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Hinterher ist man immer schlauer
Mir passieren immer sehr seltsame Dinge. Ich kann im Grunde nichts dafür, ich bin vermutlich nur das Opfer höherer Gewalt. Vorgestern habe ich mir beim Rasieren das halbe Ohr abgetrennt. Nicht absichtlich, ich bin Schriftsteller und kein Maler. Ich bin einfach nur mit der Klinge abgerutscht. Während ich nieste. Dass ich mir dabei auch noch den Kopf an der Toilettenschüssel gestoßen habe, war ein unangenehmer Nebeneffekt, der mit dem Vorgang des Rasierens nicht viel zu tun hatte. Aber das führt nun wirklich zu weit. Fakt ist, dass mir Dinge passieren, von denen andere immer behaupten, ich würde sie mir ausdenken. Die Frage ist nur, ob vorher oder nachher. Zum Beispiel habe ich schon während des Rasierens, nein, während des Niesens gedacht: 'Pass auf, gleich ist das Ohr weg.' Wahrscheinlich bin selbst schuld. So wie bei der Sache mit dem Getränkeautomaten.
Im Grunde genommen sind solchen Automaten ja ein Segen der Technik: Man muss sich nicht mit einer dummen Bedienung herumärgern, die die Bestellung vergisst, dann die Hälfte des Getränks vergießt, während sie das Glas auf den Tisch stellt und schließlich einem dadurch den Abend vermiest. Nein, da sind diese Automaten doch bei weitem angenehmer, denn sie sind zuverlässig, verschütten nichts und verlangen auch kein Trinkgeld. Wenn sie funktionieren. Das Exemplar, mit dem ich es zu tun hatte, war von schon mit vier Fünfern, zwei Zweiern und elf Fünfzigpfennigmünzen gefüttert worden. Ein beachtliches Trinkgeld - leider hatte ich noch nichts zu trinken. Grund genug, dem Apparat mit einem wuchtigen Tritt auf die Sprünge zu helfen.
Fehler erkennt man oft erst, nachdem man sie gemacht hat. Wüsste man es vorher, dann bliebe man nicht mit dem Fuß im Ausgabeschacht des Getränkeautomaten stecken und gäbe dabei eine ziemlich blöde Figur ab. Noch während ich ausholte, dachte ich daran, dass mein Fuß dort stecken bleiben könnte. Gut, hinterher ist man immer schlauer.
Da der Automat nicht in meinem Wohnzimmer stand, sondern in einer Wartehalle versuchte ich, mehr oder minder unauffällig, meinen Schuh, in dem noch mein Fuß steckte, aus dem Schacht zu ziehen. Das war nicht ganz einfach, weil ich mich während des Tritts gegen die Maschine ein wenig gedreht hatte und nun in einer leicht rückwärtigen Position stand. In meinem Knie knackte es, mein Knöchel gab ebenfalls seltsame Laute von sich und ich machte mir darüber Gedanken, wie ich meinem Arzt diese Verletzungen erklären konnte.
„Sind Sie von der 'Versteckten Kamera'?“ sprach mich ein älterer Herr an und fing an zu lachen, als ich beim Versuch mich nach im Umzudrehen, mit dem Gesicht zuerst auf den Boden prallte. Dabei blieben Schuh und Fuß noch immer im Schacht. Von dort unten röchelte ich: „Nein, denn dann steckten Sie mit dem Fuß im Automaten und ich würde lachen.“ Und der Alte kicherte weiter: „Nee nee, damit kriegen Sie mich nicht, ich war schon mal im Fernsehen.“ Ich merkte mir das Gesicht und schwor mir, ihn in meine Liste aufzunehmen. Auf dieser Liste sind alle Menschen vermerkt, denen ich nicht ein zweites Mal begegnen möchte. Schon gar nicht, wenn ich mit einem Fuß im Getränkeautomaten stecke. Jeder vernünftige Mensch würde sagen: „Zieh doch einfach den Fuß aus dem Schuh“, aber das ging eben nicht. So wie im vergangenen Jahr, als ich fast im Nichtschwimmerbecken ertrunken wäre und mir der Bademeister fortwährend von draußen zurief: „Das Wasser ist nicht tief, Sie können dort stehen - los, kommen sie hoch.“ Sehr komisch. Wie soll man aufstehen, wenn sich die Badehose im Abflussgully verheddert hat. Und als ich tauchte, dachte ich noch: „Pass mit der langen Badehose auf.“ Aber hinterher ist man immer schlauer.
Nun, in diesem Fall war ich nicht am Ertrinken, aber die Sehnen und Knochen in meinem rechten Bein gaben langsam den Widerstand auf. Ganz im Gegensatz zum Getränkeautomaten, der für neunundzwanzigmarkundfünfzig abwechselnd in allen erdenklichen Farben Flüssigkeit auf meinen Schuh goss. Die Plastikbecher konnten nicht raus, weil der Schacht ja verstopft war, sonst hätte ich zumindest eine Menge zu trinken gehabt. So klebte aber die zuckerhaltige Pampe meinen Schuh noch fester in den Schacht fest. Ich hätte nur ein Zweimarkstück einwerfen und mich dann bei der Aufsicht über den defekten Automaten beschweren sollen. Dabei ist mir etwas Ähnliches schon einmal als Kind mit dem Schulbus passiert, der die Tür zu früh zumachte und nur meine Lippen im Businneren, ich selbst mich aber noch draußen befand. Ärgerlich auch deswegen, weil der Busfahrer vor Lachen einen falschen Knopf drückte, die Hydraulik ausschaltete, und ich eine geschlagene halbe Stunde warten musste, bis wieder ausreichend Druck für das Öffnen der Tür zur Verfügung stand. Vielleicht war das mit der Hydraulik auch nur eine Erfindung des Busfahrers, in jedem Fall hatte ich es schon geahnt, als ich in den Bus steigen wollte. „Warte lieber noch, da passt Du eh nicht mehr rein“, hatte ich noch gedacht. Ich ahne so etwas eben.
Mein Fuß war mittlerweile angeschwollen, so dass ich, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht mehr aus dem Schacht, geschweige denn aus dem Schuh hätte rutschen können. Um mich herum standen Männer und Frauen, die unter Anleitung des alten Mannes nach der versteckten Kamera suchten. Meine Liste wuchs und wuchs, doch endlich keimte Hoffnung auf: Von irgendwo her hörte ich - wie in einem Traum - die Stimme meiner besten Freundin Inga. Ich träume oft von ihr, aber das sage ich ihr nicht. Tatsächlich stand sie plötzlich vor mir, begrüßte mich überschwänglich, erzählte mir von ihrem Urlaub und ging dann weiter. Wenn ich von ihr träume, dann steht sie meistens hinter einem Duschvorhang und ich habe ein Messer in der Hand.
Die Feuerwehr hat mich schließlich herausgeschnitten, weil der Betreiber des Automaten sich über die schlechten Umsätze wunderte. Ich habe mein Vertrauen in die Technik verloren und gehe wieder in Restaurants, bin seit vier Monaten mit einer Kellnerin verheiratet, die im sechsten Monat schwanger ist. „Pass auf“, habe ich noch gedacht, als ich sie kennen lernte.