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Hoch-Zeit

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15.03.2008
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Hoch-Zeit

Die Stimmung kochte und es war etwas wuselig. Karl trug vor aus der Hymne Die huntertelf Namen der Angela Merkel. Begeistertes Volk tanzte und sang kaum manisch mit. Dramaturgische Hochzeit der kleinen Festivität zur Drucklegung der neuen Ausgabe ihrer Zeitschrift. Die der Kardinal noch stets als Underground bewarb, was gar keinen Sinn ergab, außer als Werbung. Priva hatte sich fest vorgenommen, an diesem Abend fünfe boogey sein zu lassen oder sich immerhin unauffällig zu verhalten, aber die Ungerechtigkeit der Welt war so groß, dass er es kaum aushielt, vier verdammten Versen zu lauschen, bevor er sich zum Eingriff genötigt fühlte. In der letzten Woche hatte er die schmerzhafte Lektion lernen müssen, doch kein Adler zu sein, aber bis jetzt hatte niemand in seinen Jägerpiloten reingeredet.

Sah’s, sprach’s und saß er! Schwuppdiwupp im X-Wing und Beschleunigung und der Tie Fighter blieb rechts auf der Strecke liegen und Priva startete die Maschine und damit die Befreiung der Welt. Und trug auf der Länge von Karls Vortrag so drei bis fünf Abfangmanöver vor, zwei Kamikaterangriffe und einen Todessternzerstörerangriff. Insgesamt ein moderates Störmanöver, dachte Priva, vor allem angesichts der Länge von Karls Text, der einfach nervte, wenn man ihn nicht selbst sang. Im Sommer hatte der nicht genervt, im Sommer hatten sie den Hymnus auf dem Weg zum Cospudener Sommersee gesungen und getanzt und er hatte Karl ganz für sich allein gehabt und es war befriedigend gewesen, befreiend, und einmal spürte er Angelas Aura, die verträumt über ihnen schwebte.

Dabei trug Karl heute nur den zweiten Teil des nervenden Hymnus‘ vor. Ab der Stelle, wo er vor zwei, drei Monaten von der Bühne gejagt worden war, als er versucht hatte, die zehn Minuten Lesezeit einer offenen Bühne zu überdehnen, ohne dass jemandem der Geduldshymen riss. Funktionierte nicht. Die Magie des Sirenengesangs kann damals noch nicht voll manifestiert gewesen sein, entfaltete zwar seine Wirkung, trug aber noch nicht über die gesamte Textlänge. Priva war aber schon lange vor dem allgemeinen Reißen sein roter Geduldsfaden gerissen, er war völlig außer sich gewesen und hatte versucht, die Soundanlage zu sabotieren. Soll ausgesehen haben wie ein akuter Wutbürger. Weswegen ihn seine Rudersklaven an den Mast des OAP banden.
Von wo er „gefahrlos dem so gefährlich großen Gesang“ lauschen sollte. „Ihr Idioten!“, hatte der in disziplinierter Panik gerufen, „es geht um Fairness, um Rücksichtnahme! Wie lässt sich das denn falsch verstehen? Wir müssen ihn aufhalten, da drüben steht ein Linker mit seinem Text zur akzeptierenden Selbsterforschung. Der würde gerade vor Ungeduld brennen, wenn er nicht verzaubert worden wäre. Den anderen sein Innenleben vor die Füße kippen könnte er gerade jetzt, wenn er nicht im Bann dieses manipulativen Gesangs stünde. Er hat ein Recht auf radikale Selbstentblößung, die niemanden interessiert!“ Da hatte schon länger keiner mehr zugehört oder alle Zuhörenden ihr Interesse geschickt verborgen. Nur Eule von Oilenberg, Stammesältester und unheiliger Geist des OAP, hatte Priva mit semifreundlichem Lächeln betrachtet. Ein Lächeln, das Priva vermittelte, dass Oilenberg entweder am Anblick des gefesselten Priva eine kleine Freude fand, die er niemandem übelnehmen würde, oder er überlegte, welche Socke als Knebel taugen könnte, oder würzte Priva in Gedanken bereits in einem großen Topf auf offener Flamme und schmeckte ab den Eintopf mit dem großen Holzlöffel. Priva wusste, dass es immer wieder andere, noch stärker Verblendete gab, die ihn lecker fanden und dass es bisher völlig unklar war, ob Eule eigentlich ein Zyklop war, Zeus Göttervater oder schlicht ein Typ mit Rastas, dessen Titten ihr Karussell wurden, wenn sie zu standfest waren, sich aus sich selbst heraus freizudrehen.

Ein Freidrehen, das unmöglich wurde, wenn dieser Hymnus, diese versteckte Regierungspropaganda, nicht umgehend angegriffen wurde.
In dieser Situation blieb Priva praktisch keine Wahl, als seinen vollgetaggten X-Wing Astra zu nehmen, um moderate Störmanöver zu fliegen. Auch leidenschaftlichste Manöverkritik musste für Priva, einen Mann von Ehre, in angemessenem Verhältnis zum Vergehen stehen. Auf dem Weg zum Pilotensitz hatte Priva noch einen Blick auf die Zentralsteuerkonsole geworfen und war erinnert worden, dass außer dem ungeplanten Einsatz außerdem zwei weitere Missionen aufs Angegriffenwerden warteten : Liebe und Gefahrengebiete. Zwei Begriffe, die seltsam beziehungslos im Raum schwebten und offensichtlich nichts mit irgendwas zu tun hatten. Als Priva endlich eingreifen konnte, hatte Karl schon ungehindert zehn Verse aufsagen können. Angelika, dein langes Haar …

„Kitsch!“, rief Priva. Offenes Verdeck, Pilotenbrille, Kippe im Maul, seine Dichterlöckchen flogen im Flugwind. Und das Publikum klatschte. An den jeweiligen Stellen des Textes, der löchrig war wie eine schlecht geflickte Seele, flog er weitere Figuren: „Bezüge!“, oder „langweilig!“, einmal kam es fast zum Zusammenstoß, als er „Romantisiert!“, analysierte, aber er wendete seinen vollgeschmierten X-Flügler Astra in einem astreinen Manöver. Mila-Superstar-mäßig! "Schwuchtelfeindlich!“ ging aber wieder so durch.
Trotz des Widerstands war Karls Maschinerie nicht aufzuhalten. Fraß sich trotzdem wie die nimmersatte Raupe durch den eigenen Text, ohne überhaupt zu versuchen, angemessen auf die Kritik einzugehen. Die einzigen Reaktionen kamen vom Publikum, das mit dem Beef überhaupt nichts zu tun hatte, der sie im Übrigen auch überhaupt nichts anging. Und überhaupt. Und und wie meistens in solchen Situationen benahmen sich seine Mitmenschen kolossal daneben. Reagierten auf Kritik, als wäre sie ein Showeffekt. Pausierten das Hauptprogramm, stoppten die Hymne, futterten Popcorn aus Eimern und lachten sich scheckige Zebras. Fast immer nur lachte es Priva entgegen aus dem vollbesetzten Saal, der nur ein Raum war, aber immerhin voll.
Obwohl auf den sozialen Netzwerken kaum Resonanz zu registrieren gewesen war, war es brechend voll, und obwohl die Fettliebe in schlechtem Ruf stand, scharten sich immer mehr schöne Menschen um ihr Sternenbanner. Die meisten hier Bekannten waren sowieso nicht auf Facebook & Co. Diese Opfer konnten keine Likes sammeln, keine Herzen, keine Wows, keine Wutköpfe, keine Teufelchen, nichts von Bedeutung. Priva wusste nicht, wie die lebten, und ertrug die Vorstellung nicht, sich das vorzustellen. „Aber schön fürs Publikum, wenn es sich unterhalten fühlt!“, schlingerte Priva einen souveränen Looping, bevor er wieder bei sich landete. Ein mäßiger Cliffhanger, wie das murrende Murmeln der Zuschauer quittierte.

„Ebbt das wieder ab jetzt oder was? Kann ich weitermachen?“, fragte Karl.
„Das Mic ist dein. MC Karlchen, Microphone Chef.“
Und wieder lachte die Menge Mensch und Priva fühlte sich leer, als wäre der Pumpmuskel angesichts so vieler Willen zum Unterhaltenwerden aus seinem Brustkasten evakuiert worden. „Seid ihr voll? verdammtes Publikum!“, eskalierte er sich in den Raum hinein und bekam Szenenapplaus, was absolut daneben war und irgendwie schön, wie wenn man im Traum von seinem Schwarm unsittlich berührt wird. Priva fühlte sich an den letzten Gang-Bang erinnert, wo ihm ein Kleinwüchsiger seinen riesigen Schwanz in den Arsch zu schieben versuchte, bevor er fragte, ob das okay ist. Danach ist nicht deswegen, hatte er sich mit einem Kuss entschuldigt, was für Priva null Sinn ergab.

Auf der Hauptbühne fuhr Karl fort im Versuch, sich dem unendlichen und traumschönen und grenzenlosen Wesen ihrer Kanzlerin Angela Merkel auf den verschlungenen Wegen der Poesie anzunähern: „Du, die alles ist und war, deren Namen tausendfaltige Bedeutungen hat, Angelika o Angela, dein Name ist Verantwortung, Angela lelala Angelika, Schönheit ist dein Name, und nur die Sorge um die Vielzahl deiner Untertanen vermag es, Falten und Runzeln in dein wundervolles Antlitz zu …“
Priva spürte sein Lesebühnen-Tourette, mittleres Stadium, in sich arbeiten und floh, bevor sich sein Mund öffnete. Schloss hinter sich die Tür des Klos. Atmete hörbar aus und betrachtete seine Fresse im Spiegel. Wachsweiße Haut; Nasolabialfalten, die aussahen wie vom Designer der norwegischen Fjorde mitentworfen; Augen, die ihn mit so brennendem Verlangen anglühten, dass er verlegen den Blick abwandte.
„Wer könnte so ein Gesicht lieben“, sang er klar und hell und sah seine Arme vor dem Spiegel in würdigem Rhythmus auf- und abwedeln, als hielte er sich für einen Adlerdarsteller.

Ab der dritten Strophe störte das Klopfen an der Tür. Erst hatte er den Beat des Klopfens in sein Liedchen hineinimprovisiert und einen Regentanz begonnen, aber es wurde immer lauter. Noch vor der letzten Strophe, auf deren Finale er schon die ganze Singezeit gespannt war und hingearbeitet hatte, begannen die Klopfer, anscheinend mehrere, einen komplizierteren Rhythmus aus fünf bis sieben Armen in seine Singemaschine einzuspeisen. Was seine Imagination zuerst befeuerte und ihn zu Pirouetten ermunterte, sodass er sich in ein Solo mit einem achtarmigen Octopus-Drummer hineindrehte, immer schneller drehte er sich auf der Stelle drehte er und drehte sich, spürte die Einheit alles Lebenden, sah Derwische sich mitdrehen, sah sie vor sich, vor dem geistigen Auge, Geistesbrüder allesamt, die er noch nie gesehen hatte und sofort wiedererkannte. Alles in ihm strebte dem Finale entgegen, und es war alles so aufregend, dass er aus Versehen fast einen Orgasmus bekommen hätte, aber bevor es dazu kam oder zum Finale des Liedes, begannen die türbelagernden Barbaren auf eine Art zu rufen, die unmöglich ins Lied passte!
Er solle verdammt noch mal hinmachen, hier gebe es nur ein Klo und zwei Mädchen und drei Jungs warteten auf Erleichterung. „Lame“, murmelte Priva, verlangsamte langsam seine Drehung, spürte Derwische und Octopussies vom Karussell absteigen und wie er nunmehr erneut allein war auf diesem Planet voller Artgenossen. Öffnete noch im Drehen den Hosenstall, reichte nach seinem Schweif und massierte ihn gedankenverloren, während er den Pissstrahl fair zwischen Klo und Waschbecken aufzuteilen versuchte, ohne dass etwas vom kostbaren Nass verloren ging. Priva packte sein Glied zurück ins Halfter, zupfte die Fliege zurecht und verwuschelte seine Haare, bis er nicht mehr nur gespenstisch wirkte, sondern wie ein niedliches Gespenst.

Vor der Tür die angenervten Schädel von Mitmenschen, Nebenmenschen und wer weiß was noch. Die jedenfalls nicht mit ihm gemein waren und also auf diesem Planeten nur Gastrecht hatten. Kuckuckskinder, dachte er und freute sich, dass jemand nicht davor zurückschreckte, ihn zu kritisieren. Kontakt ist Hoffnung! Priva blieb in der Tür stehen wie aus Versehen, hörte sich den Vortrag des kritischen Besuchers an, was natürlich aufgesetzt und unecht wirkte, Eintritt zahlen und dann noch ne Meinung haben wollen!, fragte mittenrein, ob Karl seine Anrufung der großen Bärin bereits beendet habe, was auf der Hand lag, sonst würden sie den Unsinn noch immer hören, und der andere ließ sich auch keinen Zentimeter irritieren, was Priva selbstverständlich respektierte, aber nicht sagen konnte, weil ihn jetzt die anderen X-Beiner zulaberten, dass er endlich aus der Tür gehen solle, sie wollten sich erleichtern.
„Immer wollt ihr euch nur erleichtern! Wie auch immer, sagt das eurem Kumpel hier, der hat mich festgequatscht. Klar will jeder mal an der Titte saugen, die Leipzig nährt. Aber Rücksicht geht vor, wir sind soziale Wesen. “
Er war sicher, dass sie ihn verstanden hätten, wenn er etwas lauter genuschelt hätte, hätten sie ihn sicher verstanden, war er sicher, aber er hatte wieder einmal nicht laut genug genuschelt, was immer wieder negativ auffiel, Priva war schon immer negativ aufgefallen, dass er zu leise nuschelte, aber er nahm, was er kriegen konnte, lieber drei Sekunden negativer Aufmerksamkeit als irgendwann doch keine fünf Minuten Ruhm, falls diese Durchsage überhaupt noch galt. Er drängelte sich durch die kleine Menschentraube vor der Klotür und überlegte erneut, dass es vielleicht an der Zeit ist, sich Security anzuschaffen. Er mochte den Kontakt zum Volk, es war ihm Aufgabe und Verantwortung, von seinem Reichtum abzugeben, aber er trug Verantwortung zuallererst für sich selbst und musste auf sich selbst achten, denn das konnte niemand für ihn übernehmen. Nicht mal der Mensch, die sein Herz irgendwo haben musste.

Priva stellte sich breitbeinig auf seine süß behaarten Hobbitfüße, schob den Schwänsen vom linken ins rechte Holster und öffnete den Reißverschluss wieder, um Paarungsbereitschaft zu signalisieren. Aus den Boxen kam gerade der Sound von titteschön, dem letzten Nummer 1 Hit von der Band ohne Grund, und weiterem Element der Regierungspropaganda, subtile Erziehung zur Höflichkeit.
"Danke / titte // Danke / titte // Danke / titte // titteschön!!"

„Worum drehts?“, fragte Katschi, Buddha der totalen Zerstörung. Pirouettierte links an Priva vorbei, in einem tiefergelegten Kichern, das auch wahnsinnig professionell wahnsinnige Kicherer staunen ließ. „Ich staune“, staunte Priva und musste sich millisekundenlang konzentrieren, um Katschis Bauch im Vorbeidrehen streicheln zu können. Er rubbelte ganz ganz schnell, um maximales Buddhaglück abzusaugen. „Alles und nichts“, antwortete er dann, „wie üblich..“
„Alles und nichts?“, echote Katschi, göttlicher Wirbelwind, und wirbelte weiter um ihn her.
„Nichts weiter…“, sinnierte Priva
„Weiter nichts?“, fragte die ortlose Stimme Katschies aus dem Off seiner Existenz.
„Dreh dich ruhig weiter, liber Wind“, sagte Priva zärtlich, „weiter weiter, kleiner Heiterleiter, weiter nichts weiter ..“ und fügte noch bei, dass es momentan wohl am ehesten um die langweilige Liebe der Heten gehe und Publikumsbeschimpfungen und um Gefahrengebiete, wobei ihm einfiel, dass jemand auf ihn wartete, hier in diesem Raum, um die Ecke, auf dem Sofa.

Sie hatte dunkles Haar und hohe Brüste und zarte Haut und war das unverdorbenste Wesen, dass er seit Jahren aus der Nähe gesehen hatte und und einen Namen trug sie und möglicherweise sein Herz und vielleicht erhob sie einen noch unbekannten Anspruch auf ihn. „Ich darf nicht vergessen, später noch was zu Gefahrengebieten vorzubereiten und da ich es bestimmt vergesse, wirst du mich bitte daran erinnern?“ flüsterte er Mara zu, die sich entschlossen hatte, ihm ihr Herz zu Füßen zu legen, was sehr gefährlich war, weil da viele Menschen längs latschten, auch solche, die schlechtes Benehmen als Zierde missverstanden, und die tölpelig auf jeden Pumpmuskel traten, wenn sie gewohnheitsblind und panisch durch sein Existieren hetzten.

Deswegen hatte Priva kaum richtig Zeit zum Kopfschütteln gehabt angesichts der emotionalen Zugewandtheit einer Artgenossin. Hatte ihr Herz vorsichtig mit der Stiefelspitze angestoßen, vom Boden abprallen lassen, es auf dem Spann ausbalanciert und mit dem Schnürsenkel am Bein fixiert. Weil sich das aber nur höchstens so ausreichend bis ungenügend anfühlte, und sie ihn auch weiterhin erwartungsvoll angesehen hatte, unter Menschen ein Signal, dass der Vorgang noch nicht abgeschlossen war, hatte er sich nicht weiter zu helfen gewusst, als in sich zu schauen, welches Verhalten jetzt angemessen wäre, und da war nichts, außer das, was da war, weswegen er dann die Klappe aufmachte und ihr das eigene Herz anbot, was sie auch nahm und Gott weiß wo wie verstaute, wohin sie das steckte, hatte er gar nicht richtig sehen können, Kategorie unklar wegen Heulerei vor innerem und äußerem Auge, so sehr war er von seiner Geste gerührt und dem Verlust des Pumpmuskels getroffen. So stark ausgeprägt waren Empathie und Empfindungsfähigkeit. So dachte er, der Priva fettweg-Antiheld und brachte zwei, drei Gedanken nach dem anderen zur Welt, und er dankte Gott dem Herrn und seiner Entbindungsfähigkeit.

„Wir sind ja schon leicht niedlich“, sagte Priva nach dem ersten Kuss des Abends, als sie so zart in seinen Händen lag, wie sich die aus dem Nest gefallenen Kohlmeisenminis angefühlt hatten, die er vor achteinhalb Jahren in Sankt Georg gefunden hatte, mitten auf dem Hansaplatz hatten sie dagesessen und getschilpt-tschilpt, wodurch er ja überhaupt erst mal auf sie aufmerksam wurde, und sie an sich nahm, voller Staunen und erfüllt vom Gefühl großer Rätselhaftigkeit, wie es den Menschen gelungen war, dieses ach so unverschämt flauschig gefederte Flugzeugs zu ignorieren. „Wenn es nach mir ginge, kämt ihr alle in Rätselhaft!“, hatte Priva laut gedacht, aber auch das hat nix geändert, geschafft oder gemacht.

Er hatte das Ereignis damals erst mal auf den inneren Schreibtisch gelegt, um es sich später in Ruhe ansehen zu können, bevor er es klassifizieren könnte und in eine seiner einen Schublade abzulegen. Unklar war die erste Schubladen-Kategorie, die er damals angelegt hatte: „unklar“, stand als Arbeitstitel sozusagen auf dem Etikett, das er so lange verwenden würde, bis er etwas besseres gefunden hätte, was zwar praktisch nie der Fall war, nichtsdestoweniger aber jederzeit passieren könnte. Bis jetzt war weit und breit nichts in Sicht.

Zwischendurch hatte er überlegt, eine weitere Schublade zu eröffnen, um noch mehr System in seinen Zettelkasten zu bringen. Ohne Systematik würde er nie eine Karte von der Welt im Maßstab eins zu eins zeichnen können, und wenigstens eine weitere Schublade mehr als eins würde auf dem Weg zur erfolgreichen Schubladisierung der Welt die Unordnung um ungefähr 50 % reduzieren, schließlich steht die Anzahl der Schubladen ganz klar in umgekehrter Beziehung zum Maß der Unordnung der Welt. Schubladen schaffen Ordnung, und Ordnung ist nicht schlecht, Ordnung ist in Ordnung. Trotzdem tauchte aus dem Unbewussten ein unabweisbares Gegenargument auf, das es ihm damals verunmöglichte, eine zweite Schublade zu öffnen oder eröffnen, obwohl die Arbeitskennzeichnung der Schublade, „völlig unklar“, in seinen coupierten Öhrchen zukunftsweisend, verheißungsvoll und auch recht niedlich klang.

Seitdem war das Projekt brachgelegen, aber in Momenten wie diesen erinnerte sich Priva an sein ich von gestern. An ein Wesen, das mit aller Kraft paddelte, um wenigstens einmal klar sehen zu können, um über Wasser zu bleiben und halbwegs klarzukommen, in der vagen Hoffnung, irgendwann ein Stück Treibgut zum festklammern zu finden. Um endlich mal eine Basis zu haben, um sich und alles sortieren zu können oder wenigstens überhaupt mal irgendwas richtig verstehen und einordnen zu können. Auf dass er endlich sich selbst in eine hübsche Schublade mit Garten und Gartenzwerg einordnen könnte, wo dann alle Magie und Trickserei unnötig wäre, wo er einfach sein könnte und von wo aus ein Nordstern immer sichtbar bliebe, Tag wie Nacht, so dass er sich nicht alle fünf Sekunden aufs Neue einnorden müsste, weil diese Welt ein verfluchtes Labyrinth war, absolut undurchsichtig, mit gewohnheitsmäßig vertauschten Straßenschilder und gefälschten Karten, wo es zu allem Bedienungsanleitungen gab, aber mit Menschen sollte man so zurechtkommen.

Seit damals hatte er die rätselhaften Figuren, Konstellationen und Ereignisse des All-Tags nicht mehr auf den inneren Schreibtisch abgelegt, um sie später untersuchen und einordnen zu können, bevor er sie in sein raffiniertes Ein-Schubladen-Ablagesystem einsortierte. Sondern er hatte sie gleich in die Schublade gelegt, in der alles drin war, was er nicht verstand, in der alles drin war.

 
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ich mag eigentlich keine Autoren-Kommentare unter Geschichten, die den Text einordnen sollen. Texte müssen für sich selbst stehen können. aber ich will auch nicht, dass Menschen denken, ich würde überhaupt nicht hinhören, was wir bei der Textarbeit besprechen. ich hatte hier schon vor, sprachlich abzurüsten und ein klareres Geschehen auszuerzählen, aber es gelang mir mal wieder nicht, deswegen ist es jetzt eine Geschichte geworden darüber, warum meiner Figur so was nicht gelingt. Ich hoffe dass das nicht nur als Warnung gelesen wird, sondern auch als Empfehlung verstanden werden kann.

 
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Bas Bas, wir brauchen Bas

ich weiß doch auch nicht! ich weiß nur dass ich die Schreibaufgabe hatte, meine Figur entspannt durch Sankt Georg spazieren lassen, Stadtraum erforschen, Menschen begegnen und den Ball flach halten. und das und All-Tag ist draus geworden.. ich habe meine Lektorin gestern schon via email angeboten, sie von ihrem Vertrag zu entbinden, weil das so seltsam ist, was da in mir rumtanzt und rauswill und ich damit niemanden direkt behelligen will. ist aber okay für sie.

wer weiß, wie die nächste Geschichte aussieht, falls mir eine gelingt? vllt kriege ich dann es hin, mehr Orientierung zu bieten, mehr Struktur reinzubringen, ohne dass das Gerüst durch die Nähte der Geschichte schimmert ..
ich denke doch, da müsste noch was möglich sein, momentan sollen die Worte erst mal wieder tanzen lernen. in den nächsten Schritten dann wäre es großartig, wenn ich deutlicher werden kann, ohne diesen intuitiven Zugang beschneiden oder aufgeben zu müssen. hab ja einiges dafür getan, dies Portal zu öffnen.

sehr spannend, was du da über deine Lese-Eindrücke schreibst! damit kann ich auch einiges anfangen, für mich führt geglückte Literatur mitunter auch zu besonderen Lese-Erlebnissen, manchmal krassen Lese-Erfahrungen. mensch kann da ja auf so vielen Ebenen sensitiv werden.
und wenn dieser Text nur ein einziges gutes Lesen ermöglicht hätte, wäre es das Schreiben auf jeden Fall wert gewesen. schon darüber freue ich mich!
ich habe gerade so unterschwellige Sorge, dass das hier von außen so zerpflückt und fragmentarisch wirkt wie auf mich bspw die Romane von Burroughs, die meine Sache noch nie waren, die ich so unergiebig anstrengend fand, dass ich keinen ausgelesen habe, aber nein, was rede ich, was du schreibst, klingt ganz anders, Unsinn. :) den Paul Bowles kenne ich überhaupt nicht, den schnappe ich mir, wenn mir das Buch über den Weg läuft. klingt spannend und der Titel allein macht mir schon Leselust

Bas, ich dank dir sehr! das war so Boooom!

Kubus

 
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Auf dass er endlich sich selbst in eine hübsche Schublade mit Garten und Gartenzwerg einordnen könnte, wo dann alle Magie und Trickserei unnötig wäre, wo er einfach sein könnte und von wo aus ein Nordstern immer sichtbar bliebe, Tag wie Nacht, so dass er sich nicht alle fünf Sekunden aufs Neue einnorden müsste, weil diese Welt ein verfluchtes Labyrinth war, absolut undurchsichtig, mit gewohnheitsmäßig vertauschten Straßenschildern und gefälschten Karten, wo es zu allem Bedienungsanleitungen gab, aber mit Menschen sollte man so zurechtkommen.

xy schrieb:
Deine Sätze sind sehr lang. Manche gehen über zwei Zeilen!
Kein Witz, Kubus, das musste ich (mitsamt dem Rufzeichen) tatsächlich mal im Kommentar unter einer Geschichte hier lesen, und als ich dem Kritiker damals kommentarlos (und ja, ich geb’s zu, augenverdrehend) dieses (leicht verfälschte)

Ludwig Wittgenstein schrieb:
„Die Grenzen deiner Sprache bedeuten die Grenzen deiner Welt“
unter seinen Kommentar setzte, war mein offtopic-Beitrag schneller wieder gelöscht, als ich „‘tschuldigung, aber das musste jetzt einfach mal gesagt werden“ sagen konnte.
Was ich sagen will, Kubus: Schon sehr bald kam mir beim Lesen deines Textes dieses Zitat von Wittgenstein wieder in den Sinn, ja, tatsächlich könnte ich mir das sogar als Untertitel vorstellen, bzw. als Resümee deiner Geschichte bzw. als Leseanleitung, einfach deshalb, weil mir die Aussage, die in dem Satz steckt, so passend erscheint.
Jetzt hat diese Aussage auf den ersten Blick zwar was beinahe Resignatives, also in dem Sinn resignativ, dass sie eine individuelle und dementsprechend begrenzte, eingeschränkte Weltwahrnehmung bzw. Weltsicht bzw. Weltinterpretation als gegeben anzunehmen scheint, aber in Wahrheit tut sie nichts anderes, als diese Grenzen als eben nicht festgelegt, sie vielmehr als fließend und in jede Richtung verschiebbar anzusehen, abhängig eben von der jeweiligen Sprache, mit der die Welt - was immer wir uns jetzt unter „Welt“ vorstellen mögen - beschrieben wird.
Und du, Kubus, scheinst mir einer derjenigen zu sein, die sich mit jedem Text eine neue Sprachwelt quasi erschreiben, und dass du dabei weniger auf eventuelle Leserzustimmung schielst bzw. zielst, sondern vielmehr auf die Erweiterung deines eigenen Wörteruniversums, ja, das ist eine Herangehensweise ans Schreiben, die ich selber, eitler Hund der ich nun mal bin, eher nicht praktiziere, die aber, wenn es ein anderer tut, allemal Ergebnisse hervorbringt, die mir als Leser neue Welten eröffnen können. Ob diese Welten nun auch nur ansatzweise deckungsgleich mit meiner eigenen Welt sind, bleibt dabei vollkommen irrelevant, weil, und das sag ich jetzt in aller Deutlichkeit: „Die Außerirdischen sind immer die anderen.“
Wenn du weißt, was ich meine. :D

offshore

 

Ja - und in die neue habe ich dann mal aus Neugier reinschauen wollen, ja, nur mal reinschauen und bin dann so derartig kleben geblieben. Woher hast du nur diese Ideen?
Ich habe ja Priva in All-Tag als Dampfplauderer bezeichnet. Und das ist er auch. Ich konnte mich seinem assoziativen Wirbelgerede nicht entziehen. Wirklich nicht. Zu abgedreht, zu komisch waren die Ideen, die Situationskomik, wenn Priva zum Beispiel eigentlich das scheußliche Poem auf Angela Merkel niedermachen will, dann aber als Teil der Comedy genommen wird und Szenenapplaus erhält.

Oder wenn er auf dem Klo sich selbst besingt - und auf welche Weise - und er dann das Klopfen der hoffenden Klogeher in sein Lied hineinbaut, sich so in seine Visionen oder Assoziationen hineinsteigert, dass er im Klopfen nur noch den Beat erkennt, der ihn zum Tanzen animiert. Lauter Derwische und Brüder im Geiste sieht, dabei wollen sie doch nur sich erleichtern.

Er ist wahnsinnig komisch, dieser Priva, dabei sind die Probleme, die er hat, die er auf eine echt sehr witzige Weise beschreibt und bespricht, eigentlich gar nicht komisch.
Mal als Beispiel:

Zwischendurch hatte er überlegt, eine weitere Schublade zu eröffnen, um noch mehr System in seinen Zettelkasten zu bringen. Ohne Systematik würde er nie eine Karte von der Welt im Maßstab eins zu eins zeichnen können, und wenigstens eine weitere Schublade mehr als eins würde auf dem Weg zur erfolgreichen Schubladisierung der Welt die Unordnung um ungefähr 50 % reduzieren, schließlich steht die Anzahl der Schubladen ganz klar in umgekehrter Beziehung zum Maß der Unordnung der Welt. Schubladen schaffen Ordnung, und Ordnung ist nicht schlecht, Ordnung ist in Ordnung. Trotzdem tauchte aus dem Unbewussten ein unabweisbares Gegenargument auf, das es ihm damals verunmöglichte, eine zweite Schublade zu öffnen oder eröffnen, obwohl die Arbeitskennzeichnung der Schublade, „völlig unklar“, in seinen coupierten Öhrchen zukunftsweisend, verheißungsvoll und auch recht niedlich klang.
Der Versuch, Ordnung in sich und in die Welt zu kriegen, wer kennt das denn nicht? Und es ist ein sehr hilfloses und aussichtsloses Unterfangen, ein Kampf gegen Windmühlen. Das weiß man doch. Und es ändert sich nie. Man könnte es also lassen, irgendeine Ordnung oder gar einen Sinn entdecken zu wollen. Dabei erlebt das jeder immer wieder mal in sich, dass es ein Bedürfnis ist, einfach nur zu verstehen. Und du beschreibst das hier so grandios komisch.

An ein Wesen, das mit aller Kraft paddelte, um wenigstens einmal klar sehen zu können, um über Wasser zu bleiben und halbwegs klarzukommen, in der vagen Hoffnung, irgendwann ein Stück Treibgut zum festklammern zu finden. Um endlich mal eine Basis zu haben, um sich und alles sortieren zu können oder wenigstens überhaupt mal irgendwas richtig verstehen und einordnen zu können. Auf dass er endlich sich selbst in eine hübsche Schublade mit Garten und Gartenzwerg einordnen könnte, wo dann alle Magie und Trickserei unnötig wäre, wo er einfach sein könnte und von wo aus ein Nordstern immer sichtbar bliebe, Tag wie Nacht, so dass er sich nicht alle fünf Sekunden aufs Neue einnorden müsste, weil diese Welt ein verfluchtes Labyrinth war, absolut undurchsichtig, mit gewohnheitsmäßig vertauschten Straßenschilder und gefälschten Karten, wo es zu allem Bedienungsanleitungen gab, aber mit Menschen sollte man so zurechtkommen.
Und dann merkt man in dieser komischen Beschreibung den tiefen Ernst, ein tiefes Weh-Gefühl über das eigenen Unvermögen.
Was ist das? Tragik in der Komik? Oder umgekehrt.
Jedenfalls stehst du für mich mit dieser Geschichte in der Tradition und Folge seltsamer, und sehr sehr liebenswerter Antihelden.

Viele Grüße von Novak

 

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