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Histamin
Abends saß die Angst an meinem Bett. Geduckt unter der Dachschräge mit fahlem Gesicht.
Ließ jedes Geräusch des schlafenden Hauses ins Unendliche schwellen. Bis der Puls hinter den Schläfen wummerte, mein Körper im Rhythmus mitschwang.
Unter der warmen Decke.
Gleich würden sie kommen. Die Angst ließ sie herein. Schwarze Tücher vor den Mündern. Das Gewehr im Anschlag.
Ihre Gesichter kannte ich alle. Von den Plakaten sahen sie auf mich herab. Vor dem Postschalter, von der Schiebetür unserer Bank und dem schwarzem Brett meiner Schule.
Jeden Abend ihr Konterfei in den Nachrichten. Die betroffenen Blicke meiner Eltern, die ernsten Worte des Sprechers.
Dann ein Aufatmen im Mai `76.
Was kam danach?
Entführt. Das klang so schlimm. So wahnsinnig schlimm.
Sie konnten mich auf dem Schulweg in ihr Auto zerren. Mich verstecken und dann erschießen.
Nichts geschah. Nur die Angst saß weiter an meinem Bett. Sie schlich mit der Dunkelheit heran.
Entführt wurde ein Anderer. Nicht ich. Gott sei dank nicht ich.
Den Zeitungen gingen die Titel nicht aus. Ich verschlang alle Worte und Bilder.
Ensslin. Die hatte doch lange Haare. Ihr Vater war doch Pastor gewesen. Die konnte doch nicht wollen dass jemand starb.
Abends immer noch Radio hören. Solange ich das Licht brennen ließ, kam die Angst nicht aus dem Versteck.
Als sie Schleyers Leiche fanden, wurde das Programm unterbrochen. Sondersendung.
Keiner war frei.
Stammheim liegt bei Stuttgart. Ganz weit weg.
Später.
Endlich 17. Warte auf meinen eigenen Mund.
Das dauert recht lange.
Auch die Angst ist weg. Habe sie abgehängt, nachts, auf den Nachhausewegen.
Die Wut läuft neben mir her. Wut über den Zustand im Land.
Ich darf noch nicht nach Brockdorf.
Dafür lese ich viel.
„Meine Ortschaft“ von Peter Weiß.
Ich habe mich nicht unterhalten mit meinem Großvater.
Kein Wort über die Bilder, die ihn in den Schützengräben zeigen.
Niemals Sätze über die Zeit der Uniformen.
Auf seinem Totenbett drang der Rauch der verbrannten Leiber zu ihm durch. Aus den Krematorien der Anderwelt, die immer brennen um des Vergessen willen.
Er war daran vorbei marschiert und tat es jetzt wieder.
Damals.
Darüber sprach er nie.
Er nicht.
Die Herren mit den blutigen Händen saßen immer noch an der Macht.
Nicht an der, die vom Volk ausgeht. Oh nein. An der Macht über der Macht. An den Marionettenkreuzen der Wirtschaft und zogen an den Fäden. Wie verlogen. Ich sah das alles ganz klar.
Die Ensslin hatte lange Haare. Die umrahmten ihr wächsernes Gesicht.
Auf der Bahre, in Stammheim.
„Zur Zeit und zur Unzeit“ steckte immer in meinem Rucksack. Ich blätterte überall darin herum.
Histamintest stand da.
Warum hat die Macht sich nur verlagert, den Namen gewendet?
Ich habe Angst, keine Worte zu finden für meine Wut.
Es wird nicht besser werden.