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Hinterher ist man immer schlauer

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05.03.2005
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Hinterher ist man immer schlauer

Mir passieren immer sehr seltsame Dinge. Ich kann im Grunde nichts dafür, ich bin vermutlich nur das Opfer höherer Gewalt. Vorgestern habe ich mir beim Rasieren das halbe Ohr abgetrennt. Nicht absichtlich, ich bin Schriftsteller und kein Maler. Ich bin einfach nur mit der Klinge abgerutscht. Während ich nieste. Dass ich mir dabei auch noch den Kopf an der Toilettenschüssel gestoßen habe, war ein unangenehmer Nebeneffekt, der mit dem Vorgang des Rasierens nicht viel zu tun hatte. Aber das führt nun wirklich zu weit. Fakt ist, dass mir Dinge passieren, von denen andere immer behaupten, ich würde sie mir ausdenken. Die Frage ist nur, ob vorher oder nachher. Zum Beispiel habe ich schon während des Rasierens, nein, während des Niesens gedacht: 'Pass auf, gleich ist das Ohr weg.' Wahrscheinlich bin selbst schuld. So wie bei der Sache mit dem Getränkeautomaten.

Im Grunde genommen sind solchen Automaten ja ein Segen der Technik: Man muss sich nicht mit einer dummen Bedienung herumärgern, die die Bestellung vergisst, dann die Hälfte des Getränks vergießt, während sie das Glas auf den Tisch stellt und schließlich einem dadurch den Abend vermiest. Nein, da sind diese Automaten doch bei weitem angenehmer, denn sie sind zuverlässig, verschütten nichts und verlangen auch kein Trinkgeld. Wenn sie funktionieren. Das Exemplar, mit dem ich es zu tun hatte, war von schon mit vier Fünfern, zwei Zweiern und elf Fünfzigpfennigmünzen gefüttert worden. Ein beachtliches Trinkgeld - leider hatte ich noch nichts zu trinken. Grund genug, dem Apparat mit einem wuchtigen Tritt auf die Sprünge zu helfen.

Fehler erkennt man oft erst, nachdem man sie gemacht hat. Wüsste man es vorher, dann bliebe man nicht mit dem Fuß im Ausgabeschacht des Getränkeautomaten stecken und gäbe dabei eine ziemlich blöde Figur ab. Noch während ich ausholte, dachte ich daran, dass mein Fuß dort stecken bleiben könnte. Gut, hinterher ist man immer schlauer.

Da der Automat nicht in meinem Wohnzimmer stand, sondern in einer Wartehalle versuchte ich, mehr oder minder unauffällig, meinen Schuh, in dem noch mein Fuß steckte, aus dem Schacht zu ziehen. Das war nicht ganz einfach, weil ich mich während des Tritts gegen die Maschine ein wenig gedreht hatte und nun in einer leicht rückwärtigen Position stand. In meinem Knie knackte es, mein Knöchel gab ebenfalls seltsame Laute von sich und ich machte mir darüber Gedanken, wie ich meinem Arzt diese Verletzungen erklären konnte.

„Sind Sie von der 'Versteckten Kamera'?“ sprach mich ein älterer Herr an und fing an zu lachen, als ich beim Versuch mich nach im Umzudrehen, mit dem Gesicht zuerst auf den Boden prallte. Dabei blieben Schuh und Fuß noch immer im Schacht. Von dort unten röchelte ich: „Nein, denn dann steckten Sie mit dem Fuß im Automaten und ich würde lachen.“ Und der Alte kicherte weiter: „Nee nee, damit kriegen Sie mich nicht, ich war schon mal im Fernsehen.“ Ich merkte mir das Gesicht und schwor mir, ihn in meine Liste aufzunehmen. Auf dieser Liste sind alle Menschen vermerkt, denen ich nicht ein zweites Mal begegnen möchte. Schon gar nicht, wenn ich mit einem Fuß im Getränkeautomaten stecke. Jeder vernünftige Mensch würde sagen: „Zieh doch einfach den Fuß aus dem Schuh“, aber das ging eben nicht. So wie im vergangenen Jahr, als ich fast im Nichtschwimmerbecken ertrunken wäre und mir der Bademeister fortwährend von draußen zurief: „Das Wasser ist nicht tief, Sie können dort stehen - los, kommen sie hoch.“ Sehr komisch. Wie soll man aufstehen, wenn sich die Badehose im Abflussgully verheddert hat. Und als ich tauchte, dachte ich noch: „Pass mit der langen Badehose auf.“ Aber hinterher ist man immer schlauer.

Nun, in diesem Fall war ich nicht am Ertrinken, aber die Sehnen und Knochen in meinem rechten Bein gaben langsam den Widerstand auf. Ganz im Gegensatz zum Getränkeautomaten, der für neunundzwanzigmarkundfünfzig abwechselnd in allen erdenklichen Farben Flüssigkeit auf meinen Schuh goss. Die Plastikbecher konnten nicht raus, weil der Schacht ja verstopft war, sonst hätte ich zumindest eine Menge zu trinken gehabt. So klebte aber die zuckerhaltige Pampe meinen Schuh noch fester in den Schacht fest. Ich hätte nur ein Zweimarkstück einwerfen und mich dann bei der Aufsicht über den defekten Automaten beschweren sollen. Dabei ist mir etwas Ähnliches schon einmal als Kind mit dem Schulbus passiert, der die Tür zu früh zumachte und nur meine Lippen im Businneren, ich selbst mich aber noch draußen befand. Ärgerlich auch deswegen, weil der Busfahrer vor Lachen einen falschen Knopf drückte, die Hydraulik ausschaltete, und ich eine geschlagene halbe Stunde warten musste, bis wieder ausreichend Druck für das Öffnen der Tür zur Verfügung stand. Vielleicht war das mit der Hydraulik auch nur eine Erfindung des Busfahrers, in jedem Fall hatte ich es schon geahnt, als ich in den Bus steigen wollte. „Warte lieber noch, da passt Du eh nicht mehr rein“, hatte ich noch gedacht. Ich ahne so etwas eben.

Mein Fuß war mittlerweile angeschwollen, so dass ich, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht mehr aus dem Schacht, geschweige denn aus dem Schuh hätte rutschen können. Um mich herum standen Männer und Frauen, die unter Anleitung des alten Mannes nach der versteckten Kamera suchten. Meine Liste wuchs und wuchs, doch endlich keimte Hoffnung auf: Von irgendwo her hörte ich - wie in einem Traum - die Stimme meiner besten Freundin Inga. Ich träume oft von ihr, aber das sage ich ihr nicht. Tatsächlich stand sie plötzlich vor mir, begrüßte mich überschwänglich, erzählte mir von ihrem Urlaub und ging dann weiter. Wenn ich von ihr träume, dann steht sie meistens hinter einem Duschvorhang und ich habe ein Messer in der Hand.

Die Feuerwehr hat mich schließlich herausgeschnitten, weil der Betreiber des Automaten sich über die schlechten Umsätze wunderte. Ich habe mein Vertrauen in die Technik verloren und gehe wieder in Restaurants, bin seit vier Monaten mit einer Kellnerin verheiratet, die im sechsten Monat schwanger ist. „Pass auf“, habe ich noch gedacht, als ich sie kennen lernte.

 

Hallo Schriftstehler,

was ne nette selbstiroinsche Geschichte über einen Unglücksraben im Menschenkostüm. War amüsant zu lesen, und, wenn du auch mehr die leise Satire zu bevorzugen scheinst, ist es eine Satire.
Auch, wenn natürlich gleich zu Beginn der Geschichte klar wird, dass du hier einen Menschen durch die Brille der Ironie betrachten willst und man beim Plot sodann keinerlei Überraschungen mehr vorfindet, weil man weiß, wie sowas ausgeht, wars an keiner Stelle langweilig.

Dein Schreibstil, der mir grundsätzlich gut gefällt, könnte hie und da noch von, wie ich sie nenne, Füllworten gereinigt werden.
Da es hier zu weit geht, wenn ich dir alle Punkte aufzeige, erlaube ich mir, dir eine Mail zu schicken, worin ich dir aufzeige, wo überall ich etwas herausstreichen würde. Hier nur ein kleines Beispiel ,stellvertretend für alle anderen:


Die Plastikbecher konnten nicht raus, weil der Schacht ja verstopft war, sonst hätte ich zumindest eine Menge zu trinken gehabt. So klebte aber die zuckerhaltige Pampe meinen Schuh noch fester in den Schacht fest.

Ich würde die Worte zumindest, aber streichen.


Lieben Gruß
lakita

 

Hallo lakita,

ja, es muss ja nicht immer alles überraschend sein - und hinterher wissen es ohnehin immer alle besser... ;-)

Danke für das Kompliment zum Schreibstil: Das zumindest kann ich gern streichen, zumindest das eine - aber sag mir doch mal, welche Worte Dir noch zu viel sind.

...erinnert mich gerade an den Mozart-Film: "Es sind einfach zu viele Noten..."

Lächelnd, Schriftstehler

 

Lieber Schriftstehler,

das mit den Worten, die zuviel sind, aus meiner Sicht natürlich nur, wollte ich dir via Mail schicken, weil ich mir dann deinen ganzen Text vornehme und schlicht diejenigen Worte in Klammern setzen wollte, die ich für überflüssig halte.
Das Beispiel, welches ich wählte, hat es vielleicht schon verdeutlichen können. Es sind all die Worte, die wegfallen können, ohne dass der Text irgendwelche Verstümmerungen inhaltlicher Art erleidet. Ich selbst nenne sie Füllworte, aber obs da dann jeder weiß, was ich meine, ist eher fraglich.

Da ich selbst eher schreibe, wie ich rede und jede Menge von diesen Worten auch in meinen etwas locker umgangsprachlichen Texten stecken, fällt es mir bei deinem Text auf, denn meistens sieht man die eigenen Fehler bei sich selbst nicht, dafür beim andren umso deutlicher. :D
Obs dann ein klassischer Fehler ist, ist auch die Frage. Ich denke jedoch, dass jedes nicht aussagekräftige Wort auch fehlen darf. Darauf wollte ich hinaus.
Also hab bitte ein wenig Geduld, ich bin im Moment in Arbeit versunken und werde, sobald ich Zeit hab und mich die Lust nicht verlassen hat, dir eine Überarbeitung per Mail schicken.

Lieben Gruß
lakita

 

Hallo Schriftstehler

Irre ich mich, oder hatte mir nicht auch schon deine erste Geschichte hier sehr gut gefallen :hmm: Egal, diese tut es auf jeden Fall.

Wirklich produktives kann ich dir nicht schreiben. Lakita hat ja schon die Sache mit den Füllwörtern erwähnt. Aber für solche satzbautechnischen Feinheiten habe ich kein Auge. Ich konzentriere mich bei der Lektüre meistens eher auf die Gesamtkonstruktion und Struktur eines Textes, doch bei deinem hab ich nichts auzusetzen.
Der ist in der Form mit der Aussage und diesem Stil völlig okay und mE nicht wesentlich verbesserbar.

Fazit: Sehr gern gelesen. Deinen Namen werd ich mir mal merken (Ja, jetzt stehst du bei mir auch auf einer Liste :baddevil: )

Gruß
Hagen

 

Hallo Hagen,

ich bin auf Deiner Liste - Danke! Empfinde ich als Lob und zur Strafe setze ich Dich auch auf meine Liste :thumbsup: Schön, wenn Dir die beiden Geschichten gefallen haben, ich stelle hier bestimmt noch die eine odere andere rein...


@ lakita

Ja, schick mir mal die Änderungen per eMail: Ich weiß genau was Du meinst, weil ich mal eine Geschichte für eine Zeitung zusammenkürzen musste. Mir tut das weh, ein andere geht da lockerer ans Werk... :) Schon mal vielen Dank im Voraus...

Lächelnd, Schriftstehler

 

Hallo schriftstehler,

vielleicht war ich von Deiner ersten (sehr lesenswerten) Satire zu sehr verwöhnt, aber in dieser zweiten fehlte mir etwas der Drive, aber OK, war nur so mein Eindruck.

Gruss
W Urach

 

Mir gefiel die Geschichte ebenfalls ausgezeichnet :thumbsup: ; lediglich eine weitere Stufe der Eskalation hatte ich erwartet (z. B. dass der Automat auch noch auf den Protagonisten kippt). Oder er das zumindest ahnt. Muss aber nicht.

Zu den Füllwörtern. Allgemein eine harte Aufgabe: das Streichen. Ein befreundeter Schriftsteller sagte mir, von jedem geschriebenen Text müssten erfahrungsgemäß bei der Bearbeitung 20 Prozent wieder raus. Das ist wie die Feinarbeit beim Bildhauern.

 

Hallo FlicFlac,

schön, dass Dir der Text gefällt. Eine weitere Eskalation wäre natürlich denkbar, aber in dem Fall hätte die Geschichte für mein Gefühl eine Überlänge bekommen - Satiren halte ich gern kurz, sonst werden die Texte zahnlos. Denke ich.

...und was die Füllworte anbelangt hast Du vollkommen Recht.

Lächelnd, Schriftstehler

 

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