- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Hirten in den Hügeln
Sterne funkelten in der klaren Nacht. Der Mond war fast voll und tauchte die Hügel in sanftes silbriges Licht. Am Lagerfeuer saßen vier Hirten und ein kleiner Hütejunge, der im Herbst zu ihnen gekommen war. In manchen Nächten durfte er mit den Erwachsenen aufbleiben, aber meistens schlief er gegen Morgen doch ein.
Die Hirten erzählten sich Geschichten, um wach zu bleiben und nicht von einem hungrigen Berglöwen überrascht zu werden.
„Wisst ihr noch, der alte Josse, als er einen Schatten auf dem Hügel sah?“ Ephraim schaute in die Runde.
Und Nathanael spann das Garn weiter: „Ich glaube, ich habe so vor mich hingedöst. Und da kreischte Josse los, als ob ihn ein Skorpion gestochen hätte. Dann schnappte er sich seinen Knüppel und rannte auf den Hügel. Es sah aus, als sei der Wüstendämon hinter ihm her.“
Ephraim übernahm wieder: „Kurz vor der Kuppe fiel er hin und blieb liegen. Wir dachten, ihm sei was passiert und liefen hin. Aber er lag auf dem Rücken im Sand und lachte, dass ihm die Tränen kamen.
‚Was hast Du? Was ist Dir geschehen?‘, fragte ich ihn noch ganz atemlos.
‚Mir ist nichts passiert, aber der Löwe hat sich so erschrocken, dass er in Purzelbäumen ins Tal gerollt ist.‘
Wir glaubten ihm kein Wort. ‚Du hast geträumt‘, spotteten wir. Aber am Morgen schauten wir nach und da sahen wir tatsächlich eine deutliche Spur im Sand, als ob ein schwerer Sack den Hügel heruntergerollt sei.“
Nach einer Weile warf Jakob ein: „Und dann, wisst ihr noch, vor zwei Jahren um diese Zeit.“
„Da war gar nichts“, fiel ihm Ephraim ins Wort und Jakob verstummte. Er schaute ganz erschrocken, vielleicht war er sogar errötet, aber in dem flackernden Feuerschein war das kaum auszumachen.
Nach längerer Stille fragte der kleine Benjamin: „Was war denn nun? Opa hat auch irgendwas gemurmelt, aber Mama hat nur gesagt, er solle keine Märchen erzählen.“
Die Hirten schwiegen. Die Zweige im Feuer knackten und sprühten Funken. Dann begann Nathanael: „Er wird es ja doch von irgendjemandem hören. Schließlich haben wir die Geschichte damals überall erzählt. Dann soll er lieber gleich die Wahrheit erfahren.“
„Wahrheit“, brummte Ephraim. „Unser karges Leben hier, das ist Wahrheit, alles anders sind Spinnereien und die bringen nur Unglück.“
„Nun sieh doch nicht immer alles so schrecklich. Wir besitzen wenig, aber ich bin mit meinem Leben zufrieden“, meldete sich der schweigsame Michael überraschend zu Wort.
Ephraim hielt tatsächlich seinen Mund und so berichtete Nathanael weiter: „Also es war in so einer Nacht wie heute. Wir hielten Wache, tranken warme Ziegenmilch und erzählten uns Geschichten. Auf einmal war der Himmel heller, als bei Vollmond. Damals schien gar kein Mond. Dafür sahen wir gewaltige Sterne, die funkelnd über den Himmel tanzten und sangen.“
„Was haben die Sterne denn gesungen?“
„Keine Ahnung“, stieß Ephraim hervor: „Freude, Frieden, Wohlstand, alles nur leere Worte.“ Nachdrücklich schloss er seinen Mund wieder und auch die Augen. Am liebsten hätte er noch seine Ohren verstopft.
„Ja, es war eigenartig“, erzählte Nathanael weiter. „Einer der Sterne kam ganz nahe heran und erzählte uns von einem neugeborenen Kind, das unser Helfer und Freund sei. In Bethlehem sollte es zur Welt gekommen sein, in der Höhle vom alten Abischar. Wir sind gleich losgelaufen und fanden wirklich ein Neugeborenes und seine Eltern. Na ja, Kinder werden immer geboren, warum nicht auch in einer Höhle. Aber es war schon komisch.“
„Was war denn komisch?“, fragte Benjamin den verstummten Nathanael.
„Ich kann es nicht erklären und jetzt, wenn ich daran denke, werde ich ganz traurig. Aber damals war es wie so ein warmes Gefühl, wir waren so voller Freude, dass wir die Schafe alleine ließen, nach Bethlehem rannten und allen Menschen unser Erlebnis erzählten.“
„Tolles Erlebnis“, meckerte Ephraim. „Schon am nächsten Abend saßen wir am Lagerfeuer und froren. Es war eine sehr kalte Nacht und da war nichts mehr zu spüren von irgendeiner Freunde oder gar von irgendeiner Wärme.“
„Aber ist denn noch etwas geschehen?“
„Was soll denn schon geschehen sein“, knurrte Ephraim. „Die Eltern verschwanden spurlos mit ihrem Kind. König Herodes schickte Soldaten, die alle kleinen Knaben abschlachteten. Das war so grausam, ich möchte nicht mehr daran erinnert werden. Von wegen Freude und Frieden.“
Alle erinnerten sich an diese Ereignisse und schwiegen. Aber nach einiger Zeit sprach Ephraim weiter: „Oder hat sich bei euch irgendetwas geändert? Unser Leben ist genau so hart und schwer, wie vor zwei Jahren oder vor zwanzig Jahren oder bei unseren Großvätern. Nein, wir haben nur mal wieder geträumt. Das ist bei unserem Volk nun mal so. Das wisst ihr doch auch. Immer wieder träumen unsere Propheten von einer wunderbaren Zeit, aber sie kommt nicht. Dafür erleiden wir Kriege, Vertreibung; Hungersnöte.“ Ephraim hob einen Stein auf und schleuderte ihn in das Dornengestrüpp neben dem Feuer. „Steine und Dornen. Nichts sonst. Nein, es gibt kein Paradies für uns. Niemals.“
In dieser Nacht sprach keiner mehr.