Hoffnung
Steine, Wüste, Büsche, heißer Asphalt und eine exakt 55 Meilen anzeigende Tachonadel waren alles was Virginia vor ihren Augen sah. Virginia! Welcher halbwegs normal denkende Mensch nennt sein Kind nach einem Bundesstaat? Was hatte ihre Eltern geritten, als sie sich diesen Namen überlegt haben? Ihr fiel ein, dass sie ihre Eltern nie danach gefragt hatte und auch nicht mehr fragen konnte. Es war zu spät. Sie waren beide letzten Monat bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als ein Trucker der Meinung gewesen war am Steuer einschlafen zu können. In dem vollkommen zerquetschten Landrover ihrer Eltern fand die Feuerwehr zwar noch Körperteile ihrer Eltern, aber es reichte nicht aus um sie eindeutig identifizieren zu können. Es schauderte Sie. Waren diese Ereignisse wirklich erst wenige Wochen her? Die Leichenhalle, der Geruch nach verwesendem Fleisch? Die Überreste ihrer Eltern? Sie hatte immer noch das Gefühl das Erbrochene auf ihrer Zunge schmecken zu können, das sich langsam aus dem Magen in ihrem Mund verteilt hatte, als der Leichenbeschauer das weiße Laken angehoben hat. Das verbrannte Gesicht ihrer Mutter hatte sie mitleidig angesehen, als ob sie ihr sagen wollte, dass es nicht ihre Schuld war. Selbstverständlich wusste sie, dass sie nicht Schuld war am Tod ihrer Eltern, aber was änderte das? Sie war auch nicht Schuld am Tod ihres Bruders, der vor drei Jahren bei einer Strandparty ertrunken war. Es war auch nicht ihre Schuld das sie jetzt alleine war, ohne ihre Eltern, ihren Bruder. Das eine übriggebliebene Auge ihrer Mutter schien ihr zuzuzwinkern. Du schaffst das schon Virginia, du schaffst es……
Sie schaute wieder auf die Tachonadel vor sich. 55 Meilen. Was hatte sie auch erwartet. Sie versuchte in dieser Einöde nicht aufzufallen. Was für ein idiotischer Vorsatz. Man konnte meilenweit in alle Richtungen blicken und hätte jedes hinter einem Werbeplakat getarnte Polizeifahrzeug schon Minuten vorher gesehen. Welcher Polizist wäre auch so bescheuert sich bei 45 Grad im Schatten an einen Highway zu stellen, auf dem nur eine Hand voll Autos pro Tag fahren. Hier war nichts, rein gar nichts. Oder doch? Ein Schild – 236 Meilen bis Denver - . Sie betrachtete im Vorbeifahren das halb mit Sand zugewehte Schild. Der einzige Hinweis auf Zivilisation, den sie seit Stunden gesehen hatte. Ihre Freunde hatten sie auf diesen Highway vorbereitet, aber das es so trostlos sein würde hätte sie nicht gedacht. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie erst ihr Studium an der Uni fortsetzen wollen. Sie studierte Medizin an der Oxford University, so wie ihre Eltern es immer gewollt hatten. Aber sie hörte auf den Rat ihrer Freunde. Abschalten, auf andere Gedanken kommen, eine Auszeit nehmen. Der einzige Ort wo ihr dies gelingen konnte, waren die Rockys. Das war das Ziel ihrer Reise, ein kleiner Bergsee in den Rocky Mountains. Weit weg von allen Problemen und Gedanken. Weit weg. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte es zwei Möglichkeiten gegeben. Ein kurzer Flug und danach noch wenige Stunden mit dem Mietwagen in die Berge, oder der lange Weg durch dieses Tal, mit ihrem alten Volvo und vollkommen alleine mit ihren Erinnerungen. Sie hatte sich für diesen Weg entschieden, da sie der festen Überzeugung war durch diese einsamen Stunden ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Neuen Mut zu fassen, ihr Leben wieder lebenswert zu gestalten.
Das monotone Geräusch des Motors holte sie aus ihren Tagträumen zurück. Zum bestimmt hundertsten Mal drückte sie den Knopf für die Klimaanlage, aber es geschah nichts. Es ärgerte sie, dass sie vor Beginn der Fahrt nicht überprüft hatte, ob die Klimaanlage des Volvo funktioniert. Ihr Vater hätte darauf geachtet. Er hat immer auf alles geachtet. Von ihm hatte sie auch den Volvo geschenkt bekommen, als Belohnung für ihren Highschoolabschluß. Er wollte das sie ein großes, geräumiges und vor allen Dingen sicheres Fahrzeug hat, so wie der Landrover ihrer Eltern. Sicher. Was bringt einem die Sicherheit, wenn ein Vierzigtonner einem auf das Dach fällt. Wieder der Gedanke an die Eltern. Sie wollte doch endlich abschalten, auf andere Gedanken kommen. Aber so einfach war es nicht. Der warme Fahrtwind wehte ihr eine Strähne vor das Gesicht. Sie blieb an der Stirn kleben. Bisher hatte sie die Hitze nicht so richtig wahrgenommen, aber so langsam spürte sie wie ihre Kleidung am Körper klebte, einzelne Schweißtropfen liefen ihr über die Stirn. Der durch die offenen Fenster einströmende Fahrtwind brachte schon lange keine Kühlung mehr. Aus dem Augenwinkel sah sie die Wasserflasche auf dem Beifahrersitz. Ein tiefer Schluck aus der Flasche wäre jetzt das richtige. Sie griff nach der Flasche und zog sofort die Hand wieder zurück. Autofahren und gleichzeitig trinken hätte ihr Vater nicht gerne gesehen. Obwohl es in dieser Einöde niemanden gestört hätte, wenn sie ein paar Meilen mit einer Hand gefahren wäre, entschloss sie sich anzuhalten und eine kurze Pause einzulegen. Vorschriftsmäßig setzte sie den Blinker und fuhr langsam an den staubigen Rand des Highways. Sie stieg aus, umrundete ihr Auto und nahm die Flasche vom Beifahrersitz. Endlich Wasser, als Medizinstudentin wusste sie natürlich wie wichtig es war dem Körper ausreichend Flüssigkeit zukommen zu lassen. Beim Trinken liefen ihr einzelne Schweißtropfen in die Augen. Sie schüttete sich ein wenig Wasser in die Hand und wischte sich damit den Schweiß aus dem Gesicht. Da sah sie die Bewegung. War es eine Bewegung? Mit dem T-Shirt wischte sie schnell ihr Gesicht ab und sah in die Richtung in der sie etwas gesehen hatte. Nichts. Ein paar Dornenbüsche wirbelten über den Sand und dann über den heißen Asphalt des Highways. Sonst nichts. Hatten ihre Sinne ihr einen Streich gespielt?
Nach der kurzen Rast stieg sie wieder in ihr Auto und startete den Motor. Wieder ein Versuch die Klimaanlage zu starten, doch es gab nur ein kurzes Klacken und mehr nicht. Sie fuhr los und achtete sofort wieder auf die Tachonadel. Nicht mehr als 55 Meilen. Im Kopf versuchte sie zu berechnen wie viele Stunden sie noch fahren musste, um endlich die Ausläufer der Rockys zu erreichen. Endlich dieser Hitze entkommen, Schatten spendende Berge, frische Luft. Trotz dieser guten Aussichten ließ sie ihr Erlebnis von eben nicht los. Sie hatte etwas gesehen. Vielleicht ein Tier? Seit ihrer kurzen Rast fühlte sie sich unsicher, beobachtet, nicht mehr allein. Mehrfach ertappte sie sich dabei, wie sie in den Rückspiegel schaute. Doch was erwartete sie? Das sie hinter sich das Gesicht eines Mannes sehen würde? Woher sollte er gekommen sein? Ihre Unruhe steigerte sich und nicht nur die. Das Wasser tat sein übriges. Was reinkommt, muss auch mal wieder raus. Also eine erneute Pause. Doch irgendwie konnte sie sich nicht entscheiden. Die Entscheidung wurde ihr abgenommen! Die Klimaanlage sprang an……
Damit hatte sie nicht gerechnet. Es wurde kühl, dann gab es ein klackerndes Geräusch. Der Lüfter blieb wieder stehen. Es roch wie bei einem frisch entzündeten Lagerfeuer und dann passierte es. Die Elektronik des Volvo brannte. Der beißende Qualm verteilte sich schnell im Fahrzeug und brannte ihr in den Augen. Sie konnte kaum noch etwas erkennen, sie verlor die Kontrolle und kam mit dem Volvo auf den unbefestigten Seitenstreifen. Virginia hatte keine Chance den Wagen abzufangen. Der Volvo schoss wie ein wild gewordener Büffel von der Strasse. Sie konnte gerade noch sehen, dass sie auf eine kleine Steinformation zufuhr, als der Zusammenstoß erfolgte. Es gab einen Knall, der Volvo legte sich auf die Seite, überschlug sich und rutschte auf dem Dach noch einige Meter, Sand drang durch die Fenster ein, Glas splitterte und dann kam er zum Stehen.
Langsam kam Virginia zu sich. Ihr Kopf schmerzte. Sie brauchte einen Moment um zu realisieren was geschehen war. War es ihre Schuld gewesen? Was hätte ihr Vater in dieser Situation gemacht? Ihr wurde schwindelig und sie verlor das Bewusstsein.
Diese Schmerzen. Virginia öffnete langsam ihr rechtes Auge. Die Sonne blendete sie. Wieder hatte sie das Gefühl ohnmächtig zu werden, doch dieses Mal kämpfte sie dagegen an. Die Schmerzen raubten ihr fast den Verstand. Doch sie wusste nur zu gut, was ihr blühte wenn sie unter diesen Bedingungen nicht bei Bewusstsein bleiben würde. Langsam versuchte sie ihre Arme zu bewegen. Der linke Arm war unnatürlich verdreht und schien gebrochen zu sein. Den rechten konnte sie gut bewegen. Ein Auge konnte sie nicht öffnen. Es war vom Blut verklebt, dass ihr aus einer Wunde an der Stirn über das Gesicht lief. Sie konnte es immer noch nicht verstehen. Wieso passierte ihr das? Hatte sie nicht schon genug durchmachen müssen in den letzten Wochen? Sie hatte sich so sehr gewünscht, dass die Klimaanlage funktioniert, doch wenn sie gewusst hätte was dann passiert, hätte sie gerne darauf verzichtet. Ein Schatten viel auf ihr Gesicht. Ein Schatten? Die Sonne blendete sie erneut. Spielte ihr das unversehrte Auge einen Streich? Da wieder. Aus dem Augenwinkel hatte sie doch eindeutig etwas gesehen. War es ein Bein gewesen. Jetzt nicht durchdrehen. Du hattest einen Unfall, deine Sinne spielen dir einen Streich. Virginia wollte einfach nur schreien, aber ihr Mund und ihr Hals waren so trocken, dass sie nicht einen einzigen Ton zustande brachte. Sie versuchte sich ein wenig zu bewegen und sich vor allen Dingen aus dem Gurt zu befreien, der noch über ihre Brust gespannt war. Mit dem gesunden Arm konnte sie nicht den Hebel erreichen um den Gurt zu lösen. Mit dem anderen Arm versuchte sie es erst gar nicht. Sie hing kopfüber in ihrem Volvo und kam sich hilflos vor. Panik stieg in ihr auf. Wer sollte sie hier entdecken? Wie groß war die Chance das jemand auf sie aufmerksam wird, oder den Volvo weitab vom Highway entdeckt? Langsam verlor die Sonne an Kraft. Die Dämmerung setzte ein.
Alles drehte sich in Virginias Kopf. Sie musste endlich aus dieser Position herauskommen, ihr stieg das Blut in den Kopf, sie wurde ständig bewusstlos und ihre Wunden mussten versorgt werden. Alles drehte sich………nein, der Volvo drehte sich. Was geschieht hier? Sie drehte hektisch den Kopf, was ihr starke Schmerzen bereitete, aber sie musste unbedingt sehen, was dort vor sich ging. Sie sah mehrere langgezogene Schatten, die durch die tiefstehende Sonne unnatürlich lang wirkten. War ihr jemand zur Hilfe gekommen? Sie versuchte erneut sich bemerkbar zu machen. Aber ihrer Kehle entstieg nur ein tiefes Krächzen. Das Fahrzeug hörte auf sich zu bewegen. Sie hörte Schritte. Viele Schritte. Schabende Laute. In ihrem Rücken machte sich jemand zu schaffen. Jemand oder Etwas? Sie spürte einen heißen Atem in ihrem Nacken. Was lebte hier in dieser Einöde? Kojoten? Wieder dieser Atem in ihrem Nacken. Wenn sie doch bloß besser sehen könnte. Sie versuchte ihr verklebtes Auge zu öffnen. Ganz langsam gelang es ihr. Sie konnte die ersten Schemen erkennen. Eine Hand? War das eine Hand? Doch irgendetwas stimmte hier nicht. Die Hand sah entsetzlich entstellt aus. Virginia wünschte sich wieder das Bewusstsein zu verlieren, aber ihr Körper tat ihr nicht den Gefallen. Die Hand näherte sich langsam ihrem Gesicht. Jetzt konnte sie es genau erkennen. Es war Fell. Blutverschmiertes Fell. Die Hand fasste sie unter dem Kinn und drehte langsam ihren Kopf. Sie sah in eine dämonische Fratze, die sie anlächelte. Langsam öffnete diese Ausgeburt der Hölle ihr Maul und gab den Blick frei auf spitze Reisszähne, in denen teilweise Fleischreste hingen. Die Bestie beugte sich langsam herab, kam ihrem Hals immer näher und flüsterte ihr ins Ohr: „Deine Familie erwartet dich Virginia“. Sie schloss die Augen und lächelte. Das erste Mal seit Wochen, dass sie sich glücklich fühlte. Dann biss die Bestie zu.…