- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Hinter Glas
Müde saß er am Frühstückstisch, den Kopf auf eine Hand gestützt. Durch das offene Küchenfenster flutete die warme Morgensonne hinein. Die Vögel hielten ihre allmorgendliche Konferenz in den Wipfeln vor dem Haus ab. Es war eine hitzige Diskussion, die vom Schnaufen der Kehrmaschine, die gerade in die Straße einbog, überlagert wurde. Irgendwo warf jemand seinen Rasenmäher an.
Auf dem Tisch stand ein Teller mit verschiedenen Käsesorten, ein Topf Honig, ein Schälchen Marmelade. Missmutig bestrich er die Brotscheibe vor sich mit Margarine und bedeckte sie mit Maasdamer. Ihm war nicht nach Süßem, er wollte etwas Herzhaftes.
Aber als er sein Werk zum Mund führte, wurde es vom Glas berührt und verwandelte sich in graue Masse. Er schmeckte das leicht säuerliche Brot, aber der Käse verkam zu einem neutralen Ding. Er spürte die glatte, feste Konsistenz, aber da war nichts Nussiges, nichts, was Würze auch nur entfernt nahe kam. Nach zwei Bissen war ihm übel und er zog den Käse ab, um etwas Salz auf die Margarine zu streuen. Wenigstens diese kleinen weißen Schätze konnten durch das Glas zu ihm dringen. Das blassgelbe, geschmacklose Häufchen ließ er achtlos auf dem Teller liegen.
Also das gleiche Programm wie sonst ...
Seufzend nahm er sich eine neue Scheibe, schüttete mit dem Löffel einen großen Klecks Marmelade darauf und verteilte ihn großzügig. Dem Etikett nach bestand die rote Masse aus Erdbeeren, aber durch das Glas kam nur die Süße, nicht das Aroma der Früchte.
Er brachte das Frühstück schnell hinter sich. Es war zu einer lästigen Pflicht geworden, wie alle anderen Mahlzeiten auch. Das Glas raubte ihm den Appetit.
Plötzlich hatte es sich wie eine Glocke über ihn gestülpt, anfangs unbemerkt. Doch als auf einmal alles angefangen hatte, auf unerklärliche Weise weniger echt zu wirken, war ihm klar geworden, dass etwas nicht stimmte.
Die Diagnose des Arztes war wenig aufbauend gewesen. Selbst mit den größten Hämmern war es der Medizin nicht gelungen, dem Glas auch nur einen Sprung beizubringen - der „Versuch einer Therapie“, mehr nicht. Nachdem nichts erreicht worden war, hatte man ihn aufgegeben und das Glas für unzerstörbar erklärt.
Am Abend wollte seine Freundin vorbeikommen. Er hatte ihr noch nichts von dem Glas erzählt. Wenn sie nun ein neues Parfüm trug und wissen wollte, was er davon hielt! Die letzten Wochen hatte er solche Situationen irgendwie umgehen können, aber ewig ließ sich sein Zustand nicht verheimlichen.
Zeit für die Uni.
Der Bus war voll und obwohl es noch früh war, hatte die Sonne das Innere bereits genug aufgeheizt, um Achselhöhlen in sprudelnde Quellen zu verwandeln. Die Luft war drückend und man musste seine ganze Kraft aufwenden, um sie in die Lungen zu befördern. Hier erwies sich das Glas wenigstens einmal als Vorteil, denn es ersparte ihm weitere Übel, die in der Buskabine umherschwebten. Jedoch konnte er nicht sagen, ob er selbst auch dazu beitrug. Das Glas machte auch ihn selbst unwirklich, fern. In letzter Zeit hatte er nach Möglichkeit andere Personen gemieden, um nicht ständig daran erinnert zu werden. Erst in der Öffentlichkeit wurde ihm bewusst, was er verloren hatte. Umso glücklicher war er, als er endlich sein Ziel erreichte und das schwitzende Gedränge verlassen konnte.
Das Seminar lenkte ihn ab. Er hatte schon spannendere Sitzungen erlebt und die Hitze war der Konzentration auch nicht förderlich. Dennoch war er ganz vertieft in den Vortrag der Dozentin. Je mehr er sich dem Stoff zuwendete, umso mehr rückte das Glas in den Hintergrund. Ja, für ein paar Minuten vergaß er es sogar. Aber als ihn später seine Kommilitonen fragten, ob er sie in die Mensa begleiten wolle, holte ihn die Erinnerung wieder ein. Er lehnte ab, sagte, er hätte Magenprobleme und um die Uhrzeit sei es ihm ohnehin zu voll. Das war zumindest nur zur Hälfte gelogen. Waren ihm Menschenansammlungen wie im Bus schon unangenehm, kam er sich in Massen verloren vor. Er suchte sich lieber ein schattiges, abgelegenes Plätzchen auf dem Campus, las etwas. Sein Magen knurrte, aber ihm fehlte die Motivation, ihn zu füllen. Später vielleicht.
Nach seinen Seminaren fiel ihm ein, dass er noch für den Abend einkaufen musste, wenn er seiner Freundin mehr als Leitungswasser anbieten wollte. Vor dem Eingang des Supermarktes hielt er inne, schaute auf die vollen Körbe und Taschen, mit denen die Leute herausströmten. Da musste er wohl durch ...
Eilig schritt er durch die Regale, griff sich eine Flasche Orangensaft, legte noch ein paar Knabbersachen dazu – schön salzig, damit er auch etwas davon hatte – und raffte noch die Dinge zusammen, die er täglich brauchte. Plötzlich blieb er stehen. Ein großes Display mit runden Plastikdosen nahm etwa die Hälfte des Gangs ein. Marzipaneier in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Ihr Anblick füllte seinen Mund mit Speichel. Marzipan war schon immer eines seiner größten Laster gewesen. Sollte er es darauf ankommen lassen? Die Furcht vor einer Enttäuschung war groß, aber das Verlangen nach diesen kleinen Köstlichkeiten stand dem nicht nach. Eine gefühlte Ewigkeit wägte er ab, bis die Lust die Oberhand gewann und eine Dose in seinen Korb wanderte.
Die Zeit war knapp, als er zu Hause ankam. Nicht einmal mehr eine Stunde. Er sprang unter die Dusche, zog sich etwas schickere Klamotten an. Noch etwas Duft? Ließ sich schlecht dosieren. Wann war es zu wenig, wann zu viel? Nur einen Hauch … wie viel war noch mal ein Hauch? Ein Spritzer? Zwei? Er verzichtete lieber ganz darauf.
Noch zwanzig Minuten – und sie hatte den Hang zur Pünktlichkeit.
Die Luft! War sie schlecht? Zumindest stickig, ja stickig. Fenster auf!
Hastig stellte er die Knabbereien auf den kleinen Tisch vor dem Fernseher, suchte noch schnell das Abendprogramm aus dem DVD-Regal.
Es klingelte.
Ihre Lippen waren so zart und weich wie sonst auch. Kleine, mit Samt überzogene Polster. Aber wieder bemerkte er mit Entsetzen, dass diese feine, einzigartige Süße nicht mehr an ihnen haftete. Etwas fehlte, war hinter dem Glas verborgen. Er versuchte, sich seinen Schreck nicht anmerken zu lassen. Wenn es seiner Freundin auffiel, sagte sie zumindest nichts. Im Wohnzimmer rümpfte sie die Nase. Ob er wahnsinnig sei, ausgerechnet dann die Fenster aufzureißen, wenn die Nachbarn grillten. Es stänke wie in einer Imbissbude. Entschuldigend schloss er die Fenster, sagte, er wäre im Nebenzimmer gewesen und hätte den Gestank auch jetzt erst bemerkt. Er empfand sich selbst nicht als sonderlich überzeugend, aber es schien ihr Erklärung genug.
An diesem Abend war er mehr auf den Film als auf sie fixiert. Manchmal vergaß er sogar kurzzeitig, dass sie überhaupt da war. Es war merkwürdig. Bisher war sie stets der Mittelpunkt seiner Welt gewesen. Als sie sich an ihn lehnte, legte er den Arm um sie, drückte die Nase in ihr volles, seidenes Haar.
Nichts.
Als hätte sich das Glas um jedes Haar gelegt und den sonst so anregenden Duft von Zimt eingeschlossen. So tief und angestrengt er auch die Luft einsog, blieb sie ohne Geruch.
Seine Freundin nahm eines der Marzipaneier aus der Schale auf dem Tisch, biss eine Hälfte ab und steckte ihm die andere in den Mund. Er kaute – und gestand sich ein, dass der Kauf ein Fehler gewesen war. Das Ei war süß, mehr aber nicht. Kein Aroma. Um nicht noch mehr dieser Dinger runterwürgen zu müssen, täuschte er Sodbrennen vor.
Ihr Atem ging schwer, während sie seinen Hals mit Küssen bedeckte. Heiß, weich, trocken. Er umfasste ihre Taille, zog sie an sich. Sie war so wunderschön wie immer. Es gab nichts an ihr, was ihm nicht gefiel. Er wollte sie, das wusste er, jetzt noch mehr als sonst. Und doch … etwas von ihr war nicht mehr da. Im Moment der Erkenntnis stieg Traurigkeit unaufhaltsam in ihm hoch. Sein Griff um ihre Taille wurde locker.
Sie musste nichts sagen – ihr Blick war beschämend genug.
Die erste Nadel tat weh, aber nur kurz. Die restlichen bemerkte er kaum noch. Als die Therapeutin ihr Werk vollendet hatte, dimmte sie das Licht und ließ ihn allein. Aus einem Lautsprecher in der Wand drangen sanfte Klänge. Er fühlte sich entspannt und gelöst. Es war ein Versuch, mehr nicht. Aber er musste wenigstens alle Möglichkeiten austesten. Vielleicht gab es eine Chance, das Glas doch noch zu durchbrechen.
Er hoffte es.