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Hinter Glas

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15.11.2009
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Hinter Glas

Müde saß er am Frühstückstisch, den Kopf auf eine Hand gestützt. Durch das offene Küchenfenster flutete die warme Morgensonne hinein. Die Vögel hielten ihre allmorgendliche Konferenz in den Wipfeln vor dem Haus ab. Es war eine hitzige Diskussion, die vom Schnaufen der Kehrmaschine, die gerade in die Straße einbog, überlagert wurde. Irgendwo warf jemand seinen Rasenmäher an.
Auf dem Tisch stand ein Teller mit verschiedenen Käsesorten, ein Topf Honig, ein Schälchen Marmelade. Missmutig bestrich er die Brotscheibe vor sich mit Margarine und bedeckte sie mit Maasdamer. Ihm war nicht nach Süßem, er wollte etwas Herzhaftes.
Aber als er sein Werk zum Mund führte, wurde es vom Glas berührt und verwandelte sich in graue Masse. Er schmeckte das leicht säuerliche Brot, aber der Käse verkam zu einem neutralen Ding. Er spürte die glatte, feste Konsistenz, aber da war nichts Nussiges, nichts, was Würze auch nur entfernt nahe kam. Nach zwei Bissen war ihm übel und er zog den Käse ab, um etwas Salz auf die Margarine zu streuen. Wenigstens diese kleinen weißen Schätze konnten durch das Glas zu ihm dringen. Das blassgelbe, geschmacklose Häufchen ließ er achtlos auf dem Teller liegen.
Also das gleiche Programm wie sonst ...
Seufzend nahm er sich eine neue Scheibe, schüttete mit dem Löffel einen großen Klecks Marmelade darauf und verteilte ihn großzügig. Dem Etikett nach bestand die rote Masse aus Erdbeeren, aber durch das Glas kam nur die Süße, nicht das Aroma der Früchte.
Er brachte das Frühstück schnell hinter sich. Es war zu einer lästigen Pflicht geworden, wie alle anderen Mahlzeiten auch. Das Glas raubte ihm den Appetit.
Plötzlich hatte es sich wie eine Glocke über ihn gestülpt, anfangs unbemerkt. Doch als auf einmal alles angefangen hatte, auf unerklärliche Weise weniger echt zu wirken, war ihm klar geworden, dass etwas nicht stimmte.
Die Diagnose des Arztes war wenig aufbauend gewesen. Selbst mit den größten Hämmern war es der Medizin nicht gelungen, dem Glas auch nur einen Sprung beizubringen - der „Versuch einer Therapie“, mehr nicht. Nachdem nichts erreicht worden war, hatte man ihn aufgegeben und das Glas für unzerstörbar erklärt.
Am Abend wollte seine Freundin vorbeikommen. Er hatte ihr noch nichts von dem Glas erzählt. Wenn sie nun ein neues Parfüm trug und wissen wollte, was er davon hielt! Die letzten Wochen hatte er solche Situationen irgendwie umgehen können, aber ewig ließ sich sein Zustand nicht verheimlichen.
Zeit für die Uni.

Der Bus war voll und obwohl es noch früh war, hatte die Sonne das Innere bereits genug aufgeheizt, um Achselhöhlen in sprudelnde Quellen zu verwandeln. Die Luft war drückend und man musste seine ganze Kraft aufwenden, um sie in die Lungen zu befördern. Hier erwies sich das Glas wenigstens einmal als Vorteil, denn es ersparte ihm weitere Übel, die in der Buskabine umherschwebten. Jedoch konnte er nicht sagen, ob er selbst auch dazu beitrug. Das Glas machte auch ihn selbst unwirklich, fern. In letzter Zeit hatte er nach Möglichkeit andere Personen gemieden, um nicht ständig daran erinnert zu werden. Erst in der Öffentlichkeit wurde ihm bewusst, was er verloren hatte. Umso glücklicher war er, als er endlich sein Ziel erreichte und das schwitzende Gedränge verlassen konnte.

Das Seminar lenkte ihn ab. Er hatte schon spannendere Sitzungen erlebt und die Hitze war der Konzentration auch nicht förderlich. Dennoch war er ganz vertieft in den Vortrag der Dozentin. Je mehr er sich dem Stoff zuwendete, umso mehr rückte das Glas in den Hintergrund. Ja, für ein paar Minuten vergaß er es sogar. Aber als ihn später seine Kommilitonen fragten, ob er sie in die Mensa begleiten wolle, holte ihn die Erinnerung wieder ein. Er lehnte ab, sagte, er hätte Magenprobleme und um die Uhrzeit sei es ihm ohnehin zu voll. Das war zumindest nur zur Hälfte gelogen. Waren ihm Menschenansammlungen wie im Bus schon unangenehm, kam er sich in Massen verloren vor. Er suchte sich lieber ein schattiges, abgelegenes Plätzchen auf dem Campus, las etwas. Sein Magen knurrte, aber ihm fehlte die Motivation, ihn zu füllen. Später vielleicht.

Nach seinen Seminaren fiel ihm ein, dass er noch für den Abend einkaufen musste, wenn er seiner Freundin mehr als Leitungswasser anbieten wollte. Vor dem Eingang des Supermarktes hielt er inne, schaute auf die vollen Körbe und Taschen, mit denen die Leute herausströmten. Da musste er wohl durch ...
Eilig schritt er durch die Regale, griff sich eine Flasche Orangensaft, legte noch ein paar Knabbersachen dazu – schön salzig, damit er auch etwas davon hatte – und raffte noch die Dinge zusammen, die er täglich brauchte. Plötzlich blieb er stehen. Ein großes Display mit runden Plastikdosen nahm etwa die Hälfte des Gangs ein. Marzipaneier in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Ihr Anblick füllte seinen Mund mit Speichel. Marzipan war schon immer eines seiner größten Laster gewesen. Sollte er es darauf ankommen lassen? Die Furcht vor einer Enttäuschung war groß, aber das Verlangen nach diesen kleinen Köstlichkeiten stand dem nicht nach. Eine gefühlte Ewigkeit wägte er ab, bis die Lust die Oberhand gewann und eine Dose in seinen Korb wanderte.

Die Zeit war knapp, als er zu Hause ankam. Nicht einmal mehr eine Stunde. Er sprang unter die Dusche, zog sich etwas schickere Klamotten an. Noch etwas Duft? Ließ sich schlecht dosieren. Wann war es zu wenig, wann zu viel? Nur einen Hauch … wie viel war noch mal ein Hauch? Ein Spritzer? Zwei? Er verzichtete lieber ganz darauf.
Noch zwanzig Minuten – und sie hatte den Hang zur Pünktlichkeit.
Die Luft! War sie schlecht? Zumindest stickig, ja stickig. Fenster auf!
Hastig stellte er die Knabbereien auf den kleinen Tisch vor dem Fernseher, suchte noch schnell das Abendprogramm aus dem DVD-Regal.
Es klingelte.
Ihre Lippen waren so zart und weich wie sonst auch. Kleine, mit Samt überzogene Polster. Aber wieder bemerkte er mit Entsetzen, dass diese feine, einzigartige Süße nicht mehr an ihnen haftete. Etwas fehlte, war hinter dem Glas verborgen. Er versuchte, sich seinen Schreck nicht anmerken zu lassen. Wenn es seiner Freundin auffiel, sagte sie zumindest nichts. Im Wohnzimmer rümpfte sie die Nase. Ob er wahnsinnig sei, ausgerechnet dann die Fenster aufzureißen, wenn die Nachbarn grillten. Es stänke wie in einer Imbissbude. Entschuldigend schloss er die Fenster, sagte, er wäre im Nebenzimmer gewesen und hätte den Gestank auch jetzt erst bemerkt. Er empfand sich selbst nicht als sonderlich überzeugend, aber es schien ihr Erklärung genug.
An diesem Abend war er mehr auf den Film als auf sie fixiert. Manchmal vergaß er sogar kurzzeitig, dass sie überhaupt da war. Es war merkwürdig. Bisher war sie stets der Mittelpunkt seiner Welt gewesen. Als sie sich an ihn lehnte, legte er den Arm um sie, drückte die Nase in ihr volles, seidenes Haar.
Nichts.
Als hätte sich das Glas um jedes Haar gelegt und den sonst so anregenden Duft von Zimt eingeschlossen. So tief und angestrengt er auch die Luft einsog, blieb sie ohne Geruch.
Seine Freundin nahm eines der Marzipaneier aus der Schale auf dem Tisch, biss eine Hälfte ab und steckte ihm die andere in den Mund. Er kaute – und gestand sich ein, dass der Kauf ein Fehler gewesen war. Das Ei war süß, mehr aber nicht. Kein Aroma. Um nicht noch mehr dieser Dinger runterwürgen zu müssen, täuschte er Sodbrennen vor.

Ihr Atem ging schwer, während sie seinen Hals mit Küssen bedeckte. Heiß, weich, trocken. Er umfasste ihre Taille, zog sie an sich. Sie war so wunderschön wie immer. Es gab nichts an ihr, was ihm nicht gefiel. Er wollte sie, das wusste er, jetzt noch mehr als sonst. Und doch … etwas von ihr war nicht mehr da. Im Moment der Erkenntnis stieg Traurigkeit unaufhaltsam in ihm hoch. Sein Griff um ihre Taille wurde locker.
Sie musste nichts sagen – ihr Blick war beschämend genug.

Die erste Nadel tat weh, aber nur kurz. Die restlichen bemerkte er kaum noch. Als die Therapeutin ihr Werk vollendet hatte, dimmte sie das Licht und ließ ihn allein. Aus einem Lautsprecher in der Wand drangen sanfte Klänge. Er fühlte sich entspannt und gelöst. Es war ein Versuch, mehr nicht. Aber er musste wenigstens alle Möglichkeiten austesten. Vielleicht gab es eine Chance, das Glas doch noch zu durchbrechen.
Er hoffte es.

 
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Moin,

ich hoffe, dass ich bei dieser Geschichte nicht zu kryptisch geworden bin (die ersten Versionen waren es definitiv). Deswegen stand hier ursprünglich ein Text, der ein paar Hintergrundinfos beisteuern sollte, was aber offenbar viel Lesevergnügen vorweg nimmt. Deswegen wünsche ich an dieser Stelle einfach viel Spaß mit meinem neuesten Werk.

Liebe Grüße
Pale Man

 

Hallo Pale Man!

Gab es da auch eine Zeichenbeschränkung? Mir gefällt deine neue Richtung, dieses sinnliche und etwas kryptische. Aber dein Kommentar zur Geschichte hat mehr kaputt gemacht für mich. Mach den schnell weg! Außerdem finde ich den Text viel zu kurz. Ich hätte dir lange folgen können, glaube ich. Wenn du da mal nachdenkst, was für tolle Dinge man daraus machen könnte. Wirklich Verschwendung von gutem Stoff. Angenehm zu lesen, auch die Vergleiche und so, das geht schon alles. Aber da zum Beispiel den Fokus auf das langsame verlieren zu legen. Das hätte schon sehr viel melancholisches Potenzial. Könnte man einen ganzen Roman drüber schreiben. Wie er seine Frau langsam aus der Nase verliert. Das ist schon sehr traurig, dass da was fehlt. Wenn man das clever ausbaut, da kann man ganz unaufgeregt auf die Tränendrüse drücken, ohne aufdringlich zu sein.


Lollek

 

Moin Lollek,

ui, da bin ich wohl über's Ziel hinausgeschossen. Habe ich gleich mal korrigiert ;).
Hm, deine Ideen finde ich gut. Ich habe sogar schon selbst gedacht, dass das Stoff für einen Roman abgeben könnte, nachdem ich fertig war. Ich denke, ich werde den Text noch um ein gutes Stück verlängern und in Teilen abändern.

Lieben Gruß
Pale Man

 

Hallo Pale Man,

ich hab schon gelesen, dass Du noch was dran machen willst, insofern muss ich jetzt nicht sagen, stricke mal was drumrum ;). Aber vielleicht kann ich Dir ja ein paar Anregungen mit auf den Weg geben.

Müde saß er am Frühstückstisch, den schweren Kopf auf eine Hand gestützt.

Müde saß er am Frühstückstisch, den Kopf auf eine Hand gestützt.
Vorsicht vor Adjektiven ;). Nicht mehr als nötig. Und wer seinen Kopf stützt und müde ist, da braucht es kein schwer mehr.

Die Vögel hielten ihre allmorgendliche Konferenz auf den Wipfeln vor dem Haus ab. Es war eine hitzige Diskussion, die vom Schnaufen der Kehrmaschine, die gerade in die Straße einbog, überlagert wurde. Irgendwo warf jemand seinen Rasenmäher an.

Eigentlich eine sehr schöne, atmosphärische Beschreibung, nur etwas zu erklärend in sich. Und: in den Wipfeln.

Die Vögel hielten ihre allmorgendliche Konferenz in den Wipfeln vor dem Haus ab. Eine hitzige Diskussion, die vom Schnaufen der Kehrmaschine überlagert wurde. Irgendwo warf jemand seinen Rasenmäher an.

Auf dem Tisch stand ein Teller mit verschiedenen Käsesorten. Ein Topf Honig. Etwas Marmelade.

Was ist den etwas Marmelade? Ein Glas mit einem Rest oder zwei, drei Gläser? Schau ein wenig genauer hin.

Missmutig bestrich er die Brotscheibe vor sich mit Margarine und bedeckte sie mit Maasdamer. Ihm war nicht nach Süßem, er wollte etwas Herzhaftes.
Aber da war das Glas.

Ich hatte Deine Erläuterung auch bereits gelesen, insofern erscheint mir das Glas natürlich als richtig und sinnvoll. Ohne die, hätte ich an dieser Stelle das erste Mal ein Problem. Ich will damit nicht sagen, dass Du sie wieder einfügen sollst, sondern, hier muss ein bisschen auf das Glas eingegangen werden, damit der Text für sich sprechen kann. Ich frag mich so nämlich - was'n für ein Glas? Und im weiteren geht es ja mehr in Richtung Geschmackssinn verloren. Das geht sicher einher, so als Nebenwirkung, aber eben Nebenwirkung, die bei Dir zum Hauptgrund erwächst. Auch wenn Du es kryptisch magst, solltest Du den Leser hier in die richtige Richtung lenken.

Das Glas gestattete ihm zwar nicht, zu erkennen, aus was die rote Masse hergestellt worden war, aber zumindest ließ es die Süße darin zu ihm.

Aber er kann doch gucken? Man kann doch auch sehen, um was es sich für eine Marmelade handelt. Verstehst Du, Nicht sehen, nicht schmecken - und doch was sehen und schmecken - als Leser habe ich es hier mit Puzzleteilen zu tun, die mir nicht ineinanderpassen.

Er brachte das Frühstück so schnell hinter sich, wie es ging. Es war zu einer lästigen Pflicht geworden, wie alle anderen Mahlzeiten auch.

Er brachte das Frühstück schnell hinter sich. Es war zu einer lästigen Pflicht geworden, wie alle anderen Mahlzeiten auch.

Das Glas raubte ihm den Appetit und es war ununterbrochen da.

Erstmal klingt es komisch - das Glas, was so als feststehende Metapher von Dir verwendet wird. Ich hätte da lieber eine Glocke, die ihm übergestülpt wurde. Ich glaube, wenn Du das Glas als solches näher betrachten würdest, kämst Du ein gutes Stück weiter.

Plötzlich hatte es ihn umschlossen, anfangs unbemerkt. Doch als auf einmal alles angefangen hatte, weniger echt zu wirken, Farbe zu verlieren, da hatte sich ihm das Glas offenbart.

Hier auch eher der Aspekt der Farbenblindheit. Bisher hatte ich es noch nie mit Gerüchen zu tun.
Ab davon würde ich auf diesen Einschub verzichten. Oder es weiter ausbauen. Meine persönliche Meinung jetzt. Für mich wirkt dieser Einschub ein bisschen erklärend und fremdlastig.

Es war der „Versuch einer Therapie“ gewesen. Nachdem nichts erreicht worden war, hatte man ihn aufgegeben und das Glas für unzerstörbar erklärt. Es hatte weder Ursprung noch ersichtlichen Schwachpunkt.

So gleiche Satzanfänge wirken immer ein wenig lieblos.

Heute Abend war er mit seiner Freundin verabredet. Er hatte ihr noch nichts von dem Glas erzählt, aber irgendwann würde der Punkt erreicht werden, ab dem er seine Existenz nicht länger verheimlichen konnte. Wenn sie nun ein neues Parfüm trug und wissen wollte, was er davon hielt! Oder sie gemeinsam kochen wollten! Die letzten Wochen hatte er solche Situationen irgendwie umgehen können, aber ewig ging das nicht. Das Schlimmste war jedoch, dass das Glas auch seine Freundin von ihm fernhielt. Er konnte sie sehen, sie spüren, sie hören … aber es fehlte etwas. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er es einmal so vermissen würde. Es war kalt hinter dem Glas und andere Menschen wurden ebenso grau wie der Maasdamer – selbst die besonderen.
Er musste los, auf ihn wartete jemand.

Dieser Absatz ist sehr Erzählerlastig. Hier hätte ich es gern szenischer, Detailreicher, bunter ;). Ich will mit ihm leiden und nicht von seinem Leid erzählt bekommen.

Umso glücklicher war er, als er endlich am Ziel war und das schwitzende Gedränge verlassen konnte.

Umso glücklicher war er, als er endlich sein Ziel erreichte und aus dem schwitzende Gedränge flüchten konnte.

Das Behandlungszimmer war angenehm kühl. Er versuchte sich zu entspannen, so gut es eben ging. So etwas hatte er noch nie ausprobiert, aber es schenkte ihm ein wenig Hoffnung. Wenn die Hämmer der Medizin nichts ausrichten konnten, gelang es vielleicht ein paar dünnen Nadeln, das Glas zu durchstoßen und es zusammenbrechen zu lassen. Er durfte nichts unversucht lassen, wenn er nicht länger hinter dem Glas leben wollte.
Die Welt musste wieder farbig werden.

Hier auch wieder Erzähleromnipräsenz. Warum nicht schreiben, wie sich die Nadeln in seine Haut schieben und seine Hoffnung, eine mögen den Knoten erreichen und durchstechen. Ach, so eine Akkupunkturszene fände ich toll. Jede Nadel eine Hoffnung. Erst die ganz großen und dann immer bescheidener werdend. Liebe Nadel mach, dass ich wieder riechen kann, zu mach, dass ich ihr Haar rieche. Das wäre mein Ansatz und natürlich nur ein Vorschlag. Aber da ginge halt noch mehr. Nur theatralisch darf es nicht werden. Davon haste schon genug ;). Nicht zu viel, aber genug.

Ja, schöner Ansatz, gefällt mir gut. Bisschen mehr Szene, bisschen mehr Mut zu sprachlicher Vielfalt und Wortspielerei und da wäre ein Haufen mehr drin.

Beste Grüße Fliege

 
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Moin Fliege,

danke für die sehr ausführliche und sehr hilfreiche Kritik. Ich habe schon einen Teil der KG überarbeitet und bin dabei auch auf deine Punkte eingegangen. Ich werde auch die schwafeligen Erzählstellen rausstreichen, so gut es geht, und an anderer Stelle szenischer einfügen - also mehr showen und weniger tellen :D.
Ich denke, dieses Wochenende werde ich noch fertig damit und kann die neue Fassung hochladen.

Lieben Gruß
Pale Man

 

Aber da war das Glas.
und wie Bruder Martinus und sein Jünger Vrîdel anno tobac so ungefähr dichteten "und wenn die Welt ein Senfglas wär / und wollt' uns gar verschlingen, / so fürchten wir uns nicht so sehr, / es muss uns doch gelingen", und

lieber Pale Man,

es war schon gestern eine durchaus gelungene Geschichte, wie einer durch einen Makel sich ausgegrenzt fühlen muss (eine Analogie oder besser noch Spiegelung wäre mir der Zoobesuch, wenn der sich überlegen fühlende Besucher seinen armen Cousin hinter Gittern/ Glas nicht als Symbol seiner Selbst begreifen kann).

Dass Du erzählen kannst, weiß ich seit der vorhergehenden Geschichte. Und das beste seit Langem: der Mikroökonom braucht kein „linguistisches“ Seminar simulieren, bis vielleicht auf zwo kleine, vielleicht unbedeutenden Punkte, von denen der erste sich über Nacht wohl selbst erledigt hat:

Abgesehen davon, dass nun jeder zumindest näherungsweise wissen könnte, was Anosmie sei, solltestu vielleicht keine Bange vorm Kryptischen haben. Im Extremfall schreiben wir eines Tages nur noch Gebrauchsanweisungen oder spenden Lebensberatung. Eine Geschichte gewinnt m. E. mit ihren Deutungen (Qualität UND Quantität). Jede Geschichte bedarf folglich des Geheimnisses, was ja kein Rätselraten bedeutet, selbst wenn dies gelegentlich daraus erwachsen könnte.

Doch alles, was hier zum Besten gegeben wird, sind nur Vorschläge, deren Anwendung sich der Betroffene reiflich überlegen sollte (da wäre ich keine Ausnahme).

Die zwote Bemerkung betrifft die Zeit.

Du schreibst – sicherlich sehr bewusst – durchgängig in der Vergangenheit. Das ist in Ordnung, nur in einem Abschnitt könnte die Zeit gewechselt werden, denn eine feste Zeitenfolge gibt’s an sich im Deutschen nicht einmal innerhalb des Satzes (obwohl die einmal gewählte Zeitform i. d. R. beibehalten werden sollte). Es ist der Abschnitt über das, was heute Abend sein wird:

Heute Abend war er mit seiner Freundin verabredet …
In wörtlicher Rede störte „heute“ weniger, als im Schriftbild eines Textes, der durchgängig in der Vergangenheit spielt, verknüpft doch der normal sich wähnende Mitteleuropäer ein „Heute“ wenn schon nicht unbedingt mit dem „Hier“ in jedem Fall mit dem „Jetzt“. Heute ist immer der heutige Tag und damit gegenwärtig –

es sprengte unser begrenztes Vorstellungsvermögen, uns klarzumachen, dass „Gegenwart“ und damit „Jetzt“ auf dem Zeitstrahl bestenfalls ein Punkt ist, ohne jede Ausdehnung. Und weil dieser dimensionslose Moment – er dauert nicht mal einen Augenblick, geschweige denn ein Augenklimpern lang und ist schon auf dem Zeitstrahl vergangen und ein Stückchen vorgerückt, bevor man's überhaupt begreift. Weil wir dieses Nichts nicht greifen können, dehnen wir das Jetzt aus zur Sekunde bis hin zum Tag, je nach Bedarf: der Glückliche will, dass der Augenblick verweile und somit relativ ewig dauere, der Unglücksrabe wünscht sich, dass die ganze Scheiße endlich vorbei sei … Aber ich ufere aus –,

dass ich den Satz zumindest zu Anfang in die Gegenwart setzte, um Spannung bzw. Erwartungshaltung zu steigern:

Heute Abend [ist] er mit seiner Freundin verabredet …

Noch weiter ginge ich dann, indem ich zunächst im Indikativ bliebe, also auch im harmlosesten Fall das Futur wählte, besser aber noch in den Konjunktiv wechselte, den Du ja selbst in der würde-Konstruktion kurz anreißt:
Er hat(te) ihr noch nichts von dem Glas erzählt, aber irgendwann [wird / wäre] der Punkt erreicht […], ab dem er seine Existenz nicht länger verheimlichen k[ö]nnte. Wenn sie nun ein neues Parfüm [trüge] und wissen wollte, was er davon hielt[e]! …,
um nun aus Wunsch und Zweifel wieder in die eigentliche erzählte Zeit zurückzufallen, genaugenommen natürlich „zu bleiben“,

was für heute erst einmal genügen mag.

Schönes Wochenende wünscht der

Friedel

 
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Moin Friedel,

danke für die Kritik. Freut mich, dass dir auch diese Geschichte zusagt. Mitnichten fürchte ich das Kryptische und ich denke, künftig werde ich deutlich stärker in diese Richtung gehen und dies auch in anderen Rubriken umfassender einbauen. Nur ist das dann auch immer ein Drahtseilakt. Ich möchte es nicht so weit treiben, dass niemand mehr versteht, was ich mit der Geschichte ausdrücken möchte.
Die neue Fassung von "Hinter Glas" habe ich deswegen bisher auch etwas entzerrt und auf ungefähr doppelte Länge gebracht, um den Verlust des Geruchs etwas dramatischer darstellen zu können. Sie ist noch nicht ganz fertig, ich versuche aber, sie noch diesen Abend abzuschließen (unfertige Werke liegen mir immer quer im Magen).

EDIT: So, das Glas ist durch und ich bin's auch :D.

Lieben Gruß
Pale Man

 

Die Änderungen,

lieber Pale Man,

sind m. E. gelungen, sei es Kürzungen oder Erweiterungen (bis hin zur Erweiterung um die Marzipan-Freundin-Episode). Um für andere es nachvollziehbar zu halten, einige wenige Beispiele.

Die Änderungen beginnen ab dem Satz,

Auf dem Tisch stand ein Teller mit verschiedenen Käsesorten, ein Topf Honig, ein Schälchen Marmelade,
der fünf Tage zuvor die Aufzählung ellipsoid daher kommen ließ. Was naturgemäß auch seinen Reiz hatte. Die letzte Ellipse lautete aber
Etwas Marmelade,
was nur etwas über die geringe Menge, nun aber zudem das Gefäß benennt und somit präziser wirkt.

Ähnliches folgt mit der nächsten Verbesserung, wenn die älteren Sätze

Aber da war das Glas. / Es verwandelte alles in graue Masse und kannte auch an diesem Morgen kein Erbarmen mit ihm,
zusammengeführt und um eine Einleitung erweitert werden, während gleichzeitig die Vergöttlichung des Glases (oder wär’s das Schicksal) entfällt:
Aber als er sein Werk zum Mund führte, wurde es vom Glas berührt und verwandelte sich in graue Masse,
denn wer hätte je davon gehört, dass ein Glas sich je erbarmte oder überhaupt in religiösen, moralischen oder rechtlichen Kategorien sich (zurecht)fände?

Um meinen Vorschlag einer variablen Zeitenfolge muss ich nicht weinen, denn die Lösung

Am Abend wollte seine Freundin vorbeikommen,
ist gut!, wie auch die Änderung des Zieles vom „Behandlungszimmer“ zur Uni und ins Seminar, um schließlich doch im therapeutischen Ende erhalten zu bleiben.

Sollte die Welt vordem farbig werden, so bleibt nun abschließend Hoffnung – auf Besserung.

Die Welt musste wieder farbig werden,
schließt die alte Fassung, die neue
Er hoffte es.

Einzig eine Auffälligkeit mag ich vermerken, die durch die aktuelle Fassung mir ins Auge stach, aber erst dann, was schon vorher hätte auffallen sollen, wenn es heißt:
Also das gleiche Programm wie sonst ...,

Das Konjunktionaladverb„sonst“ hat eine andere Herkunft und Bedeutung als z. B. das Zeitadverb „immer“, wie man vielleicht an der vieldeutigen und beliebten Zusammensetzung „umsonst“ erkennen mag, während das schlichte „immer“ Dauer und zusätzlich Wiederholung meint.
In der Erweiterung um die Episode um Marzipan und Freundin leuchtet der feine Unterschied auf:
Sie war so wunderschön wie immer. […]Er wollte sie, das wusste er, jetzt noch mehr als sonst.

Gern gelesen vom Friedel,
der schon mal prophylaktisch schöne Tage diese Tage wünscht

 

Moin Friedel,

danke für das Lob. Da hat sich die Arbeit doch gelohnt :). Ich bin selbst auch deutlich zufriedener mit dieser neuen, runderen Fassung.

Dir auch gemütliche Ostertage.

Pale Man

 

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