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- 07.08.2016
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Hochzeit im Orient
Die alte Karawanenstraße führte jenseits von Kairo mitten in den Bauch der Wüste und zeigte das unveränderte Gesicht des Orients in seiner altertümlichen Gestalt. Mit dem ers-ten Tageslicht versammelten sich die Touristen zum Ausflug nach Kairo. Schon um sechs Uhr früh war es brütend heiß, die Luft war trocken, und eine unerträgliche Windstille lag über der ganzen Region. Kein einziger Tropfen Regen war in den letzten Monaten auf den ausgetrockneten Boden gefallen; der August war der heißeste Monat in dieser Einöde.
Pünktlich um sechs Uhr kam der junge Mahmoud Al Abidi im Foyer des Hotels Grand Sharm el Sheik an. An diesem Tag war er als Touristenführer bestellt und sollte eine Tour begleiten nach Kairo, der Perle des Orients, wie die Stadt genannt wurde. Auch die Millio-nenstadt bereitete sich an diesem Tag gemächlich im sandfarbenen Licht der aufsteigen-den Sonne vor, die Touristen in die geheimnisvolle Geschichte Ägyptens aufzunehmen. Die Anziehungskraft, die von den Pyramiden und Gräbern ausging, war von unzähligen Mythen umwoben. Die Reisenden wollten sie enträtseln. Die Pyramiden von Gizeh zählten zu den sieben Weltwundern. Auch die Frage, wie die Menschen damals es geschafft hat-ten, mit bloßer Hand diese Pyramiden zu bauen, konnte bis heute nicht endgültig geklärt werden –, und so wird es wohl für alle Zeiten ein Rätsel der menschlichen Geschichte blei-ben. Die Reiseroute führte nordwestlich quer durch die Halbinsel Sinai, etwa siebenhun-dert Kilometer nach Unterägypten, mit dem Ziel, dem legendären Geheimnis der Pharao-nen auf die Spur zu kommen.
Mahmouds suchender Blick durch die Hotelhalle blieb an einem Paar hängen, das et-was abseits im hinteren Teil der Hotelhalle stand. Er ging auf sie zu und fragte höflich: „Haben Sie auch die Reise nach Kairo gebucht?“ Die beiden Personen, Aziz und Ellen, hielten Abstand voneinander, als gehörten sie nicht zusammen, weil sie gestern Nacht wegen irgendeiner Belanglosigkeit heftig gestritten hatten; sie sahen müde und missge-launt aus.
„Nach Kairo“, wiederholte der Mann, der Aziz hieß, „ja“, und er deutete auf sich und El-len.
Mahmoud suchte in der Liste nach ihren Namen, und als er fündig wurde, hakte er sie mit einer lässigen Handbewegung ab und lächelte ihnen freundlich zu. Als er um ihre Päs-se bat, ruhte sein Blick ungewöhnlich lange auf Ellens Gesicht. „Sie brauchen ein großes Visum, wenn Sie die Grenze passieren wollen.“ Er sprach mit beiden, sah aber nur sie an. „Ich hoffe, Sie haben diesen Stempel bei der Einreise beantragt? Die Grenzpolizei ist un-erbittlich und schickt jeden Reisenden, der diesen Stempel nicht hat, zurück.“ Mahmoud blätterte weiter in ihren Pässen, dann hob er Ellens Pass auf Höhe ihres Gesichts und ver-glich es mit dem Passfoto. Seine Miene ließ ein leichtes Staunen erkennen. So verharrte er einige Sekunden wie gebannt und schien zu bezweifeln, dass sie es war, die vor ihm stand.
„Das Foto? Sollte das ein Problem sein?“, fragte Ellen besorgt. „Es ist zwar lange her, aber ich bin es in der Tat.“
Mahmoud schien nicht überzeugt und fixierte weiter ihr Gesicht. Sie stand wortlos da, denn sie wollte Aziz nicht unnötig beunruhigen. Weit weg von Europa wollten sie ihren Ur-laub genießen. Vor allem fürchtete Ellen die glühenden Eifersuchtsszenen von Aziz, be-sonders dann, wenn sie sich – arglos und im Grunde harmlos – einem fremden Mann zu-wandte. Mahmoud ließ sich nicht ablenken und prüfte weiter ihr Foto, wobei er sie ein-dringlich ansah. Es schien als wolle er ihr vermitteln: Ich wüsste, wie man dich glücklich macht.
„Kann ich Ihnen aufs Wort glauben?“, fragte er schließlich.
„Ja, ich versichere es Ihnen, das bin wirklich ich.“
„Man kann Sie erkennen, das ist wichtig.“ Im selben Moment trafen sich ihre Blicke so in-tensiv, als ob sie ein geheimes Bündnis geschlossen hätten. „Das zählt im Moment“, er-klärte Mahmoud, „andernfalls würde Sie die Polizei nicht weiterreisen lassen. Und wir las-sen niemanden allein in der Wüste. Das würde bedeuten, der ganze Bus müsste umkeh-ren. Ich will Ihnen und uns allen diesen Ärger ersparen.“ Er bedankte sich gleichbleibend freundlich und händigte Aziz beide Pässe aus. Aber sein eindringlicher Blick galt nur Ellen, und er erzeugte erneut eine seltsame Flut starker Gefühle in ihr, auch wenn sie sich dage-gen sträubte. „Meine Pflicht ist es, Sie mit den Regeln dieses Landes vertraut zu machen. Sie sollen sich wohl fühlen.“
Ellen betrachtete ihn eine Weile verstohlen und hoffte, dass Aziz es nicht bemerkte. Sein sympathisches Wesen und seine natürliche Art ließen sie erzittern. Sie wollte sich von diesem Gefühl befreien, musste sich jedoch zugleich eingestehen, dass ihre Zuneigung für Mahmoud wuchs. Sie war verheiratet und liebte Aziz, auch wenn er oft ausrastete. Ihre Gefühle waren durcheinander. Die Lage war verzwickt, und Ellen wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte.
Während die drei auf dem Weg zurück zur Rezeption waren, drehte Mahmoud sich nach Ellen um, übersah dabei aber den Springbrunnen mitten in der Halle. Er verlor das Gleichgewicht und fiel ins Wasser. Ellen entfuhr vor Schreck ein spitzer Schrei, und sie schlug schnell die Hand vor den Mund. Wendig wie ein Leopard sprang Mahmoud aus dem Becken, schüttelte die Hosenbeine und ging trotz seiner klatschnassen Schuhe lässig weiter zur Rezeption, als wäre nichts passiert.
Ellen wollte spontan die Hände nach ihm ausstrecken und voller Mitgefühl fragen, ob al-les in Ordnung sei, unterließ es aber in letzter Sekunde. Mahmoud stand am Empfangstre-sen und wartete gelassen auf die Nachzügler; dabei sah er ständig zu ihr herüber.
Als die Gruppe endlich vollzählig war, stiegen alle in den Bus, und die Tour konnte be-ginnen. Sie fuhren auf der breiten Hauptstraße Richtung nirgendwo – so kam es ihnen vor –, ließen die modernen Hotelbauten und Palmenreihen hinter sich; auch die schlichte graue Moschee, die lange im grellen Licht des Morgens zu sehen war, verschwand allmäh-lich aus dem Blickfeld wie ein vergessenes Märchen.
Mahmoud wies routiniert und in formvollendeter Art auf die Sehenswürdigkeiten Ägyp-tens hin. Seine wohlklingende dunkle Stimme zog Ellen in ihren Bann – er gefiel ihr immer besser. Auch seine Augen – heller als die der meisten Ägypter – waren geheimnisvoll und von seltener Schönheit: Die smaragdgrüne Iris hatte helle Sprenkel, als sei sie mit Sand-körnchen der Wüste vermischt. Ellen war fasziniert.
Gleich nach der Abfahrt hatte er sich den Reisenden vorgestellt. Sein Name sei, wie der Name seines Vaters und der Name seines Großvaters, Mahmoud. Auf die vielen Fragen der Reisenden antwortete er mit großer Geduld und Höflichkeit. Während er die Geschich-te seines Landes, der Pharaonen und ihrer Dynastien erklärte, suchte er immer wieder Ellens Augen. Ihr wurde heiß, und es war ihr peinlich. Sie drehte den Kopf zum Fenster und betrachtete die Wüste, um sich seinen Blicken zu entziehen. Einerseits wollte sie das Spiel mit dem Feuer nicht fortsetzen, andererseits war es wie eine Lawine, die sich auf sie stürzte und sie mit sich riss.
Sie selbst hatte viele Fragen, die sie gerne gestellt hätte, vermied es aber Mahmoud anzusprechen, um nicht aufzufallen. Wie gerne wollte sie mit ihm plaudern, um etwas über das Land und seine Menschen zu erfahren, vor allem über ihn und sein Leben. Aber sie brachte kein Wort heraus.
Er kam ihr gefährlich nahe, als er sich schließlich neben Aziz setzte und sich mit ihm unterhielt. Der körperlichen Nähe bewusst, spürten beide, dass sie auf unsichtbare Weise verbunden waren. Er ließ keine Minute vergehen, ohne sie anzuschauen, und bekräftigte so seine stille Begeisterung für sie. Er legte es darauf an, ihre Leidenschaft und Begierde zu wecken.
Eine Beziehung mit Mahmoud war undenkbar, und so war sie darauf bedacht, ihre Ge-fühle vor den anderen im Bus zu verbergen. Aber seine Distinguiertheit und seine stolze Haltung zogen sie magisch an; die Art wie er sich bewegte, als sei er ein leibhaftiger Nach-fahre des letzten Pharaos.
Immer wieder erhob er sich von seinem Sitzplatz und hielt ausführliche Vorträge über die jeweiligen Sehenswürdigkeiten im Zusammenhang mit der Geschichte Ägyptens – und das auf Deutsch! Er sprach fließend, benutzte keine Notizen, und falls ihm einmal ein fal-scher Artikel herausrutschte, verbesserte er sich sogleich selbst.
„Das Land – man schätzt es auf ein Alter von 4000 bis 4200 Jahren – war in Oberägyp-ten und Unterägypten geteilt. Aus Landwirtschaft, Suezkanal und Tourismus kommen heu-te die Haupteinnahmen des Staates.“ Er erzählte, wie das alte Ägypten allmählich seinen früheren Glanz verlor und nur die Pyramiden als Reste des unermesslichen Reichtums und Wohlstands jener Zeit noch Zeugen dieser sagenhaften Kultur waren.
„Die menschenfeindliche Wüste des Sinai-Gebiets“, erklärte er weiter, „scheint unend-lich und meist unbewohnt zu sein. Wir sind dabei, den Suezkanal zu überqueren, und wer-den auf den Nil stoßen. Sein windgekräuseltes indigoblaues Wasser erscheint wie eine Fata Morgana. Jedes Jahr wird der Sand des Plateaus vom Nordostpassat aufgeworfen und überflutet, was ein gutes Jahr und eine reiche Ernte bedeutet. Die Hänge sind in die-sem grellen Sonnenlicht kaum auszumachen, und man sieht hier keine einzige Wolke.“
„Gibt es hier tatsächlich keine Pflanzen und keine Tiere?“, fragte ein älterer Tourist, der die ganze Zeit mit seiner Frau kuschelte.
„Man findet hier nur eine Skorpion-Art, den Sahara-Dickschwanzskorpion, es ist der ge-fährlichste Skorpion der Welt“, antwortete Mahmud.
Ellen fühlte sich verlassen und wie gefangen in dieser Leere der unbarmherzigen Wüs-te. Sie sah auch die Reste der Zivilisation – hier ein geplatzter Autoreifen, dort eine achtlos weggeworfene Coca-Cola-Flasche. Häuser und Menschen sah sie nicht, sie waren rar. Die Wüste schien ihr wie die Unendlichkeit zu sein, ein Raum zwischen Mensch und Gott, der den Menschen zwang, seine Unzulänglichkeit einzugestehen.
Nach einigen Stunden Fahrt hielten sie mitten in der Wüste vor einem heruntergekom-menen Häuschen, um Rast zu machen. Beim Aussteigen aus dem klimatisierten Bus über-raschte die Reisenden schlagartig der heiße Wüstenwind, der von nirgendwo kam und sie alle erfasste: Er peitschte ihre Gesichter mit aufgewirbeltem Sand.
„Ich kann nichts sehen!“, schrie eine Frau hysterisch, taumelte hin und her und verlor die Orientierung. Der feine Sand füllte ihnen Augen, Mund und Haar. Alle liefen so schnell sie konnten durch den weichen, dicken Sand in die Hütte. In ihr fanden sich eine Küche, ein Aufenthaltsraum und ein Ausstellungsraum mit zahlreichen Mumien, Schiffchen und Maskottchen, die zum Kauf angeboten wurden – das einzige kleine Einkommen der Wüs-tenbewohner, um ihre Familien zu ernähren.
Nach einer Stunde gab Mahmoud das Zeichen zum Aufbruch. Der feine Sandsturm überraschte sie auf dem Rückweg zum Bus erneut; er war unsichtbar und doch da, wie die Sanddünen, die sich immer wieder neu auftürmten oder verwischten, der Regie des ewi-gen Windes gehorchend.
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Mitten auf der Autobahn stand plötzlich eine Polizeisperre und stoppte den Reisebus. Ein Beamter überprüfte alle Pässe und kontrollierte, ob jeder das große Visum hatte. Als er sagte, dass alles in Ordnung sei und per Handzeichen seinen Kollegen bedeutete, sie passieren zu lassen, atmeten die Passagiere erleichtert auf und freuten sich, ihre Reise fortsetzen zu können. Kurze Zeit später überquerte der Bus den Suezkanal, der, wie Mahmoud erklärte, 193,3 Kilometer lang war und den Nil kreuzte. Sie erreichten bald einen Vorort von Kairo, wo sie mitten auf einer Nil-Brücke das ergreifende Schauspiel eines ägyptischen Sonnenuntergangs erlebten: Die rote Feuersonne versank langsam im Nil und ließ die ganze Umgebung in faszinieren Rot-, Orange- und Gelbtönen erglühen, fast schien sie hinter dem Horizont zu brennen. Das strahlende Licht der Sonne bedeckte gnädig die sonst offen sichtbare Armut. Die Reisenden waren so beeindruckt, dass sie Mahmoud ba-ten, ein wenig länger auf der Brücke zu bleiben, um den Anblick genießen und Erinne-rungsfotos aufnehmen zu können – dieses Erlebnis entschädigte alle für die Strapazen der langen Fahrt.
„Die Geschichte des Nils ist von ganz großer Bedeutung“, erzählte Mahmoud, „er ist die Lebensader Ägyptens. Im Nildelta ist inmitten lebensfeindlicher Wüsten in rund 5000 Jah-ren eine der größten Flussoasen der Erde entstanden. Der Nil ist 6671 Kilometer lang und damit der längste Fluss der Erde. Er hat zwei Quellen, die Victoriasee im Sudan und den Sobat aus Äthiopien der zum Weißen Nil wird. Wenn sich der blaue Strom mit dem weißen Strom vereinigt entsteht unser Nil.“
Während Mahmoud von der Vereinigung zweier Flüsse sprach, schaute er intensiv in Ellens Richtung, bis sich ihre Blicke trafen und ineinander versenkten.
„Sobald wir diese Nil-Brücke passiert haben werden, betreten wir den Boden Un-terägyptens“, erklärte er und zitierte einen Schriftsteller, der über Kairo geschrieben hatte:
„Wer Kairo nicht gesehen hat, hat die Welt nicht gesehen. Die Erde Ägyptens ist aus Gold, der Nil ist ein Wunder, und die Frauen sind wie schwarzäugige Jungfrau-en aus dem Paradies, die Häuser sind Paläste, die Luft ist weich und duftend wie Aloeholz. Und wie könnte es anders sein, ist Kairo doch die Mutter der Welt. So steht es in den Geschichten aus 1001 Nacht geschrieben.“
Er rezitierte den Text ein wenig theatralisch. Nach einer angemessenen Pause, damit sich die Touristen ihre eigenen Gedanken machen konnten, fuhr er mit seinen Erläuterun-gen fort: „Sehen Sie hier, rechts der Straße“, Mahmoud wies mit der rechten Hand auf den Horizont in seiner ganzen Länge, „sehen Sie die Zitadelle und die Moschee; sie scheinen, als würden sie sich an die Kirche anlehnen. Ihre Dächer ragen über die Hochhäuser hin-aus. Man hat von dort eine exzellente Sicht über den westlichen Teil des Nils. Unter den Eroberern gab es Römer, Araber und Türken. Zwischen den Religionen Islam, Judentum und Christentum – die meisten Christen waren Katholiken – herrschte ein friedliches Zu-sammenleben. Man respektierte sich gegenseitig, vertrug sich und lebte in Wohlstand.“
Von der Brücke aus konnte man gut erkennen, wie sich Kairo ausbreitete, diese 12-Millionen-Stadt mit ihrem heillosen Chaos an Autoverkehr, überladenen Pferdefuhrwerken, Hupkonzerten und Smog. Es war heiß und staubig, eine Masse von Passanten drängte sich auf Straßen und Gassen, ungeduldige Autofahrer bahnten sich ihren Weg durch Drängeln und permanentes Hupen. Das Pflaster der Straßen vibrierte unter der Last der unzähligen brummenden Fahrzeuge, die die nahende Dunkelheit durchbrachen. Dicht ge-drängt und scheinbar ebenso chaotisch standen kahle Häuser wie lieblos aufgestapelte braune Kisten und Kartons, siloartige Hochhäuser ragten dazwischen empor. Unterhalb der Brücke lag ein großer Friedhof, auf dem Obdachlose ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Kairo war einer dieser Plätze, an denen einen das erdrückende Gefühl überkommt, als ginge es ums nackte Überleben.
Der Wind nahm ein wenig zu, aber die kleine Reisegruppe verweilte noch immer auf der Brücke über dem Nil, die Sonne im Gesicht. Sie waren überwältigt von der Atmosphäre, dem Ausblick, und mit dem Wissen der großartigen ägyptischen Geschichte erfasste sie ein Gefühl der Solidarität und Brüderlichkeit mit den hier lebenden Menschen.
„Hier befindet sich eine Insel im Nil, seht her!“ Mahmoud zeigte entlang des Nilverlaufs und musste die Stimme erheben, denn der nun kräftiger werdende Wind nahm ihm fast den Atem. „Hier werden die schönsten Bauten errichtet, nur für die Reichen: Politiker, Schauspieler und Geschäftsleute.
Es wird Zeit, wir müssen weiterfahren, steigen Sie bitte ein!“, rief Mahmoud. Als sich al-le, den Sand aus Haar und Kleidern schüttelnd, in den Bus gedrängt hatten, fuhren sie los, der Pharaonenstraße folgend, bis sie in eine ruhigere Seitenstraße gelangten, wo sie end-lich das Hotel erreichten; es war schon neunzehn Uhr. Alle waren müde und hungrig. Spä-ter, nach dem Abendessen, sollte noch ein Ausflug ins Zentrum von Kairo stattfinden.
Die Reservierung ihres ursprünglichen Hotels hatte aus irgendwelchen Gründen nicht geklappt, und Mahmoud schaffte es, nach langen Telefonaten, ein anderes Hotel zu fin-den. Sie fuhren also dorthin, erfrischten sich und trafen sich nach einer Stunde zum Abendessen. Gemeinsam fuhren sie danach zum berühmtesten Basar Kairos, Chan el-Chalili.
Bereits am Eingang zum Basar beobachtete Ellen eine dramatische Szene: Ein Mann mischte sich unter die Menge, er schrie laut, wurde aber von allen weggeschubst. Er schien verrückt zu sein, aber als Ellen ihm näher kam, sah sie den furchtsamen Blick in seinen Augen. Das Gesicht des Mannes war zu einer schmerzlichen Grimasse verzogen, und es war ersichtlich, dass er auf diesem belebten Markt ganz allein war. Ellen näherte sich ihm vorsichtig und erkannte, dass der Mann völlig blind war. Ermüdet und ausgehun-gert schien er seinen Platz in der Gemeinschaft zu suchen. Der Anblick des Mannes stimmte sie sehr traurig. Doch wie die anderen, überließ sie sich in dem überfüllten Basar dem Strom der Masse, die die Richtung bestimmte, und versuchte, sich auf den Beinen zu halten. Hier waren viele verschiedene Nationen, Hautfarben und Bräuche in einem bunten Durcheinander vermischt – wie ein exotischer Cocktail. Sie bummelten in entgegengesetz-ter Richtung der Geschäftsstraße entlang, die eine beeindruckende Kulisse des Orients abgab.
Die engen Gassen führten vom Zentrum des Basars in alle Himmelsrichtungen. In einer dieser Straßen begegnete Ellen einem Spaziergänger, einem stämmigen Mann mittleren Alters mit ungewöhnlich hellblauen Augen und pechschwarzen Haaren. Die Augen bildeten einen starken Kontrast zu seinem dunklen Teint, und er schien ihr wie ein Prophet aus bib-lischen Zeiten. Seinen durchdringenden Blick konnte Ellen nicht lange ertragen; er zwang sie, nach unten zu sehen. Er trug ein weißes Gewand, und die Frauen, die ihn begleiteten, waren von langen schwarzen Kleidern verhüllt. Sie hielten den vorgeschriebenen gebüh-renden Abstand, blieben ihm jedoch dicht auf den Fersen. Auch sie waren außergewöhnli-che Erscheinungen, mit schönen dunklen Augen, die durch einen schmalen Schlitz im Schleier zu sehen waren.
Ein permanenter Geräuschpegel hing über den engen Gassen, in denen eine faszinie-rende Vielfalt an Waren feilgeboten wurde. Die Verkäufer warben laut um die Touristen, in gebrochenem Englisch oder Deutsch. Es waren junge Männer, höchstens sechzehn Jahre alt, die gemeinsam mit ihren Vätern, Großvätern oder Onkeln, Tag und Nacht in ihren Ge-schäften verbrachten. Sie warteten auf wohlhabende Touristen, die wahllos und ohne viel zu handeln ihre überteuerte Ware kauften. Für diese Kundschaft gab es allerlei Andenken: Sarkophage, Mumien, Tierfiguren aus Kristall oder Holz, Taschen, Kleider, Schuhe und Schals, Medizin und Gewürze aller Art, und in den Juwelierläden echten und unechten Schmuck. Die Verkäufer redeten schnell und gewährten keinen Preisnachlass. Erst als sich Mahmoud einmischte und die Verkäufer auf Arabisch ansprach, zuckten sie leicht zu-sammen, grüßten ihn höflich und gaben beim Preis nach.
Plötzlich löste sich aus der wogenden Masse der Passanten eine vermummte ägypti-sche Frau und schien direkt auf Ellen zuzugehen. In der letzten Sekunde änderte sie die Richtung und eilte kurz vor einem Zusammenstoß an ihr vorbei. Ihre Augen schienen Ellen sehr traurig, aber gefasst. Einige Gassen später sah sie sie wieder und bemerkte erst jetzt, dass sie einen Block in der Hand hielt, auf dem Hennazeichnungen waren. Da begriff El-len, dass die Frau beharrlich ihre Kreise über den Basar zog, gleichförmig wie ein Schatten auf der bekannten Handelsroute der Seidenstraße, um Kundinnen für ihre Hennaverzie-rungen zu finden, damit sie mit dem Geld ihre Familie über Wasser halten konnte.
Gegen zwei Uhr nachts war die Besichtigung des Basars zu Ende. Die von den vielen Eindrücken aufgedrehten Touristen kehrten müde ins Hotel zurück. Von den Erlebnissen auf dem Basar war Ellen so ergriffen, dass die Szenen und Bilder sie bis in ihre Träume verfolgten: das Gesicht des verstoßenen Blinden, der schwarze Mann mit den stechenden blauen Augen, die schwarz verschleierten Frauen … Die Frau mit den Hennazeichnungen war ein Symbol für den Überlebenskampf in diesem Land.
Trotz aller Faszination, die der Basar auf sie ausgeübt hatte, stellte sich ihr die Frage, ob sie so ein Leben führen könnte. Aber Aziz erzählte sie nichts von ihren Albträumen.
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Am nächsten Tag wollten sie die Pyramiden von Gizeh besichtigen. Der Basarbesuch letzte Nacht bis in die Morgenstunden und nun die Busfahrt durch die Wüste Sinai – Ellen fühlte sich völlig erschöpft. Dazu plagten sie starke Kopfschmerzen; die ungebrochene Hitze des Tages setzte ihr stark zu. Die gut erhaltenen Pyramiden, die sich im westlichen Niltal, 15 Kilometer vom Stadtzentrum Kairos befanden, wollte sie sich aber trotz allem nicht entgehen lassen. Sie lagen an der Pyramidenstraße, Scharia el Ahram. Während sie durch den Staub und die Hitze der Straßen fuhren, stellte Mahmoud seiner Reisegruppe die Frage, ob jemand erraten könne, wie viele Pyramiden es in Ägypten gebe. Jemand rief aus dem Fond des Busses: 25! Eine andere Stimme sagte: 62? Mahmoud wartete gedul-dig. Als keiner die richtige Antwort wusste, sagte er: „Es gibt 108 Pyramiden in Ägypten! Davon sehen wir gleich drei kleine Königinnen-Pyramiden, dahinter die Pyramide des My-kerinos, des Sohnes eines der Pharaonen, und in der Mitte die des Chephren. Rechts be-findet sich die größte Pyramide, die des Cheops, jener Pharao, der von 2620 bis 2580 vor Christus regierte.
Auch diesmal sah er ständig nur Ellen an. Was hatte er im Sinn? Würde er sie irgend-wann ansprechen? Und wie sollte das gehen, Aziz war ja immer dabei?
Sie besichtigten zunächst die Sphinx, halb Mensch, halb Löwe, die vor der Cheops-Pyramide stand. Der Löwe war das Sinnbild für die Kraft, der Mensch für die Intelligenz und beides zusammen für die Größe des Pharaos und seiner Dynastie.
Ellen sann über dieses Volk nach. Durch ihre Mythen und diese Überreste einer grandi-osen Kultur wollten sie wohl beweisen, dass das menschliche Dasein nur durch materielle Güter weiterleben konnte. Aber sie spürte noch etwas anderes: Es war ihr, als wenn sie in diesen schrägen Wänden der Pyramide die Ausbeutung der Arbeiter und Handwerker, der Erbauer und Sklaven fühlte; ihre Mühsal und ihren Schmerz. Mit wunden Händen und ge-schundenen Körpern mussten sie unter unmenschlichen Bedingungen Steinquader hoch-schaffen, die zwanzigtausend Kilo wogen, und unter dem Staub und der ewigen unbarm-herzigen Hitze leiden. Viele starben, nur damit einer als unsterblich weiterleben konnte. So war ihr Glaube. Wie es den alten Ägyptern jedoch gelungen war, diese gigantischen Pyra-miden zu erbauen, war und bleibt ein Geheimnis. Sie waren dem Sonnengott Ra geweiht, um ihn nicht in den Schatten zu stellen. Des Sonnengottes Stellvertreter auf Erden war der Pharao. So die Geschichte.
Mahmoud erzählte ihnen, eine Theorie besage, dass der Außenraum um die Pyramiden mit Sand aufgetürmt worden sei, damit die schweren Kalksteinkolosse zum Gipfel der Py-ramide hinaufgeschafft werden konnten. Er sagte, es könne sein, dass zu diesem Zweck primitive Maschinen erfunden worden waren, obwohl dazu keine Zeichnungen und Pläne mehr existierten. „So bleibt der Bau der Pyramiden ein ewiges Mysterium“, beendete er seinen Vortrag.
Zum Abschluss stand der Besuch des größten ägyptischen Staatsmuseums auf dem Programm. Ergriffen betrachteten sie leere Sarkophage, von denen geradezu eine Toten-stille ausging: Sie atmeten den versiegten Lebensfluss, die verebbte Pulsader, das erlo-schene Jammern und Wehklagen aus. Kein aufbauender, kein verbindlicher Gedanke kam aus aller Ewigkeit zu ihnen. Die goldene Maske, die das Antlitz des Pharaos in seinem besten Alter darstellte, bedeckte sein wahres Gesicht für alle Zeit.
Als sie zu einem viereckigen, hermetisch geschlossenen Kasten kamen, der viermal in sich unterteilt war, fragte Mahmoud, ob jemand wisse, was darin sei.
„Nichts als Staub. Es kann nichts anderes sein als Staub“, sagte Ellen. Sie stand dicht an Mahmouds Seite, und als sie diese Worte ausgesprochen hatte, durchfuhr sie eine un-sichtbare Kraft wie ein Stromschlag. Ein starkes Verlangen überkam sie. Sie musste sich beherrschen und ihre Vernunft einschalten; sie konnte nicht zulassen, ihr Ehe-Gelöbnis zu brechen.
Mahmoud wartete geduldig, ob noch andere etwas dazu sagen wollten, und löste dann das Rätsel auf: „Es sind das Herz, die Leber und die Därme des Pharaos. Vor der Einbal-samierung hat man diese aus seinem Körper genommen, aber dennoch getrennt von ihm aufbewahrt; damit ist sichergestellt, dass er im Jenseits weiterleben und Teil des Sternen-himmels sein kann.“
Die Farben der im Museum ausgestellten Artefakte waren auch nach 4000 Jahren noch eine Kostbarkeit: Rot war noch immer ein sattes Rot, das Blau leuchtete strahlend, wie frisch aufgetragen. Es war für alle faszinierend. Nach dem Museumsbesuch mussten sie die Rückreise in die Stadt antreten.
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Nach der letzten Rast am Stadtrand von Kairo, als alle anderen der Gruppe schon wie-der in den Bus eingestiegen waren, stand Mahmoud unauffällig abseits und passte Ellen ab. Als sie um die Ecke des Erfrischungshäuschens kam, fasste er sie rasch bei der Hand und zog sie mit sich. Ellen war unsicher, ließ sich aber willenlos weiterziehen. Etwas tief in ihrem Inneren wollte sie zurückhalten, zum Umkehren bewegen, stattdessen folgte sie Mahmud durch die Gassen. In einer Kairoer Hauptstraße mietete er ein Taxi, und so ent-kamen sie der Reisegruppe und fuhren wieder hinaus aus der Großstadt mit ihren unendli-chen Staus auf den Straßen und der unerträglich dicken Luft.
Nach einer Stunde Fahrt erreichten sie eine kleine Ansiedlung, deren Häuser durch schmale Trampelpfade verbunden waren. Mahmoud befahl dem Fahrer anzuhalten, er zahlte, und sie stiegen aus. Er hielt Ellen fest an der Hand, als fürchte er, sie könne sich ihm entziehen.
„Wohin gehen wir? Sollten wir nicht zurück ins Hotel?“, fragte sie unschlüssig.
„Sei still“, sagte er und legte seinen Zeigefinger auf ihre Lippen. Diese zarte Geste be-ruhigte und erregte sie gleichzeitig.
„Ich habe eine Überraschung für dich“, sagte er, wie um sie zu besänftigen. „Wir ma-chen nur einen kurzen Abstecher zu meinen Eltern. Ich werde dich meiner Familie vorstel-len. Das ist bei uns Brauch.“ Er wandte ihr sein fröhliches Gesicht zu, hielt sie weiter fest an der Hand und führte sie auf staubigen Wegen voll spielender und tanzender Kinder aus der Nachbarschaft, die sie lachend und schreiend umkreisten, vor ihnen herliefen und wie-der zu ihnen zurückhüpften, durch das Dorf. Von irgendwoher hörte man die wehklagen-den Klänge arabischer Musik.
Ellen wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte, was kommen würde und woher dieses tiefe Gefühl der Zuneigung kam, das sie trotz aller Befremdung Mahmoud gegen-über empfand.
Sie wurde von Frauen empfangen, die sie liebenswürdig anlächelten und sie umarmten. Sie sprachen in einer fremden Sprache, die sie nicht verstand, aber sie feuerten sich ge-genseitig durch lautes herzliches Lachen an. Offensichtlich wurde ein großes Fest vorbe-reitet. Vor ihren Augen schlachteten Männer ein paar Schafe. Blut floss in die Kanäle der schmalen Gassen, die Tiere zuckten noch ein paar Mal, bevor sie verendeten. Aufgeregte Festtagsstimmung erfüllte die Siedlung – fast wie ein Freudentaumel kam es ihr vor. Die Frauen kochten, die Männer unterhielten sich angeregt, im Kreise sitzend und auf die Abendmahlzeit wartend. Der Duft aus Shisha-Pfeifen breitete sich im Raum aus.
Obwohl sie lieber draußen unter freiem Himmel bei den Frauen und Kindern geblieben wäre, ließ sich Ellen von Mahmoud in eines der Häuser führen. Als sie eintraten, standen alle auf. Die Männer trugen lange Gewänder und verzierte oder weiße Kappen auf dem Kopf. Alle kamen auf die beiden zu, küssten und umarmten sie. Ellen hätte gern die far-benfrohen Ornamente, die Türen und Wände zierten, genauer betrachtet, doch sie wurde weitergeschoben in einen Raum, in dem in der Ecke ein Diwan stand mit einem Baldachin darüber. Über allem schwebte der Duft von Tee, Weihrauch, Orangenschalen und Brot.
Waren noch eben nur Männer um sie herum gewesen, füllte sich jetzt das Zimmer mit Frauen und Kindern. Sie drängelten sich vor, um Ellen besser sehen zu können, und schwatzten dabei aufgeregt miteinander. Eine der Frauen zog Ellen weiter ins nächste Zimmer. Dort setzten sich die Männer im Kreis auf den Boden und einen Raum weiter ta-ten es ihnen die Frauen gleich. Auch sie ließen sich im Kreis auf den Boden nieder. Mit Handzeichen gaben sie Ellen zu verstehen, dass sie sich zu ihnen setzen solle.
Da saß sie nun auf einem abgewetzten Teppich, inmitten von Tanten, Schwestern und der ganzen weiblichen Verwandtschaft. Wie die anderen aß sie mit den Fingern die Spei-sen, die ihr köstlich schmeckten. Begnadete Köchinnen mussten da am Werk gewesen sein. Es gab Lamm und Gemüse und scharfe Soßen – eine milde Schärfe, die den Rachen nicht verbrannte. Trotzdem fühlte sich Ellen unwohl. Sie kam sich eingekreist vor, unter ständiger Beobachtung. Immer wieder küsste man sie und ihre Hände wurden berührt.
Als Mahmoud sie zu dem Platz neben seiner Mutter brachte, glaubte sie, endlich erlöst zu sein. Stattdessen begann eine neue Runde ungewohnter Nähe. Die Mutter umarmte und küsste sie. Ein Wortschwall ergoss sich über Ellen. Es nützte nichts, dass sie Zeichen gab, am liebsten hätte sie gerufen: „Halt, ich verstehe nichts, kein einziges Wort!“ Mahmouds Mutter redete einfach weiter. Die anderen Frauen schlossen sich ihr an und versuchten, Ellen mit Gesten und Berührungen zu vermitteln, dass sie willkommen sei und sie bereit waren, alles mit ihr zu teilen.
Mit einem Mal war Mahmouds Elternhaus so voll, dass einige der Gäste keinen Platz mehr fanden. Ein Mann betrat das Haus, dem man sofort ehrerbietig Platz machte, um ihn durchzulassen. Der Mann war groß und hager und wirkte vergeistigt, ja ehrfurchtgebietend. Er grüßte alle Anwesenden mit mildem, wohlgefälligem Blick. Die ihm dargebotenen Spei-sen lehnte er kopfschüttelnd ab. Offensichtlich legte er keinen Wert auf irdische Genüsse. Die Kinder riefen: „Imam, Imam, Imam!“
Mehr als sonst bedauerte Ellen in diesem Augenblick, dass sie kein Arabisch verstand. Die Sprache stellte sich als Hindernis dar – so gab es keine Brücke, welche ihre und Mahmouds Welt verbinden konnte. In Mahmuds Familie beherrschte niemand eine andere Sprache. Mahmoud hielt sich weit hinten im Raum auf, umkreist von Männern, die auf ihn einredeten. Wahrscheinlich brannten sie darauf herauszufinden, wer die Frau sei, die er mitgebracht hatte. Sie ließ alles über sich ergehen und wartete, was weiter passieren wür-de. Nach einer Stunde voller Turbulenzen erlahmten ihre Kräfte. Die Ungewissheit plagte sie, die Vorgänge verschlossen sich ihr, und sie stand eingekeilt inmitten von fremden Menschen, ohne zu wissen, was sie hier sollte. Sie beschloss, sich nach vorne durchzu-kämpfen, zu Mahmoud.
„Bitte hilf mir. Ich verstehe kein Wort“, sagte sie entnervt. „Was wird hier von mir erwar-tet? Ich will ins Hotel zurück.“
„Es ist nur ein Familientreffen. Du kannst beruhigt sein. Sei wie du bist, sie erwarten nichts von dir. Du musst nichts verstehen. Es ist nur ein Willkommensgruß, sie zeigen ihre Freude, dass ich ihnen meine zukünftige Frau vorstelle.“
„Wie bitte? Wir kennen uns doch gar nicht. Wie kannst du behaupten, mich heiraten zu wollen? Wir haben uns gerade erst kennengelernt!“
„Hier hat der Imam immer das letzte Wort. Wenn er unsere Ehe billigt und sie be-schließt, sind wir verheiratet.“
„Ich habe dir vielleicht ein paarmal zu tief in die Augen geschaut. Sonst nichts. Ich habe dir keine Avancen gemacht. Ich gebe zu, dass du mir gefällst, und ich fühle tiefe Achtung vor dir als Mensch, aber das ist kein Grund, dass wir Mann und Frau werden sollten.“
Sie fasste sich an die Stirn, sie hatte auf einmal heftige Kopfschmerzen. Schweißperlen bedeckten ihr Gesicht, und sie musste sich wie in einem Schwächeanfall an Mahmuds Körper lehnen.
„Wenn ich heiraten werde, dann möchte ich vorher wissen, was der Mann für einen Charakter hat, welche Weltsicht er pflegt, wie er mit mir umgehen wird. Eher werde ich mein ‚Ja’ nicht geben. Ich kann doch gar nicht wissen, ob du schon mal verheiratet warst, ob du jetzt mit einer anderen verheiratet bist, ob ich die zweite oder dritte Frau bin! Können wir nicht irgendwo allein sprechen?“, bat Ellen.
„Im ersten Stock ist das Zimmer meiner Eltern. Wir können uns dahin zurückziehen, wenn du willst.“
„Ja, bitte“, flehte Ellen.
Sie verließen die redselige Gesellschaft, stiegen die Treppe hinauf, wobei Mahmoud sich immer wieder umdrehte, um seinen Familienmitgliedern zu signalisieren, dass er gleich zurück sein werde. Das kleine Zimmer im Obergeschoss war verdunkelt. Mahmoud schloss die Tür ab und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, als befürchte er, dass Ellen weglaufen würde.
„Ich war überzeugt“, begann er, „dass wir beide gleichermaßen diese Beziehung woll-ten. Wir haben uns gefunden, unsere Seelen haben sich vereint. Von meiner Seite besteht kein Zweifel daran. Und jetzt machst du einen Rückzieher. Ich habe dich in mein Herz se-hen lassen, und auch du hast deinen Blick nicht abgewandt, hast mich in dich hinein-schauen lassen. Jetzt ist es zu spät. Wieso spielst du mit meinen Gefühlen? Das ist deiner unwürdig! Ich lasse dich nicht gehen. Das ist unmöglich. Derart innig hat mich keine Frau bisher berührt. Wir werden zusammenbleiben. Wir bilden eine Einheit.“ So redete er auf sie ein.
„Ich kann meinen Sohn nicht verlassen. Ich liebe ihn über alles. Ich kann mich nicht ein-fach für ein Leben hier in diesem fremden Land und mit dir entscheiden.“
„Dann werde ich nach Deutschland kommen, um mit dir zusammen zu sein“, erwiderte Mahmoud spontan. „Wir können auch dort ein gemeinsames Leben aufbauen. Oder sonst wo. Wo wir sein werden, ist nicht so wichtig, nur dass wir zusammen sind.“
Ellen war der Verzweiflung nahe. Was sie auch sagte, Mahmoud blieb hartnäckig. All-mählich sah sie ein, dass sie keine Chance hatte, ihm die Heirat auszureden. Doch was sollte sie tun? Weglaufen ging nicht. Sie beherrschte weder die Sprache noch kannte sie den Weg zurück.
„Ich liebe dich seit dem Augenblick, als ich dich zum ersten Mal sah und kann mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen“, flüsterte Mahmoud leidenschaftlich. „Ja, es ist wahr, ich liebe dich von ganzem Herzen. Lass mich jetzt nicht allein. Du empfindest doch das Gleiche. Warum lehnst du unsere Liebe ab?“
Ellen wusste nicht mehr, was sie ihm antworten sollte. Sie hörte, wie die Stimmen unten leiser wurden. Nur die Stimme des Imams nahm an Kraft zu; sie kam dem Zimmer, in dem sie sich mit Mahmoud befand, langsam immer näher. Panik erfasste sie. Weg von hier! Aus dem Fenster springen? Fliehen! Doch was hätte das für einen Sinn gehabt? Mahmoud war stark und schnell. Er würde sie einholen und zurückbringen.
„Wir kennen kein anderes Gesetz, als das Gesetz der Wüste und unseres Volkes.“ Noch immer redete er auf sie ein. „Das ist unsere Tradition seit jeher. Was wir verspre-chen, das gilt für immer. Und ich verspreche dir, dass ich bis zum letzten Atemzug mit dir zusammen sein werde und dass ich dich achten werde.“
Ihr bisheriges Leben trat ihr vor Augen – ihr Mann, ihre Wohnung, die sie sich nach ih-rem Geschmack eingerichtet hatten, ihr Beruf als Geschäftsführerin eines Hochschulver-bandes. Vor allem jedoch ihr Sohn. Ohne sie wäre er verloren. Warum war sie ohne ihn hier? Warum hatte sie ihn allein gelassen? Fragen, die ohne Antwort im Dunkeln blieben. Sie hatte keine Erklärung dafür.
Irgendetwas musste dem Tee beigefügt worden sein, etwas, das sie in eine Art Trance versetzte. Ihre Vergangenheit trat in den Hintergrund und sie fühlte eine wachsende Be-reitschaft in sich, Mahmoud zu Willen zu sein. Mit aller Kraft versuchte sie, sich zu kon-zentrieren. Sie musste nach Berlin, zu ihrem Sohn, zu ihrer Arbeit, zu ihren vielen Projek-ten …!
Die Stimme des Imams klang tief und beruhigend. Einzelne Wörter waren deutlich zu unterscheiden. Wie von selbst formten ihre Lippen Laute, wiederholten das, was der Imam sagte. Mahmoud sah sie strahlend an: „Wir sind jetzt Mann und Frau“, sagte er ihr und zog sie an sich. Er schloss seine Hände um ihren Rücken zu einem Kreuz, aus dem sie nicht mehr fliehen konnte. „Ich fühle, dass wir füreinander geschaffen sind.“
Er küsste sie erst zärtlich, dann immer heißblütiger auf Hals und Hände, wühlte leiden-schaftlich in ihren Haaren, streichelte ihre seidige Haut. Sein rascher Pulsschlag zeigte seine Erregung, aber er wollte auf das Vorspiel nicht verzichten. Langsam zog er sie aus – zuerst das schwarze Oberteil, dann die weiße Leinenhose. Ihre Schuhe folgten mit einer Leichtigkeit, die nur Liebenden zu eigen ist … Dann stand sie nackt vor ihm. Sie fühlte, wie ein geheimes Begehren sie ergriff. Die Erinnerungen an ihr bisheriges Leben verschwan-den, als hätte sie der heiße Wüstenwind in alle Richtungen verweht.
Schritte näherten sich dem Zimmer, wurden immer lauter. Die Leute trampelten über die Holztreppe und stießen gegen den kleinen Absatz vor der Tür, die unversehens aufging. In die Dunkelheit, in der sie sich befanden, fuhr plötzlich grelles Tageslicht. Alle sahen, dass sie nackt aufeinander lagen, und eine große Scham überfiel sie, so von der aufbrausenden Menge gesehen zu werden, die ins Zimmer vordrang und sie begaffte. Eine von Mahmouds Tanten, eine robuste Frau, trat aus der Gruppe hervor und zeigte auf das sau-bere weiße Laken unter ihnen. Sie ließ ihrem Missmut freien Lauf, kreischte aufgeregt und schüttelte die geballten Fäuste.
„Die Ehe ist ungültig!“, rief Mahmoud mit schmerzlichem Gesichtsausdruck. Seine Ent-täuschung tat ihr weh. Eine Ewigkeit standen sie sich so gegenüber, während Mahmounds schöne Augen über ihren Körper streiften ...
ﺺ ﺺ ﺺ
Plötzlich rüttelte sie jemand an der Schulter. Sie erwachte und sah Aziz, der sie anlä-chelte und ihr sagte, dass die Reise zu Ende sei. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff: Alles war nur ein Traum? Nichts weiter als ein Traum.
Der Bus parkte vor dem Hotel, ihre Tasche lag oben in der Ablage, die Leute um sie herum machten sich fertig, um auszusteigen. Wie die anderen nahm sie ihre Sachen und wandte sich zum Ausgang. Trotz der Klimaanlage war sie schweißgebadet. Draußen vor dem Bus stand Mahmoud mit seinem liebevollen Lächeln und schüttelte jedem Reisenden höflich die Hand zum Abschied. Auch ihr reichte er galant die Hand und lächelte voller Wärme. Sie schluckte, wollte ihm sagen, dass sie die Erinnerung an seine außergewöhnli-chen Augen mit nach Hause nehme, als ihr schönstes Souvenir. Aber Ellen war von der Hitze und den Strapazen ziemlich geschwächt, und so sagte sie nur: „Bleiben Sie, wie Sie sind! Sie waren eine Bereicherung für jeden, der Sie kennenlernen durfte.“ Mehr brachte sie nicht heraus.
Sie beide hatten eine magische Begegnung; ein Ereignis der Verbundenheit, der Freundschaft und des Glücks, das man nie mehr vergisst, das tiefe Spuren im Leben hin-terlässt. Sie war vollkommen sicher, dass er das Gleiche empfand.