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Hitler wird ausgeschaltet
Samuel Stern trug auf seiner breiten Brust deutlich sichtbar einen Davidsstern, ein Kreuz und einen Halbmond. Egal, welche der drei Religionen recht hatte, er werde auf jeden Fall in einem der versprochenen Paradiese landen, erklärte er jedem, und dröhnte dann mit seiner mächtigen Bassstimme ein Allahu akbar, ein Vater unser und ein Höre Israel, der Ewige, unser Gott.
Abgesehen von Brown, dem Leiter der Organisation, antworteten alle vom USTC meist mit einem Amen.
In der Mitte des Raumes befand sich ein großer, mit Kaffeeflecken übersäter grauer Tisch. Ringsum standen Stühle, unordentlich in alle Richtungen gerichtet, manche abgeschabt, manche mit großen Schwarzen Lehnen und von einem hing ein großer abgerissener Lederstreifen bis zum fleckigen Linoleumboden. Außer mir und Stern waren noch fünf Leute da. Brown stampfte mit rotem Kopf herein. Stern grinste mich an. Offenbar wusste er schon, was Brown so aufgeregt hatte. Dass die beiden sich hassten, war jedem bekannt.
„Da haben Sie dem Präsidenten schön was ins Ohr gesetzt. Aber glauben Sie nicht, dass Sie damit durchkommen. Sie sind ja völlig durchgedreht. Für diesen Sprung opfern wir die Energie eines halben Jahres. Und wir wissen nicht einmal, ob Sie überhaupt früh genug rauskommen. Womöglich landen Sie nach 1939 und dann war alles umsonst.“
„Pardini wird mit mir kommen. Die Techniker haben alles bereits fertig gemacht. Der Präsident sieht ein, dass wir nur mehr diese Chance haben.“
„Verrückt! Das ist verrückt! Ohne Zweiten Weltkrieg werden wir den Schlitzaugen noch weniger entgegensetzen können. Ich mache das nicht. Wir brauchen die Energie für tausend bessere Projekte. Sie sind entlassen. Ist mir völlig egal, was der Präsident meint. Raus! Ich will Sie nie mehr sehen.“
Stern blieb mit verschränkten Armen stehen und lächelte Brown an. Da Brown einen Kopf kleiner war, sah die ganze Szene irrsinnig komisch aus.
„Nein“, sagte er mit diesem hintergründigen Lächeln, dass er immer aufsetzte, wenn er sich seiner Sache sicher war.
„Sie tun, was ich sage! Und zwar genauso, wie ich will. Seit ich der Boss bin, gab es kein Desaster mehr und dabei wird es auch bleiben.“
Ich dachte an 2024, als der Tod von Mujab uns Saudi Arabien gekostet hatte. Stern blickte zu mir und grinste breit, sagte aber nichts.
+++
„Kommen Sie mit. Es geht es los“, sagte Stern am nächsten Tag zu mir.
„Warum nicht Eisenmann? Er hat mehr Erfahrung mit Deutschland“, fragte ich auf dem Weg zur Sprungkammer.
„Du kannst gut mit Hunden umgehen.“
„Was hat ein Hund damit zu tun, dass wir Hitler umlegen?“
„Wenn wir ihn umlegen, kommt Himmler an die Macht und alles wird schlimmer. Wenn wir Himmler auch umlegen, wird vielleicht Ludendorff an die Spitze kommen und plötzlich haben die Deutschen die Bombe. Die Zeit zu ändern ist wie eine Operation. Sie können nicht einfach einen Teil rausschneiden und denken, damit wäre das Problem behoben. Dieses Mal mache ich es anders. Auf meine Art. In etwa so wie in Moskau.“
Ich schüttelte den Kopf. „Hitler ist ein Monster. Wenn Sie ihn nicht erschießen, dann tu ich es. Und außerdem: Ich dachte Brown hätte Sie rausgeschmissen.“
„Nein.“ Stern zeigte dem Techniker einen nach oben gestreckten Daumen und gab mir dann einen prall gefüllten Rucksack und Kleidung aus der Zeit des Ersten Weltkrieges.
„Aber ich bin mir ganz sicher. Sie dürfen das nicht.“
Stern und der Techniker beachteten mich nicht. Panik kroch in mir hoch. Ich war ihm ohne zu nachzudenken in die Zeitkammer gefolgt.
„Es geht tatsächlich los. Das hätten sie nicht gedacht, was?“, sagte Stern seelenruhig und ich fühlte mich durchschaut.
„Ändern können sie ansonsten gar nichts.“
Ich funkelte den Techniker böse an. Verdammt, Brown hatte ausdrücklich verboten, Stern springen zu lassen. Ich dachte fieberhaft nach, doch selbst als wir nach fünf Minuten, noch geblendet durch den Lichtblitz die Augen aufschlugen, hatte ich noch immer keinen Alternativplan. Wir fielen auf den Boden und augenblicklich kroch Panik in mir hoch. Wenn man zurückspringt, dann stechen einem ganz unbedeutende Veränderungen in der Landschaft sofort ins Auge. So selbstverständliche Dinge, wie die Beschaffenheit von Zäumen oder das Grün der Wiesen. Hier sah es fremd aus. Fremd und weit weg. Wir standen auf einem Feldweg neben einer eingezäunten Wiese. Der Zaun bestand aus halb verfaulten, grob zurechtgehauenen Stangen. Ihr Zustand war so schäbig, wie ich es noch nie auch nur annähernd gesehen hatte. Das Gras war mickrig, durchsetzt von Unkraut und der Boden voller Pferdespuren. Ich dachte schon daran, dass Stern möglicherweise noch viel weiter in die Vergangenheit gesprungen war und fasste meine Waffe in der Tasche fester. Nebelschwaden stiegen vor einem sich nur ganz blass abzeichnendem Morgenrot auf.
„Scheißkalt“, meinte Stern und knöpfte sich seinen Mantel zu. Er sah sich um und folgte dem Trampelpfad zu einer Straße in einem erbärmlichen Zustand, aber immerhin schienen schon einige Autos hier gefahren zu sein. Wir marschierten ungefähr einen Kilometer und langsam wurde uns warm. Einige schäbige Häuser tauchten auf. Die Straße verbreitete sich und wir trafen auf Pferde- und Ochsenfuhrwerke, aber auf kein Auto.
„Ist das München?“, fragte ich.
„Ich hoffe es“, sagte Stern. Die Häuser wurden größer und wir gelangten an einen Zeitungsstand. Auf der Titelseite schrieb die Süddeutsche Zeitung den 2. Mai 1919.
„Ausgezeichnet. Nur ein Jahr daneben. Wir haben ausreichend Zeit. Wenn Sie wollen, können Sie ihn umlegen, nachdem mein Plan versagt hat.“
Ich atmete erleichtert aus und sah ihn fragend an. Er konnte doch nicht wissen, was ich mit Brown verabredet hatte?
„Diese Richtung“, sagte Stern und ich folgte ihm schweigend. Nachdem ich sicher gewesen war, wir würden nicht springen, hatte ich keine Rücksprungkoordinaten abgefragt. Vermutlich hatte Stern das genau durchdacht und wusste so, dass ich ihm bis auf weiteres ausgeliefert war.
Im Zentrum von München kamen uns eine Gruppe Männer ihn schmutzstarrenden Mänteln, ähnlich den unseren entgegen. Sie starrten feindselig auf unsere ungeflickten Mäntel. Bettelnde Kinder umringten uns am Marienplatz. Stern gab jedem von ihnen einen Apfel, den er aus seinem Rucksack zauberte.
„Wisst ihr, wo man einen Hund bekommt?“
„Hundefleisch ist ekelig“, antwortete ein Junge mit Rotz unter seiner Nase.
„Ich brauche einen schönen Hund. Einen Schäferhund. Ich kann gut bezahlen.“
Die Jungen schnatterten darauf los und drei Stunden später waren wir in Besitz einer jungen Schäferhündin.
„Was jetzt?“
„Wird sie artig sein?“
„Ich denke schon.“
„Wenn sie Hitler beißt oder verbellt, erschieße ich dich.“
„Dann trainiere ich besser noch etwas mit ihr.“
Wir gingen in einen Fleischerladen und kauften dort ein paar Knochen für Leni, die sie gierig abnagte. Ich streichelte sie und wir gingen in ein Cafe, um uns zu wärmen.
Plötzlich sprang Stern auf.
„Mitkommen.“
Hitler sah schlecht aus. Seine Wangen waren eingefallen, die Kleidung schlammbespritzt. Er wollte dem freudig auf ihn zueilenden Stern ausweichen und Samuel musste sich ihm geradezu in den Weg stellen.
„Herr Hitler? Adolf Hitler. Der Maler?“
Hitler sah kurz auf, nickte, und murmelte: „Was wollen Sie von mir.“
„Goldberg, mein Name. Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen oder ein Bier. Ich bin Kunsthändler und suche nach jungen Talenten.“
Hitler schüttelte den Kopf.
„Ich male nicht mehr.“
„Ach, kommen Sie erst mal mit. Ich bin sicher, wir werden da schon was finden. Der Markt ist ausgetrocknet. All die guten Maler sind im Krieg umgekommen und manch einer hat über das ganze Marschieren und Schießen seine wahre Berufung vergessen.“
„Und wer ist das?“, fragte Hitler und deutete auf mich.
„Aaron Grün“, antwortete ich. „Und das ist Leni. Gib dem Herrn Pfote.“
Leni streckte brav ihre Pfote vor, was Hitler ein Lächeln entlockte. Er kraulte das Tier zwischen den Ohren.
„Ein edles Tier“, sagte Stern. „Die Deutschen Schäferhunde sind an Treue und Gelehrigkeit nicht zu überbieten. Ich finde es nur schade, dass manche Züchter geradezu fanatisch an äußeren Merkmalen interessiert sind, wo doch den Deutschen Schäferhund mehr sein Charakter auszeichnet als sein Fell.“
Hitler folgte uns in den Rosenheimer Hof. Vor dem Eingang blieb er zögernd stehen. Seine Kleidung passte nicht in das bessere Restaurant. Hier konnte ich ihn unmöglich erschießen. Aber das hatte ja noch Zeit.
„Keine Sorge“, sagte Stern. „Ich lade Sie ein. Wir haben uns einige ihrer Bilder angesehen und wir glauben, dass Sie Talent haben.“
„Aber meine Bilder sind doch alle in Wien“, erwiderte Hitler schwach.
Stern nickte kraftvoll. „Wir sind den ganzen weiten Weg hierher gekommen nur wegen ihnen Herr Hitler, und da wir Sie jetzt gefunden haben, wollen wir doch mal feiern.“
„Ich habe heute noch eine Verabredung. Es ist sehr wichtig.“
„Natürlich, solange Sie bald wieder malen werden, können Sie tun und lassen was Sie wollen. Sicher wollen Sie sich politisch betätigen. In Zeiten wie diesen, wo das Reich darniederliegt, eine Aufgabe, die jeder Mann auf sich nehmen muss.“
Bier kam und Würste, die Goldberg für alle bestellt hatte. Hitler aß hastig, hielt dann aber inne.
„Sie sind doch Juden“, sagte er und deutete auf unsere halb gegessenen Schweinswürste.
Stern nickte und sagte beiläufig:
„Ja natürlich. Aber Sie müssen wissen, es gibt in jedem Volk solche und solche. Ich kann das Getue der Rabbiner nicht hören, und überhaupt halte ich nichts auf Traditionen. Selber Schuld, wer da keine Weißwurst essen will. Ich tue es seid Jahren und mich hat kein Blitz erschlagen. Ganz im Gegenteil laufen meine Geschäfte prächtig. Gott muss wohl meiner Meinung sein: Die Zeiten ändern sich. Man muss mit ihnen gehen und sich anpassen. Gestern war gestern und Morgen ist Morgen. Hauptsache die Zukunft gehört uns: Finden Sie das nicht auch?“
„Sie sympathisieren mit den Kommunisten?“, fragte Hitler vorsichtig.
„Die Tragödie dieses Landes ist es, dass sich Kommunisten und Nationalisten gegenseitig erschießen. Dabei müssten sie doch zusammenstehen wie ein Mann. Was für ein Jammer.“
Hitler nickte.
„Da erschießen sie sich gegenseitig und die Welt lacht über uns. Wir bräuchten einen Führer, so wie den Alten Fritz. Einer, zu dem wir aufschauen könnten. Wir Österreicher natürlich auch. Es ist ja nur eine Frage der Zeit, bis sich die deutschsprachigen Länder wieder vereinen werden.“
„Ja, ja“, sagte Hitler. „Und diesen Schandvertrag müsste man Clemenceau ins Maul stopfen.“
Stern nickte eifrig.
Es entstand ein reger Dialog und am Ende sagte Stern.
„Aber jetzt sind wir ganz von den Geschäften abgekommen. Wenn Sie morgen wieder hierher kommen würden, besorge ich ihnen Material, und Sie können mir einige Bilder malen. Hier schon mal fünf Mark Vorschuss.“
Hitler schüttelte energisch den Kopf. „Ich brauche keine Almosen. Bezahlen Sie mich, wenn ich meine Arbeit abgeliefert habe.“ Darauf hin stapfte er nach draußen.
„Wollen Sie ihn zum Maler machen? Er hatte nicht besonders viel Talent.“
Stern grinste. „Talent, lieber Pardini gibt es nicht. Nur harte Arbeit. Und gute Beziehungen. Und ab jetzt sind wir Goldberg und Grün. Kunsthändler. Vergessen Sie alles andere. Ich habe bereits zwei Frauen aus gutem Hause für uns ausgewählt. Es wird Zeit, dass wir uns niederlassen und eine Familie gründen. Die Geschäfte laufen gut und es sollte uns nicht schwer fallen, sie zu erobern.“
„Kommt nicht infrage“, protestierte ich. „In einem Jahr sind wir doch wieder zurück.“
„Oh, es gab da ein Problem in letzter Minute. Wir werden sechs Jahre bleiben müssen. Und die beiden sind echt süß. Haben Sie keine Angst, ich habe alles genau nachgeforscht. Sie sind nicht unsere Ururgroßmütter.“ Er klopfte auf seinen mit Goldmark gefüllten Beutel.
„Auf, auf, lieber Pardini, es wartet ein hartes Stück Arbeit auf uns. Hitler wird nicht ausgeschaltet. Er wird umgeschaltet. Lassen Sie mich nur mal machen und sehen Sie zu. Da können Sie was lernen.“ Ich verstand nicht, was er meinte, aber ich folgte ihm.
+++
Hitler saß vor der Staffelei und führte bedächtig den Pinsel. Er mahlte außerordentlich langsam und konzentriert. Sein Gesicht war nicht mehr ganz so eingefallen, und als er Stern erblickte, lächelte er. Auf dem Bild erhoben sich sonnenbestrahlte Alpengipfel aus einem Häusermeer. Hitler zog bedächtig einen weiteren schwarzen Pinselstrich und ein weiteres Haus nahm Form an.
„Anfangs gefiel mir ihr Vorschlag nicht, aber jetzt kann ich mich langsam damit anfreunden.“
Die Gipfel waren beinahe in Gelb gehalten, sie strahlten geradezu in reinem Licht.
„Es ist besser als erwartet“, meint Stern anerkennend, „ und es wird Aufmerksamkeit erregen. Kunst benötigt Aufmerksamkeit. Landschaftsbilder sind nur der Anfang, sozusagen die Erde, aus der alles wächst. Aber Sie müssen wachsen. Alles verändert sich. Jeden Tag bilden sich neue Parteien, neue Ideen. Und Sie mein Freund Adolf, Sie können weit mehr.
„Was war falsch an den Landschaftsbildern?“, Hitler legte den Pinsel rasch zur Seite und sah Stern auffordernd ins Gesicht.
„Landschaften verändern sich nicht. Alles Leben ist Veränderung. Das Kaiserreich ist tot. Es wird nie wieder kommen. Wir müssen etwas Neues schaffen, etwas Besseres. Und Sie als Künstler können die Menschen dahin führen.“
Hitler zog sich wieder etwas zurück. Er nickte.
„Ich brauche mehr Geld“, sagte er. „Ich würde gerne wieder einen Kurs besuchen.“
„Genau in diese Richtung habe ich auch schon gedacht!“, sagte Stern.
„Es gibt da einen ausgezeichneten Privatkurs. Der Lehrer ist Josef Engelhart.“
„Engelhart? Der ist doch in Wien und bei dem kann ich mir keinen Kurs leisten.“
„Sie nicht aber ich. Immerhin hängt der Erfolg meiner Galerie an Ihnen.“
Hitler schüttelte den Kopf. „Nein! Es gefällt mir hier. Ich habe Freunde.“ Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu. „Und Verpflichtungen.“
„Freunde werden Sie in Wien schnell wieder finden. Das verspreche ich ihnen. Und außerdem werden wir mitkommen. Das Geschäft hier bedarf nicht mehr meiner Mithilfe. In Wien gibt es so viel Potenzial. Die glanzvolle Hauptstadt eines untergegangenen Imperiums. Wenn das nicht die Brutstätte von wahrer Kunst sein wird.“
Ich ließ Leni bei Hitler und ging mit Stern nach draußen.
„Nun ist es aber genug“, sagte ich, als wir ungestört die Isar entlang gingen. „Ich werde Susanne nicht heiraten. Was soll ich mit ihr, wenn wir in fünf Jahren zurückkehren?“
„Tut mir Leid, aber das muss sein. Wir müssen uns hier vollkommen anpassen. Heidi ist schon soweit eingeweiht, dass sie mithelfen wird, den nächsten Teil meines Plans umzusetzen: Hitler braucht eine Freundin.“
„Das ist doch Wahnsinn. Sie halten sich an keinerlei Regeln.“
„Welche Regeln sollen das sein, wenn wir die Zeit selbst verändern? Jemand der befielt, ganze Staaten aus der Geschichte zu löschen, bekennt sich doch nicht zu Regeln.“
Stern wurde lauter. Einige Spaziergänger drehten sich zu uns um.
„Ist schon gut“, sagte ich.
„Sehen Sie nicht, wie fantastisch das läuft. Mittlerweile vertraut er uns mehr als seinen zukünftigen Nazifreunden.“
+++
Es war unser Abschiedsessen. Wir saßen im Krügerl und sahen durch das schmutzige Fenster hinaus auf die Wiener Hofburg. Stern war fröhlich und scherzte mit Apollonia, der Cousine seiner Frau, und erzählte zum wiederholten Mal, wie es gekommen war, dass er ein Bild von Adolf für eine Million Kronen verkauft worden war.
„Sie müssen zurück nach Deutschland“, sagte Stern. Ich zuckte zusammen.
„Die Leute brauchen Führung“, fuhr er erregt fort. „Das Land bricht zusammen. Nationale gegen Kommunisten. Deutsche Arbeiterpartei gegen die Juden. Wo soll das Enden? Es muss jemand sein, der den Leuten wieder Hoffnung gibt. Jemand der ganz unten war, und der es geschafft hat. England und Frankreich können uns erst einmal egal sein. Jetzt geht es darum, Deutschland zu einen, dass es steht wie ein Mann und das keiner hinunterfällt, der 1918 für den Kaiser in den Krieg gezogen ist.“
Das war natürlich eine Vorlage für Hitler, der jetzt zu einem seiner Monologe ansetzte, was er alles ändern würde in Deutschland, aber leider ließ ihm das Malen nicht mehr Zeit. Ich trank viel, den morgen würde ich meine geliebte Sofie nicht mehr wiedersehen. Morgen wartete das 23. Jahrhundert auf uns.
Wir verabschiedeten uns von Adolf, der immer offensichtlicher mit Apollonia flirtete. Unter dem Vorwand, dass wir noch etwas Geschäftliches mit mir besprechen wollte, schickte Stern unsere Frauen voraus.
„Sie wollen, dass er wieder zurück nach Deutschland geht? In die Politik?“
„Natürlich. Ich habe Hitler umgedreht und nun schicke ich ihn zurück ins Herz des Bösen. Er weiß, was er zu tun hat, ich habe es ihm oft genug erklärt. Er wird die NSDAP umbauen, zuerst weiter gegen die Juden hetzten, dann aber allmählich zur Mitte rücken. Und wenn er dort ist: zack!“ er klatschte die Hände zusammen, „Linke und Rechte Extreme ausschalten, dann Österreich heim ins Reich, genauso das Sudetenland, und wenn Trotzki Lenin beerbt, wird Hitler ihm zeigen, wie man den wahren Sozialismus einführt. Damit geht der Lauf der Dominosteine weiter, bis der Kommunismus in China zertrümmert wird.“
„Es könnte vieles schief gehen“, sagte ich. „Aber ich gratuliere zu ihrer Arbeit mit Adolf. Er ist ein neuer Mensch geworden.“
Stern lächelte mich an: „Und Morgen werden wir beide die Früchte unserer Arbeit ernten.“
„Der Präsident wird sich hoffentlich freuen. Wir sind wieder die Nummer eins in der Welt und niemand wird daran kratzen können.“
„Nun ja, wir werden sehen, wie er es aufnimmt. Ich habe ihm, nun ja, nicht die allerletzte Variante meines Plans erzählt. Aber zum Glück ist der Präsident genauso ein Trottel wie Brown. Der Erfolg wird uns recht geben und keiner der beiden wird zugeben wollen, dass ich sie reingelegt habe.“
Am nächsten Tag stiegen wir in den Zug und fuhren in Richtung des Ötschergipfels. Dort irgendwo war der Rückholpunkt, hatte Stern mir gesagt. Mir war nicht wohl bei der ganzen Sache. Ich hatte mich wunderbar eingelebt, genoss Sofies jugendlichen Charme, die Dienstboten, das gute Essen.
„Eigentlich habe ich ja keine Lust. Sie?“, hatte Stern zu Beginn der Fahrt gesagt.
Ich hatte zum Fenster hinausgeblickt und war in Schweigen verfallen. Stern hatte mich intensiv gemustert.
„Gibt es da was, dass sie mir sagen wollen?“
Ich hatte sechs Jahre lang geschwiegen, da kam es auf ein paar Stunden mehr auch nicht an.
„Nein“, log ich.
„Ich habe sie überrumpelt. Sie glaubten fest daran, dass wir die Energie ohnehin nie bekämen, stimmt's?“, sagte er auf halbem Weg.
Es war ungewöhnlich heiß in unserem Abteil. Ich verschwitzte und hatte Angst. Was Stern begonnen hatte, konnte mit der Todesstrafe enden. Mitgefangen, mitgehangen, dachte ich und fragte mich, warum zum Teufel ich ihn nicht vor dem Sprung einfach gestoppt hatte.
„Was wäre, wenn wir gar nicht zurückgehen würden?“, sagte Stern leichthin.
„Sie würden hier bleiben?“
„Brown würde den ganzen Tag toben und er könnte uns kaum jemand hinterherschicken“, beantwortete er seine zuvor gestellte Frage.
„Ich verstehe nicht, wie Sie das mit dem Präsidenten hingekriegt haben. Brown hat doch mit ihm gesprochen.“
Stern ignorierte meine Frage und sprach weiter, sein Blick glitt in die Ferne über weite grüne Wälder und wolkenumhüllte Alpengipfel.
„Wenn ich mir es recht überlege, bin ich hier doch in einer viel besseren Position. Statt zu versuchen, die heillosen Fäden der Vergangenheit zu ordnen, werden wir hier eine blühende Zukunft gestalten. Wie stets mit Ihnen?“
„Verdammt, ich möchte Sofie nicht einfach so zurücklassen. Es wird ihr das Herz brechen.“
„Na dann kehren wir besser um und helfen Hitler beim Aufräumen in der NSDAP.“
Der Zug hielt, und wir stiegen aus. Dampfwolken hüllten uns ein. Geschockt ging ich ihm nach. Auf die andere Seite des Bahnsteiges und stieg dort in den wartenden Zug ein. Es war, als hätte ich mich plötzlich in einen anderen Menschen verwandelt. In einen Aaron Grün, der bereit war, in die NSDAP einzutreten.
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Meine Hand zitterte, als ich mich, auf meinem Stock gestützt, hochwuchtete, um Goldberg zu begrüßen.
„Warte doch Opa, ich helfe dir“, rief Clara, meine achtzehnjährige Enkelin. Sie trug einen weißen Haarreif, der ihr dunkles langes Haar ausgezeichnet zur Geltung brachte.
„Ach Aaron, mein Freund, dieses Jahr in Amerika hat mich beinahe umgebracht. Verzeihe mir, dass ich nichts von mir hören ließ. Ich musste noch einmal all mein Können unter Beweis stellen. Aber jetzt ist die Bombe explodiert und ich kann dir alles berichten.“
„Was ist explodiert?“ bei mir schrillten die Alarmglocken. „Was hast du getan?“
Stern, der mit seinen achtundachtzig Jahren noch immer rüstiger war als ich, setzte sich vor mich hin und sagte: „Ich habe Brown in die Luft gejagt.“
Er grinse nicht, sein Gesicht zeigte einen Ausdruck zwischen Erschöpfung und Zufriedenheit. „Und das ganze Amerika mit dazu. Es wird niemals eine Zeitmaschine geben.“
„Wie? Kabatov wird doch erst in hundert Jahren geboren. Und er, sowie seine Eltern werden von unseren Agenten beschützt. Die Chinesen hätten längst etwas getan, wenn sie gekonnt hätten.“
„Idioten allesamt. Können nur schießen und nicht denken. Das ist das Problem der ganzen verdammten amerikanischen Regierung. Sie besteht aus Militärs und Militärs denken nun mal hauptsächlich an Krieg, Gewehre und Kanonen. Und wenn sie ein Problem haben, wenden sie Kugeln, Granaten und Bomben an. Dabei ist es doch ganz einfach. Ich brauchte Kabatov nicht zu töten, aber ich habe seinen Lebenslauf so gründlich zerfetzt, dass der ganze USTC eine Ewigkeit braucht, das wieder zusammenzustellen. Seine Großeltern sind Millionäre, wenn er auf die Welt kommt. Jedem ein ansehnlicher Lottogewinn oder eine überraschende Erbschaft und der Junge Andrej wird niemals Zeit haben, Einsteins Relativitätstheorie zu erweitern. Er wird in Sportwagen herumbrausen, schöne Mädchen haben, auf Jachten urlauben, vielleicht auch einen Ausflug ins Weltall machen.“ Stern neigte den Kopf: „Hoffentlich kommt er dabei nicht auf dumme Gedanken.“
Ich war geschockt und brauchte eine Weile, um das Ganze zu verarbeiten. Dann schlurfte ich zu meinem Tresor und gab Goldberg meine Waffe.
„Die Kugel war für Hitler. Ich hätte ihn die ganze Zeit erschießen sollen. Aber ich hab's nicht fertig gebracht.“ Tränen schossen mir plötzlich aus den Augen. „Sie haben recht gehabt.“
Stern umarmte mich in einer rührenden Geste.
„Ist schon gut, alter Freund. Ich hab mir das ja gedacht, denn sonst hätte Brown mich nicht losziehen lassen.“
Im Radio liefen die Nachrichten. Wir grinsten und begannen schließlich zu kichern wie senile alte Trotteln. Clara und der eben hereingekommene Butler starrten uns verständnislos an:
„Zum Begräbnis unseres geliebten Führers strömten Millionen Menschen auf den Vereinigungsplatz in Berlin. Beinahe jedes Staatsoberhaupt ist gekommen. Besonders die ehemals unterentwickelten Länder Afrikas und Asiens, die dank seiner Weltrat Initiative in den letzten Jahren ein beispielloses Wachstum gezeigt hatten, trauern um einen Mann, der die Vision einer vereinten Welt beinahe wahr gemacht hat.
Sein Nachfolger, der Brite Edward Wilson, betonte, den Weg zu einer geeinten Welt fortführen zu wollen.“