragisches, von mir noch nicht zur Gänze verarbeitetes Erlebnis zurückzuführen. Dies war aber nicht meine Absicht.
Diese Besessenheit Holly gegenüber hatte auch seinen Reiz. Es war eine fast dauerhafte Zeitbeschäftigung und wirkte sich hervorragend gegen die langweiligen Tage im Büro aus. Es war jedes Mal eine Freude wenn ich das Gebäude verlassen konnte um mich auf die Parkbank beim Spielplatz zu setzen und mir Holly einfach nur anzusehen. Es löste in mir ein Gefühl der Freude und Geborgenheit aus, welche ich schon länger nicht mehr gespürt hatte.
Es war bereits tiefer Winter, als ich auf die Idee kam, und mir die Kamera kaufte. Ich besass nun bereits viele, für mich wichtige Informationen über Holly. Kannte ihre Vorlieben, ihre Gewohnheiten, wusste von ihrer Angst vor Krähen und kannte sogar ihren innigsten Wunsch.
Die Kamera die ich kaufte, eignet sich, laut Angaben des freundlichen Verkäufers, sehr gut um weit entfernte Objekte detailliert aufnehmen zu können. Perfekt für mein Vorhaben. Ich werde sie fotografieren, wo immer sie war und werde die Bilder in meiner Wohnung aufhängen, damit ich sie mir immer ansehen kann.
Kaum gekauft, fuhr ich mit der Vorfreude eines Kindes einen Tag vor Weihnachten nach Hause und schaute mir das Teil einmal genauer an. Doch ich war viel zu aufgeregt, mich intensiv mit dessen Bedienungsanleitung auseinanderzusetzen, stattdessen zog ich meinen schwarzen Wintermantel an und trat vor die Haustür in die verschneite Strasse. Ein Blick auf die Uhr um mein Handgelenk zeigte mir, dass es fünf Uhr nachmittags war. Holly musste entweder auf dem Spielplatz sein, den sie trotz des dichten Schneefalls immer noch regelmässig besuchte, oder in ihrem Zimmer am lesen oder malen.
Mein Herz klopfte und das Adrenalin schoss durch meinen Körper, wie jedes Mal bevor ich Holly wieder sah – meine Holly.
In zügigen Schritten lief ich die verlassene Strasse entlang. Der Schnee pirschte unter meinen Füssen und ein kalter Wind liess mich erschaudern. Es war bereits am eindunkeln und im Licht der Strassenlaternen sah man die Schneeflocken tanzen. Was für ein Wetter. War Holly wirklich draussen? Ich kam am eisernen Zaun an, welcher den Spielplatz vom Gehweg trennte, doch er war verlassen. Die Schaukeln, Kletterstangen und Rutschbahn waren beinahe ganz zugeschneit. Ich lief weiter die Strasse entlang, als mir plötzlich eine kleine Gestalt vor mir auffiel, die sich langsam immer mehr von mir weg bewegte. Als sie unter das Licht der Laternen trat erkannte ich eine hellblaue Bommelmütze, darunter blitze goldblondes Haar hervor. Holly!
Mein Herzschlag schoss spürbar in die Höhe. Ich spürte die Begierde, die tief in meinem Innern pulsierte und hatte gar nicht bemerkt, dass ich stehen geblieben war. Alles war still um uns herum. Bevor ich bemerkte wie mir geschah, stand ich bereits dicht hinter Holly, welche abrupt stehen blieb und sich zu mir umdrehte. Mir stockte der Atem als sie mich fragend mit ihren grossen, eisblauen Augen ansah. Endlich war der Moment gekommen, indem ich mit ihr reden konnte. Endlich war sie mein.
„Ähm, ich, hallo Holly.“, stammelte ich, überfordert von der plötzlichen Situation.
„Woher wissen Sie, wie ich heisse?“, fragte Holly und ihre Stimme klang wie eine wunderschöne Melodie in der Stille.
„Du hast einen sehr schönen Namen Holly. Ich hab deine Eltern oft gehört, wie sie dich rufen.“
„Haben Sie das?“, fragte Holly und ihr Gesicht zeigte zu meinem Erstaunen keine Verwunderung.
„Ja, ich wohne hier gleich in der Nähe. Das grosse Haus auf der anderen Seite der Strasse.“
Ich deutete mit dem Finger in die Richtung, aus der ich gekommen bin.
„Das ist ein schönes Haus. Ich muss immer daran vorbei, wenn ich zur Schule gehe“, sagte Holly und blickte in Gedanken versunken in die Dunkelheit. Dann war es für einige Zeit lang still. Nur das leise rieseln des Schnees war zu hören. „Darf ich dich mal etwas fragen?“, begann ich vorsichtig und wartete, bis Holly mir wieder in die Augen sah. „Könnte ich ein Foto von dir machen? Du bist ein sehr hübsches Mädchen Holly und ich würde dein Bild gerne in einen Rahmen stellen und aufhängen. Dann fühle ich mich nicht mehr so alleine in meinem Haus.“
Holly nickte und ich lächelte erleichtert. Ich kniete mich vor ihr in den Schnee. Sie blickte zu mir herab wie ein Engel. Aus dieser Perspektive wirkte sie beinahe angsteinflössend und zugleich so faszinierend und wunderschön, dass ich ewig so vor ihr hätte knien können.
Ich blickte durch das Kameraobjektiv und zoomte etwas näher an ihr Gesicht heran. „Achtung.“, sagte ich und hielt den Finger auf den Auslöseknopf. Der kleine Schmollmund formte sich für kurze Zeit zu einem Lächeln, welches dem von Mona-Lisa Konkurrenz gemacht hätte. Und ich drückte ab. Hielt den Moment dieses wunderbaren Lächelns fest gefroren, sodass ich mich jederzeit wieder daran hätte erfreuen können und diese plötzliche Gänsehaut, welche sich in dem Moment auf meinem Körper ausgebreitet hatte, noch einmal hätte nachempfinden können.
Das Foto hängt noch immer da wo ich es danach sofort hingestellt habe. In einem filigranen, silbernen Rahmen direkt über dem Kamin.
Ich schaue es mir gerne an. Auch heute noch. Selbst wenn ich nicht mehr genauso empfinde wie damals, als ich es gemacht habe. Dennoch steckt viel Gefühl in diesem Foto.
„Sir?“ es klopfte an die Zimmertüre. „Was ist denn Maria?“, antwortete ich, ohne den Blick von Hollys Bild abzuwenden. Türe öffnete sich und die kleine, rundliche Frau im Smaragdgrünen Küchenschurz und dem braungrauen, hochtoupierten Haar trat ins Zimmer. Seit dem Tod meines Vaters kümmerte sie sich um das Anwesen. Sie putzte, kochte, wusch die Wäsche und goss sogar alle Zimmerpflanzen. Wofür ich Maria aber am meisten schätzte, war diese offene, humorvolle und fast mütterliche Art, mit der sie mich behandelte. Ich war froh gewesen, so jemanden wie sie im Haus zu haben. „Ich habe Fräulein Holly jetzt auf ihr Zimmer gebracht.“, sagte Maria und ihr Blick huschte kurz über Holly Bild dann zum Glas Portwein in meiner Hand.
„Sehr gut, sie soll sich ausruhen. Vielen Dank Maria, aber Sie können jetzt nach Hause gehen.“ Sie nickte und verschwand wortlos aus der Türe.
Maria hatte sich verändert seit Holly bei uns lebte. Sie wirkte unruhig, beinahe ängstlich und schien jedes Mal erleichtert wenn sie nach Hause konnte. Früher war sie auch öfters länger geblieben, ass mit mir zu Abend und wir spielten eine Runde Backgammon zusammen.
Ich hörte wie die Eingangstür ins Schloss fiel bevor das Haus wieder in völliger Stille versank.
Ich setze mich auf den rot gepolsterten Ohrensessel vor den Kamin und schaue auf Hollys Bild, drehte dabei das Kristallweinglas mit der blutroten Flüssigkeit in der rechten Hand und dachte nach.
Ich konnte es mir nicht erklären. Ich hatte nun, was ich so lange begehrt hatte, wovon ich monatelang geträumt hatte und doch gibt mir mein Gefühl nicht die Befriedigung, nach der ich mich so lange gesehnt hatte. Warum? Darüber zerbrach ich mir fast Täglich den Kopf.
Es war gut ein Monat her seit ich Holly zu mir geholt habe. Ich verstecke sie in dem Haus und hüte sie wie ein Schatz vor allem was sie mir wegnehmen könnte. Sie kann sich in den 23 Zimmer frei bewegen. Eines davon habe ich extra für sie eingerichtet. Ein grosses Himmelbett, ein Schreibtisch, ein Bücherregal, ein Schrank voller schöner Kleider und natürlich jede Menge Spielsachen.
Sogar das weisse Kaninchen, das sie sich seit Jahren wünschte, habe ich ihr geschenkt. Doch sie war nicht glücklich. Sie war aber auch nicht traurig. Es war dieselbe, undefinierbare Gleichgültigkeit in ihrem Blick, welche sie seit jeher hatte. Diese Gefühllosigkeit.
Ich nahm einen grossen Schluck aus meinem Glas. Er schmeckte bitter, leicht Holzig und hatte einen säuerlichen Nachgeschmack, genauso wie ich ihn mochte.
Was mich am meisten überrascht hatte, war, dass Holly nicht einmal geweint oder geschrien hatte, als ich sie aus ihrem ehemaligen Zimmer geholt hatte. Ich hatte mich bereits darauf eingestellt, dass sie sich wehren würde. Das würde jedes Kind tun, wenn ein fremder Mann durch das Fenster steigen würde. Aber Holly war anders. Holly war schon immer etwas Besonders gewesen. Es kam mir damals vor, als ob sie gewollt hätte, dass ich sie mitnehme. Als ob sie nur darauf gewartet hatte. Ich erinnerte mich an diese besondere Nacht. Ich erinnere mich oft daran wie ich sie geplant hatte. Wie ich jedes Detail abgewogen, mehrere Male durchdacht und Geistig durchgespielt hatte. Es musste natürlich alles perfekt ablaufen. Einen Fehler hätte ich mir nicht erlauben können.
Ich plante eine Entführung. Wenn Ich heute so darüber nachdenke, finde ich es krank, irrsinnig und dumm. Doch damals sah ich das anders. Ich musste es tun. Es war als ob dieses kleine Mädchen bei mir sein musste und ich hätte alles daran gesetzt, sie zu bekommen. Alles!
Ich wusste von den Eltern, dass sie sich an diesem Abend in der Stadt treffen wollen. Sie feierten ihren zwölften Hochzeitstag. Es war nie die Rede von einem Kindermädchen gewesen und ich sah in diesem Abend meine Chance, sie endlich, endlich zu mir zu holen. Um punkt Mitternacht begann meine Operation die ich liebevoll Mission Holly genannt hatte. Dies gab dem Ganzen einen zwar etwas kindlichen, jedoch spannenden, aufregenden Touch und erinnerte an einen Science-Fiction-Film.
Wie sie dasass, als ob sie auf mich gewartet hätte. Sie trug ein hellblaues Nachthemd und schneeweisse Kniesocken an den Füssen, welche in flauschigen Pantoffeln steckten. Sie hatte mich nur angeschaut, mit diesem Blick, der einem das Gefühl gab, er würde einen Röntgen. Keine Regung hatte sie gezeigt, nicht einmal Angst.
Nun war sie da. Sie war bei mir.
Ein leises Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Holly trat in den Raum. Das weisse Nachthemd schleifte bei jedem Schritt ein wenig am Boden entlang. „Was ist den meine Prinzessin?“, fragte ich liebevoll. „Kannst du nicht schlafen?“. Holly kam langsam auf mich zu. Sie bewegte sich zögernd, fast Katzenhaft, den Blick tief in meine Augen gebohrt Ihr Gesicht war emotionslos, doch etwas ihr war anders. Ihr Blick wirkte klar und kalt.
„Mister Wright, ich wollte ihnen nur sagen, dass ich nicht länger bei Ihnen bleiben kann. Ich bedanke mich noch einmal für all die Sachen, welche Sie mir geschenkt haben, doch das ist nicht mein Zuhause. Ich muss Sie jetzt verlassen!“
Ich stutzte, solche Worte höre ich von ihr das erste Mal. Sie sprach zwar auch sonst nicht so viel. Antwortete genau auf meine Fragen, doch von sich aus hat Holly kaum was gesagt. „Aber Holly, meine Liebe, das hier ist dein Zuhause! Hier gehörst du hin. Zu mir“, sagte ich und richte mich in meinem Sessel auf. Holly schüttelte den Kopf und eine ihrer blonden Locken fiel ihr ins Gesicht. „Nein Sir. Ich möchte hier nicht mehr länger bleiben.“
Was war nur mit ihr passiert? Woher kam diese plötzliche Wendung? Hatte ich denn nicht alles für sie getan? Zweifel kamen in mir hoch und Angst. Angst meinen grössten Schatz zu verlieren. Meine Holly zu verlieren. „Du kannst hier nicht weggehen Holly! Du gehörst mir.“ Ich merke, wie meine Stimme zu zittern beginnt und wie sie lauter wurde. Ich leerte hastig das Weinglas und versuchte ruhig zu bleiben. Sie durfte mich nicht verlassen. Dies war bestimmt nur eine Phase. Eine Phase die vorbeigehen würde. Es braucht nur Zeit. Mein Verstand stimmte stumm meinen Gedanken zu und ich war mir sicher, dass Holly nur eine etwas schwierige Zeit durchmachte und sich trotz allem zuerst an ihr neues, besseres Leben gewöhnen musste. Ich würde auf sie warten.
Doch es wurde immer schlimmer.
Holly weigerte sich mit mir oder Maria zu reden. Sie weigerte sich auch zu essen oder zu trinken. Sie sass den ganzen Tag auf dem kleinen, weissen Schaukelstuhl und kämmte mit leeren, verschleierten Augen das lange blonde Haar einer Porzellanpuppe, die ich ihr Geschenkt hatte. Sie schien kaum noch etwas wahrzunehmen oder ignorierte absichtlich jedes Geräusch und jedes Wort um sie herum.
Je mehr Holly sich zurückzog desto schlechter ging es mir.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich hatte alles und doch nichts. Holly, oder das was von ihr übriggeblieben war, ähnelte tatsächlich mehr den je einer Puppe. Eines leblosen, gefühllosen und kalten Objekts. Ein Objekt, dass man zwar besitzen kann, doch welches nicht reden, nicht Gefühle zeigen kann.
Ich musste einige Tage Urlaub beziehen, da es für mich unmöglich wurde, konzentriert zu arbeiten. Ständig dachte ich an Holly. Ich wollte dass sie glücklich war, wollte dass sie lächelt, so wie sie es getan hatte, als ich ihr Herzenswunsch – das schneeweisse Kaninchen – erfüllt habe. Ich will, dass sie mit mir spricht, mir sagt wie sie sich fühlt, mir sagt wenn sie Schmerzen hat, wenn sie Hunger hat oder wenn sie durst hat. Ich will, dass Holly mich an ihrem Leben teilnehmen lässt.
Ich erinnere mich genau an diesen Donnerstag. Der regen fiel in Strömen und verwandelte den weichen, weissen Schnee auf den Strassen und Vorgärten zu einer braunen, schlammigen Masse. Mein psychisches Wohlbefinden befand sich bereits seit einer ganzen Weile auf einem Tiefpunkt. Verzweiflung, Angst und Wut beherrschten meinen Alltag. Ich konnte mir diese Gefühle noch immer nicht erklären doch ich konnte nichts dagegen machen.
Auch wenn ich ihr nie etwas getan habe, ihr alles schenkte was sie begehrte und so viel Arbeit in ihr Wohlbefinden steckte, war Holly unglücklich ja sogar fast schon aufmüpfig geworden.
„Ich bin nicht Ihr Besitz Sir. Lassen Sie mich gehen!“ Ihre Stimme war kalt und gefühllos. „Du bleibst da! Darüber werde ich jetzt nicht diskutieren. Sei dankbar, hier hast du alles, was du dir wünschen kannst. Andere Kinder können nur davon träumen.“
Ich sass in meinem geliebten Ohrensessel im Büro und trank Portwein. Eine ganze Menge Wein, was in letzter Zeit immer öfters vorkam.
Das flackernde Feuer im Kamin warf tanzende Schatten auf das lange, schneeweisse Nachtkleid welches sie trug.
Holly kam einen Schritt auf mich zu. Das zierliche, kleine Mädchen wirkte plötzlich kalt und unheimlich. „Ich sagte, lassen Sie mich gehen!“ ihre Stimme war lauter geworden. „Nein Holly.“ Ich schüttle den Kopf. Ich spürte mein Herz hart gegen meine Brust pochen. Lag es am Alkohol oder an Holly? Niemals würde ich sie wieder gehen lassen. Nicht auszudenken was alles passierte, würde ich sie gehen lassen. Ich käme wegen Entführung ins Gefängnis, doch noch schlimmer war, dass ich sie dann nicht mehr hätte. Dies wäre unausstehbar.
Klirr! Die Vase zersprang in tausend Stücke. Ich war sofort auf den Beinen, dabei schwappte ein Teil des Weins übers Glas und landete auf meiner Hose, wo er sich als roter Fleck durch den Stoff frass. „Was hast du getan! Das war ein Familienerbstück!“ Mein Blick fiel ungläubig auf den Scherbenhaufen am Boden. Klirr! Die Kristallobstschale von meiner Mutter landete ebenfalls mit lautem Krach zu Hollys Füssen und zerbrach in ihre Einzelteile. Die Angst war verschwunden. Stattdessen bahnte sich Wut einen Weg durch meinen Körper. Das Blut pochte in meinem Kopf und verursachte üble Schmerzen. Ich spürte wie meine Hände zitterten und sich zur Faust ballten. Holly lief geradewegs rüber zum Kamin und hob eine schwere Kupferstatue auf. Diese war ein Geschenk meiner Tante von ihrer Durchreise nach Indien und würde bestimmt nicht kaputt gehen. Holly blickte kurz zu mir rüber, der Gesichtsausdruck war leer und kalt. Sie kniff die Augen zusammen und holte aus. Das Glas, im Rahmen zersprang und fiel als glitzernder Scherbenregen zu Boden. „Neeein!“, schrie ich und sah wie Holly mit gleichgültigem Blick mein heissgeliebtes Bild von ihr aus dem Rahmen riss und es ins Feuer warf. „Nein!“, keuchte ich erneut und rannte alarmiert zum Kamin. Doch ich konnte es nicht mehr retten. Innerhalb von Sekunden hatten die gierigen Flammen das Bild aufgefressen und verbrannt. Schwer atmend und voller Zorn drehte ich mich zu Holly, packte sie mit festem Griff an den Handgelenken und stiess sie Grob auf das Sofa. „Da bleibst du sitzen, hast du verstanden! Das ist der Dank für all das, was ich für dich getan habe? Du gehörst mir und hast mir zu gehorchen!“
Ich stolperte aus dem Raum und lehnte mich in der Küche erstmals an den Tresen. Zitternd und in voller Rage leerte ich den restlichen Inhalt der Rotweinflasche in mein Glas und nahm einen grossen Schluck. Ich musst mich beruhigen, ansonsten würde ich vielleicht Dinge tun, die ich später bereuen werde. Doch was war nur los mit ihr? Warum hat sie das nur getan? Ich verstand es nicht. Ich habe ihr doch alles geschenkt was sie wollte und schaute, dass sie all das hatte, was sie brauchte. Beim Versuch das Bild vor dem Feuer zu retten, hatte ich mich an der Hand etwas verbrannt.. Der kühle Wasserstrahl wirkte beruhigend und wohltuend. Immer noch ungläubig holte ich einen Besen aus dem Putzschrank und ging zurück ins Wohnzimmer. „Holly ich…“ Ein stechender Schmerz durchfuhr mich wie ein Blitz und liess mich sofort erstarren. Ich blickte an mir runter und sah, wie sich mein weisses Hemd langsam rot färbte. Mitten auf der Türschwelle sackte ich auf die Knie.. Vor mir stand Holly. Das kleine Mädchen, die wunderschöne Prinzessin, die Unschuld in Person. In ihrer rechten Hand hielt sie eine grosse, spitze Scherbe. Blut tropfte von der Spitze und hinterliess rote Spuren auf ihrem Nachthemd. Ihr Blick war noch immer ausdruckslos und leer.
Meine Atmung wurde schwerer. Der Schmerz beginnt sich auf meinen ganzen Körper auszubreiten. Ich versuche mich aufzurappeln und hinterlasse dabei schmierige Blutspuren am Türrahmen. Vergebens. Ich sacke in mir zusammen auf den Boden. Unfähig zu sprechen oder aufzustehen. Was ist nur aus mir geworden? Wie konnte so etwas passieren? „H... H... Holly!“, wispere ich mit schwacher Stimme. „Hilf mir!“ Holly setzt sich aufs Sofa. „Sir“, sagte sie mit engelhafter Stimme, „Sie haben gesagt ich soll hier sitzen bleiben.“ Und bevor alles um mich schwarz wurde, hörte ich sie zum ersten Mal richtig lachen.
Als ich dann fünf Stunden später im Spital aufgewacht bin, konnte ich mir zuerst keinen Reim daraus machen. Ich lag in einem fremden Bett an einem fremden Ort. In meiner Nase und meinem rechten Arm steckten Schläuche, durch diese kontinuierlich eine grüngelbe Flüssigkeit in mein Körper gepumpt wurden. Ich hatte stechende Schmerzen im Bauch und Kopf und ein unaufhaltsames Piepen, welche aus einem grossen, schwarzen Kasten neben meinem Bett kam, war das Einzige Geräusch welches zu hören war.
Ich konnte mich nicht erinnern was geschehen war. Auch an Holly konnte ich mich nicht mehr erinnern.
Die Ärzte sprachen von einem Unfall, bei dem mich ein Glassplitter eines Bilderrahmens verletzt habe. Als ich eine Woche später das Spital verlassen konnte, fand ich den leeren Rahmen vor und das Glas, welches zusammen mit anderen Scherben auf dem Boden lag. Der Mahagoni Holzboden war bei der Tür rot befleckt. Musste mein Blut sein, dachte ich. Doch ich konnte mir nicht erklären weshalb das Blut bei der Tür am Boden lag und die Scherben weiter hinten beim Kamin. Die Ärzte sagten auch i sei ziemlich alkoholisiert gewesen. Das Weinglas in der Küche und die leere Flasche daneben bestätigten dies.
Ohne mir jedoch weiter den Kopf zu zerbrechen, was ohnehin nicht sehr gut für meinen Kopf gewesen wäre, rief ich als erstes meinen Chef an. Ich war beruhigt als dieser mir sagte, ich hätte Ferien bezogen, woran ich mich jedoch wiederum zu meiner Beunruhigung nicht mehr erinnern konnte.
Nachdem ich die Scherben weggeräumt, den Bilderrahmen weggeworfen und die leeren Flaschen, welche sich schon in meiner Küche gestapelt hatten, entsorgt hatte, entschied ich mich nach draussen zu gehen. Frische Luft würde mir auch gut tun haben die Ärzte gemeint. Ich zog mich an und trat vor die Tür. Draussen schien die Sonne und schmolz ununterbrochen den letzten Schnee von den Strassen, Häuser und Bäumen. Ohne genau zu wissen wohin ich gelaufen war, fand ich mich beim Park wieder. Es waren viele Leute da an diesem schönen Tag. Fröhliche Kinder tobten auf den Schaukeln, Rutschen und Kletterstangen und ihre Eltern sassen am Rand und blickten ihnen zu oder unterhielten sich.
Plötzlich fiel mir ein Mann auf der draussen am Wegrand stand. Er war vielleicht etwas jünger als ich, trug einen Grauen Mantel und eine braune Mütze auf dem Kopf. Krampfhaft hielt er sich am Zaun fest und blickte angestrengt in den Park. Seine Lippen presste er fest zu einem schmalen Strich zusammen. Etwas schien ihn gefangen zu halten. Irgendwas schien ihn so sehr zu faszinieren, dass er unfähig war sich zu bewegen. Ich folgte seinem Blick, welcher in Richtung der Schaukeln deutete. Was ich nun sah liess mir das Blut in den Adern gefrieren. Das kleine, blonde Mädchen, welches alleine auf der Schaukel sass und mit grossen blauen Augen in den Himmel schaute wippte leicht mit der Schaukel hin und her. Von diesem Augenblick an erinnerte ich mich wieder an sie. Und ich erinnerte mich an alles was geschehen war. In diesem Moment drehte sich das Mädchen um und zwinkerte mir mit eiskaltem Lächeln zu.