HoHoHo
„HoHoHo! Frohe Weihnachten, ihr Wichser. HoHoHo!“ mit einem schallenden Gelächter griff er in den Sack und holte ein wunderschönes, farbiges Paket raus.
„Was haben wir denn da?“ Er schüttelte es, während er es vor sein Ohr hielt. Dann beäugte er das Päckchen und sah den kleinen Ring herausragen. „HoHoHo, wir müssen nur den Nippel durch die Lasche ziehen …“ Sprach´s, zog dran, horchte erneut und warf es lachend in die ihn umlagernde Meute Neugieriger. Kurzfristig reckten sich dutzende Armpaare dem Geschenk entgegen, um Bruchteile von Sekunden später, genau im Moment der Explosion, losgelöst eine völlig andere Richtung einzuschlagen.
Der Weihnachtsmann schüttelte empört den Kopf, er mochte die plötzliche Unordnung nicht. Die schreienden, kreischenden Leute verdarben die weihnachtliche Stimmung. Das Gewusel der Körper, der Toten und Verletzten, die weggeschleppt wurden, hatte so gar nichts Besinnliches mehr an sich. Er sah an sich herunter. Die kleinen roten Sprenkel fielen auf seinem roten Mantel nicht sehr auf. Lediglich auf dem wallenden, weißen Bart bildeten sie einen niedlichen bunten Kontrast.
„HoHoHo, Friede auf Erden. Und den Menschen ein Wohlgefallen. Wohlgefallen? Das hat euch wohl gefallen?“ Er lachte laut über seinen eigenen Witz und wuchtete sich ächzend aus dem alten, bequemen Sessel empor. Dann verschwamm seine Gestalt, immer und immer stärker. Es sah aus, als würde seine Kontur völlig zerfasern, dann war er weg.
Als Ostern ein weißer Hase bunte Handgranaten in die Nester legte und auch zu diesem Friedensfest die Schlagzeilen über Chaos und Tod alles Positive vergessen ließen, begann man sich Gedanken zu machen. Der Hase wurde gesehen und verschwand, indem die Konturen seiner Figur langsam zerfaserten und sich dann vor allen Augen in Luft auflösten. Man entdeckte eine Analogie zu Weihnachten.
Eduard Plagert war spindeldürr und nie länger als einen Sekundenbruchteil ohne Bewegung. Außerdem war er Friedensfestanalytiker und Wissenschaftler. Und als Wissenschaftler war er Realist, zumindest solange, bis er realistisch betrachtet keinen realen Nutzen durch Festhalten an Realitäten ziehen konnte. Dann bezog er auch irreale Dinge in seine Analysen mit ein. Böse Zungen pflegten dann mit wachsender Begeisterung auf den Wortstamm „Anal“ in seiner Berufsbezeichnung hinzuweisen und werten seine Ergebnisse dementsprechend. Eduard stand seit jeher weit über solcherart kleinlicher Kritiker. Er wusste, dass die Ergebnisse seiner Analysen realistisch waren, mathematisch und christlich untermauert.
Vor ihm stand der Polizeipräsident von Stork-City und lachte ihn aus.
„Lieber Herr Plagert, jetzt schießen sie aber übers Ziel hinaus. Ich soll jede werdende Mutter in der Stadt von einem Polizeiaufgebot bewachen lassen? Damit nicht ein schwer bewaffneter Klapperstorch den beginnenden Geburtsvorgang gewalttätig umkehrt? Ich bitte Sie…“ Er ließ sein kurzes Auflachen mit einem irren Kichern ausklingen.
„Das Ergebnis meiner Analyse - das eindeutige Ergebnis! – lässt keine andere Möglichkeit zu. Überlegen Sie: Welche Figuren gibt es, die es nicht gibt?“ Den Zeigefinger hoch in die Luft streckend zog er die Augenbrauen hoch, riss dabei die Augen weit auf und blickte den Polizeipräsidenten auffordernd an. Der blickte zurück, wobei man seinem Gesichtsausdruck entnehmen konnte, dass er zwischen zwei Alternativen zu entscheiden hatte: ob er dem Plagert eine von diesen weißen Jacken mit ganz langen Ärmeln anziehen oder ihn einfach von ein paar Beamten in eine Ausnüchterungszelle stecken lassen sollte. Der Polizeipräsident machte den Mund auf, als wolle er was sagen, dann klappte er ihn aber wieder zu und schüttelte den Kopf.
„Nun, dann anders. Ihr Ansatz: Das erste Attentat war Weihnachten, das nächste Ostern. Was danach? Pfingsten? Aber als welche Figur würde ein Attentäter auftreten? Eduard Plagert hob belehrend den Zeigefinger. „Nicht das Friedensfest steht im Vordergrund der Aktivitäten, es ist die Figur. Und zwar eine, die im realen Leben keinen Platz hat: Weihnachtsmann, Osterhasen, und… - einen Klapperstorch. Und hier ist unsere Chance. Klapperstörche haben keine bestimmte Saison, sie haben den Vorteil, immer und überall auftauchen zu können. ICH BIN SICHER: Er wird als Klapperstorch auftreten. Man wird doch in der Lage sein, einen Klapperstorch zu verhaften, bevor er losklappern kann.“ Er fuchtelte empört und hektisch mit den Armen durch die Luft, als wolle er die Gedanken des Polizeipräsidenten bzgl. psychologischer Zurechnungsfähigkeit beiseite wischen.
Man wartete. Überall liefen schwangere Frauen in Begleitung einer Gruppe Polizisten durch ihre täglichen Routinestationen. Doch kein Klapperstorch erschien mit einem Maschinengewehr zwischen den Flügel und mordete vor sich hin. Eduard Plagert wurde täglich nervöser. Pfingsten kam - und verging ereignislos. Der Polizeipräsident trat zurück.
Plagert studierte akribisch die Tagesmeldungen: Großereignisse (er war sicher, das nächste Attentat würde mehr Tote bringen), Sportveranstaltungen, Olympiavorbereitungen, Politik, Neuwahlen, Irak-Krise, Kultur, DsdS, Rockkonzerte – er blieb ohne Erleuchtung und die Zeit drängte. In welcher Figur würde der Attentäter das nächste Mal zuschlagen?
Plagert schaltete noch mal den Fernseher an, gerade als Dabbelju George am Ende seiner Rede war: „I´ll bring the freedom to the world!“ Ein eindrucksvoller Effekt der Regie ließ bedächtig das Live-Bild des zerbombten Irak aus dem Hintergrund hervortreten, während die Konturen des Präsidenten langsam zerfaserten und sich dann in Nichts auflösten. Und irgendwo im Hinterkopf hörte Plagert ein leises: „HoHoHo.“