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Histamin

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26.07.2002
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Histamin

Abends saß die Angst an meinem Bett. Geduckt unter der Dachschräge mit fahlem Gesicht.
Ließ jedes Geräusch des schlafenden Hauses ins Unendliche schwellen. Bis der Puls hinter den Schläfen wummerte, mein Körper im Rhythmus mitschwang.
Unter der warmen Decke.
Gleich würden sie kommen. Die Angst ließ sie herein. Schwarze Tücher vor den Mündern. Das Gewehr im Anschlag.
Ihre Gesichter kannte ich alle. Von den Plakaten sahen sie auf mich herab. Vor dem Postschalter, von der Schiebetür unserer Bank und dem schwarzem Brett meiner Schule.
Jeden Abend ihr Konterfei in den Nachrichten. Die betroffenen Blicke meiner Eltern, die ernsten Worte des Sprechers.
Dann ein Aufatmen im Mai `76.
Was kam danach?
Entführt. Das klang so schlimm. So wahnsinnig schlimm.
Sie konnten mich auf dem Schulweg in ihr Auto zerren. Mich verstecken und dann erschießen.
Nichts geschah. Nur die Angst saß weiter an meinem Bett. Sie schlich mit der Dunkelheit heran.
Entführt wurde ein Anderer. Nicht ich. Gott sei dank nicht ich.
Den Zeitungen gingen die Titel nicht aus. Ich verschlang alle Worte und Bilder.
Ensslin. Die hatte doch lange Haare. Ihr Vater war doch Pastor gewesen. Die konnte doch nicht wollen dass jemand starb.
Abends immer noch Radio hören. Solange ich das Licht brennen ließ, kam die Angst nicht aus dem Versteck.
Als sie Schleyers Leiche fanden, wurde das Programm unterbrochen. Sondersendung.
Keiner war frei.
Stammheim liegt bei Stuttgart. Ganz weit weg.
Später.
Endlich 17. Warte auf meinen eigenen Mund.
Das dauert recht lange.
Auch die Angst ist weg. Habe sie abgehängt, nachts, auf den Nachhausewegen.
Die Wut läuft neben mir her. Wut über den Zustand im Land.
Ich darf noch nicht nach Brockdorf.
Dafür lese ich viel.
„Meine Ortschaft“ von Peter Weiß.
Ich habe mich nicht unterhalten mit meinem Großvater.
Kein Wort über die Bilder, die ihn in den Schützengräben zeigen.
Niemals Sätze über die Zeit der Uniformen.
Auf seinem Totenbett drang der Rauch der verbrannten Leiber zu ihm durch. Aus den Krematorien der Anderwelt, die immer brennen um des Vergessen willen.
Er war daran vorbei marschiert und tat es jetzt wieder.
Damals.

Darüber sprach er nie.
Er nicht.
Die Herren mit den blutigen Händen saßen immer noch an der Macht.
Nicht an der, die vom Volk ausgeht. Oh nein. An der Macht über der Macht. An den Marionettenkreuzen der Wirtschaft und zogen an den Fäden. Wie verlogen. Ich sah das alles ganz klar.
Die Ensslin hatte lange Haare. Die umrahmten ihr wächsernes Gesicht.
Auf der Bahre, in Stammheim.
„Zur Zeit und zur Unzeit“ steckte immer in meinem Rucksack. Ich blätterte überall darin herum.
Histamintest stand da.
Warum hat die Macht sich nur verlagert, den Namen gewendet?
Ich habe Angst, keine Worte zu finden für meine Wut.
Es wird nicht besser werden.

 

Hm, ich kann keinen zusammenhang zw. titel und geschicht erkennen.

Ansonsten hat mir das Geschriebene recht gut gefallen, wäre auch was für "Gesellschaft"?

lg hank

 

Hallo Hank,
nee, ist hier in Alltag genau richtig sagt mein Herz.
Mit einem Histamintest kann man nachträglich feststellen, das der Erhängte noch lebte, bevor er in die Schlinge kam oder schon tot war. Das war mal ein ziemliches Thema in Deutschland.
Danke für`s Lesen
***merlinwolf*******

 

hallo merlinwolf,

nach deiner erklärung verstehe ich den zusammenhang, der mir auch erst nicht klar war. was hältst du von einer kleinen fussnote zum begriff "histamin"?
was du zum ausdruck bringen willst, die gefühle, die damals viele beschlichen und bedrückt haben, ist mir klar geworden. an manchen stellen trägst du meiner ansicht nach zu sehr auf, z.b.:

"Auf seinem Totenbett drang der Rauch der verbrannten Laiber zu ihm durch." (by the way: "Laiber" -hier: Leiber!)

oder auch:

"Die Herren mit den blutigen Händen saßen immer noch an der Macht."

meiner ansicht nach passt dieser interessante und sehr lesenswerte text, eher in die rubrik "gesellschaft".

gruß
bobo

 

Einen schönen Mittwochmorgen, Merlinwolf,

das hier von dir skizzierte Thema ist ein sehr bedrückendes. Die Aufarbeitung war und ist auch heute nicht immer gewollt. Die Herren mit den blutigen Händen - Wirtschaftsbosse, Politiker, Ressourcenausbeuter - die, die ihre Macht über die Macht stellen, werden weiter die große Bedrohung unserer Welt und unserer Gesellschaft sein. Weil sie Demokratie und Freiheit predigen und sie diese für sich alleine okkupieren.

Ein schonungsloser Text mit präzise geformten Sätzen.
,Endlich 17. Warte auf meinen eigenen Mund.' Ja, alles kommt rüber. Es muß bitter gewesen sein damals.
Ein Text als großes Gedankenspiel. Eine Rückblende mit dem Resümee, dass sich ,die Macht verlagert, den Namen geändert hat. Dass es nicht besser werden wird.'

Aktuell, scharfsinnig.
Eine Hoffnung bleibt, sonst ginge es nicht weiter.

Liebe Grüße - Aqua

 

Lieber Bobo,
wie schon geschrieben, der Text soll lieber hier bleiben, hier fühlt er sich wohl.
Die "dick aufgetragenen Sätze" stehen extra so fett auf dem Papier. Gefällt mir eigentlich ganz gut, ich überleg mal sie abzumildern.
Schlimmer war der Fehler mit den Leibern, den habe ich verbessert - danke
Lieber Aqua,
die Zeit ist bedrückend und diese Worte kamen aus meinem Stift als ich etwas über die aktuelle politische Situation schreiben wollte. Solche Texte sind immer eine Gratwanderung und können böse Gespräche auslösen. Aber das ist hier ein Teil meiner Wahrheit und meines Verständnisses sämtlicher politischer Verflechtungen. Kürzlich las ich in einer Stellenanzeige: "Geld regiert die Welt - regieren sie mit!". Ist das nicht schlimm. Der Werteverfall, die Instinktlosigkeit.
Draußen wird es langsam Frühjahr, ich sollte besser in den Garten gehen als mir hier unnötig Gedanken über die Welt zu machen. Hat ja sowieso keinen Zweck.
Danke für deine Worte.
Alles Liebe euch Beiden
****Merlinwolf*************

 

Hallo Merlinwolf!

Meine Geschichteskenntnisse sind nicht die Besten, drum musste ich ein paar Sachen nochmals nachlesen, um den Text zu verstehen. Was ich immernoch nicht kapiere: "Aufatmen im Mai `76." - 76?

Abgesehen davon schaffst Du es, dem Leser Gefühle zu vermitteln, Angst, Wut, aber auch das Gefühl der Hoffnugnslosigkeit, nichts wird sich ändern.
Warten auf die Volljährigkeit, auf die Recht. Aber auch die Erkennnis dann, dass sich auch damit nichst ändern lässt an der Situation und den politischen Entscheidungen.

"“Auch die Angst ist weg. Habe sie abgehängt, nachts, auf den Nachhausewegen.“
Die Wut läuft neben mir her."

"Niemals Sätze über die Zeit der Uniformen." - das kenn ich... und jetzt ist es für mich unbegreiflich, warum ich es nicht ansprach. Jetzt, erst seit ein paar Jahren.

Ein ganz starker Text, Merlinwolf, der zumindest mich sehr nachdenklich gemacht hat.

ganz liebe Grüße
Anne

 

Liebe Maus,
danke für deine Worte. Ich weiß, ich schreibe teils unverständlich und ich werfe mit Daten die nicht jedem bekannt sind.
Im Mai 1976 hat sich, so die "unabhängige Presse" Ulrike Meinhoff in Stammheim erhängt. Als 11 jähriges Mädchen, was ich damals war, spürte ich die Erleichterung.
Später habe ich es anders verstanden. Später, als ich Gedichte von Erich Fried las, der das Thema unverblümt wieder aufnahm.
Die nichtgeführten Gespräche mit meinem Großvater über die Greueltaten des dritten Reiches hängen mir noch heute nach. Ich sage nicht "Schuld", bin mir aber bewußt, dass wir alle die Augen verschließen vor dem Greuel in der Welt.
Da drängt sich die Frage auf: "Ist ein Autor näher dran, am Gewissen der Welt?"
Histamin sollte eigentlich ein Text über die aktuelle politische Lage werden, aber die Worte flossen einfach so aus meinem Stift.
Hoffe, du verstehst.
Alles Liebe
**********Merlinwolf*********

 

Hei Merlinwolf, mal was anderes...hm!

Man brauch n wenig allgemeinwissen, vielleicht muss man auch n wenig älter sein.

Ich sehe es so, dass du zwei Perspektiven hast. In der ersten die Angst. In der zweiten die Wut, aber auch die Angst. Es folgt eine Umbewertung der Situationen, weil du ja kognitiv gereift bist.

Nun, ich will nicht davonreden, dass alle Politiker der 70er nationalsozialistisches Gedankengut mit sich herumtrugen, das dürfte dir bekannt sein.

Es ist mal wieder einmalig geschrieben. Die erste Hälfte gefällt mir ausserordentlich gut!

Liebe grüsse Stefan

 

Hallo Merlinwolf,

so ganz kann ich mich dem Lob meiner Vorrezensenten leider nicht anschließen.
Mich faszinieren wie sie, die persönlichen Gedanken zu "Deutschland im Herbst" wie diese Zeit in einem Autorenfilmkollektiv benannt wurde.
Es war eine düstere Zeit und es riss mich auc hhin und her zwischen den Einschränkungen die diese Zeit dem Experiment "Demokratie wagen" brachten, dem Wissen, es ist Mord der dort geschieht und der Wut auf die herrschenden Zustände, die jeden dieser Terrorakte als Rechtfertigung nahmen, die Bürgerrechte zu beschneiden.

Schon der Gedanke, dass die Waffen in Stammheim (das liegt übrigens in Schwaben, wenn ich nicht irre) spendiert gewesen sein könnten, war erschreckend.

Was mir an deinem Text missfällt liegt an meinem persönlichem Geschmack. Ichhätte es schöner gefunden, wenn du diese Eindrücke in eine wirkliche Geschichte eingebunden hättest. So bleibt es für mich eine Ansammlung schöner Sätze und nachtragender Gedanken, aber eben leider nicht mehr.

Eine literarische Auseinanderstzung mit jender Zeit halte ich aber für ausgesprochen wichtig.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo
@ Arche - ja, was Anderes und du hast den Zwiespalt erkannt. Habe lange gehadert, ob ich die Geschichte veröffentliche. Und sicher ist mir auch die Tatsache bekannt, dass nicht alle Politiker der 70 belastet waren. Aber der Zwiespalt blieb, ganz lange, ich mußte es aufschreiben
@ sim
dir auch Dankk für das Interesse und die Kritik. Sicher, eine direkte Story hat das Ganze nicht. Aber wozu auch, sage ich rechtfertigend. Es sind Worte die eine Entwicklung schildern. Lese mehr von mir, soo schreibe ich.
Danke vor allem für den Hinweiß auf den kapitalen Fehler. Stammheim liegt bei Stuttgart, ganz klar, heißt ja auch Stuttgart Stammheim. Peinlich, ich schäme mich ziemlich. Hätte nicht passieren dürfen. Die Strafe war das Ummodeln des Textes.
Alles liebe für euch
*********merlinwolf**********

 

Ich habe die Story wegen des Titels angeklickt.
Aber was hat er mit der Story zu tjn? Die Story selbst verstehe ich nicht ganz. Irgendwer ist entführt worden und jemand anderes hat Angst das ihm das Gleiche passiert.

Dann fallen ein paar Daten die ich nict zuoprdnen kann.

Um was geht es?

*verwirrt*

jaddi

 

@ jadzia
der Entführte war ein deutscher Politiker - Hans Martin Schleyer, die Entführer waren Mitglieder der RAF (Rote Armee Fraktion).
Der Jemand, der völlig unbegründet, Angst vor einer Entführung hat, ist ein Kind, welches in dieser Zeit aufwuchs.
Die Story ist ohne geschichtlichen Hintergrund kaum nicht zu verstehen. Menschen meiner Generation haben aber sicher dieses Stück deutscher Geschichte nicht vergessen. Sorry dafür.
Das Datum welches genannt wird spielt auf den Selbstmord der Journalistin und Terroristin Ulrike Meinhoff an. Sie war schon inhaftiert und wurde in ihrer Zelle erhängt aufgefunden.
Histamin ist ein körpereigener Stoff. Nach einem ungeklärten Tod durch Strangulation wird ein "Histamintest" gemacht, der klären kann, ob der Leichnahm schon Tod war bevor er stranguliert wurde oder ob die Strangulation daselbst den Tod bewirkte.
Hoffe diese Erklärungen machen den Text für dich etwas verständlicher.
merlinwolf****

 

Hallo Merlinwolf,

ein bedrückender Text, der viel Wahrheit enthält. Und mit Wahrheit meine ich "meine Wahrheit". Was Du schildesrt habe ich ähnlich erlebt, ich kenne es gut. Deine Sprache fängt die Angst, die Unsicherheit und die Wut, die wir damals und später fühlten, ganz außerordentlich gut ein.

Ich gebe Sim ein bisschen recht - eine richtige Kurzgeschichte mit einer Handlung ist es nicht, aber die Entwicklung der Protagonistin wird sehr deutlich - also doch eine Handlung?

Besonders gut hat mir der Satz "Warte auf meinen Mund." gefallen. Genauso war es: Wir fühlten uns stumm und hilflos - ausgeliefert - und hätten doch so gerne geschrieen.


Ein paar Kleinigkeiten sind mir Korinthenkackerin noch aufgefallen:

Solange ich das Licht brennen ließ (Komma)kam die Angst nicht aus dem Versteck.

Als sie Schleyers Leiche fanden (Komma, wurde)unterbrach das Programm (unterbrochen). --> Das Programm kann sich doch nicht selbst unterbrechen, es wird von den zuständigen Machern unterbrochen, oder? :D

Nicht an der (Komma) die vom Volk ausgeht.

Eine Fußnote bezüglich der Bedeutung des Histamins wäre wahrscheinlich für manchen Leser hilfreich (siehe Jadzias Anmerkung). :)

Ich bin jedesmal ein bisschen erschrocken, wenn ich merke, dass etwas, das für unsere Generation so selbstverständlich ist, den jungen Leuten gar nicht mehr bekannt ist ... Ich muss mich dann verschärft daran erinnern, wieviel mir unbekannt war, was für meinen Großvater sein Leben ausmachte :).

Danke für diese Geschichte und liebe Grüße
Barbara

 

Hallo al-dente,
danke für dein aufmerksames lesen. Habe die Fehler berichtigt. Spät zwar, aber immerhin.
Über den fehlenden geschichtlichen Hintergrund in den jüngeren Generationen habe ich lange nachgedacht. Es war wohl so, dass ich voraussetzte, jeder müsse über dieses Kapitel deutscher Geschichte bescheid wissen. Die Reaktion auf den Text hat mich doch erstaunt. Das ist eben der lauf der Zeit. Dinge, die unheimlich wichtig, noch vor wenigen Jahren, rutschen in das Vergessen zugunstenen anderer Dinge. Da darf man niemand einen Vorwurf machen.
Eine schöne Adventszeit
*****Merlinwolf*********

 

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