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Hinter der Theke
Wie jeden Tag nach der Uni ging ich die kleine Seitenstraße nahe der Bibliothek entlang. Zu meiner Linken befand sich eine alte Mauer, die zwischen mir und einem Park oder Ähnlichem lag. Diese war von Moos und Efeu bedeckt und kaum noch als halbwegs normale Mauer erkennbar. Zudem blockierte sie bereits ein gutes Drittel der Breite meiner Route. Zu meiner Rechten befand sich besagte Bibliothek und diverse Geschäfte, die sich aufgrund ihrer ungünstigen Lage vermutlich kaum noch über Wasser halten konnten. Ich ging vorbei an dem Musikgeschäft mit dem zerbrochenen Fenster, das seit gut 4 Monaten immer noch nicht ausgetauscht wurde, an einem unscheinbaren aber dennoch gemütlich wirkenden Café, in welchem ich nur selten Kunden sehen konnte und schließlich an einer heruntergekommenen Videothek, in welche ich mich nie traute, hinein zu gehen, weil der Besitzer Gerüchten zufolge eine kriminelle Vergangenheit und eventuell auch Gegenwart hatte.
Nachdem ich diese Geschäfte passiert habe und schon die lauten und aufdringlichen Geräusche der Fußgängerzone hörte, wurde mir etwas unwohl, da ich nun die schützende Obhut der Mauer und Häuserreihe mit kleinen Geschäften verlassen musste. Bei dem Gedanken an die Menschenmassen, die sich scheinbar orientierungslos aneinander vorbei schoben, erschien mir die Videothek noch das geringste Übel zu sein. Der Übergang von der Seitenstraße zu der Fußgängerzone fühlte sich wie ein Sprung in eine andere Zeit an, von der behaglichen Vergangenheit in die konsum- und leistungsorientierte sowie viel zu hektische Zukunft. In der Fußgängerzone angekommen, folgte ich einem Menschenstrom, der mich zu meinen Ziel führen sollte. Dieses Ziel war der einzige Grund, wieso ich mich durch diesen See der Oberflächlichkeit kämpfte. Nach etwa 100 Metern erreichte ich es und sah die grüne Aufschrift „Starbucks Coffee“. Sofort fiel mir das kleine Café der Seitenstraße ein, welches ich eigentlich bevorzugt hätte. Aber ich war schließlich nicht wegen dem guten Kaffee oder dem Internet-Zugang hier. Der Grund meines regelmäßigen Erscheinens befand sich hinter der Theke.
Seit einigen Monaten war eine neue Angestellte beschäftigt. Dreimal die Woche erschien sie zu ihrer Arbeit, am Montag, Mittwoch und Freitag. Also entschloss ich mich, ebenfalls an diesen Tagen zu kommen. Ihr Namensschild verriet mir, dass sie wohl Nina heißen musste. Noch nie hatte ich etwas Vergleichbares gesehen. Ihre dunklen, fast schwarzen, Haare fielen in leichten Wellen bis unter ihre Schultern. Ihre ebenfalls dunklen Augen erweckten in mir Freude und Furcht zu gleich. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals eine Frau kennenzulernen, die auch nur ansatzweise mit ihr vergleichbar wäre. Obwohl ich sie nicht wirklich kannte, glaubte ich, dass sie so nahe wie kein anderer Mensch an die Perfektion kam. Über ihren Charakter wusste ich nur das, was ich von Gesprächen mit ihren Kollegen auffangen konnte. Doch dies reichte, um in mir die Fantasie zu wecken, sie sei vollkommen. Ihre Interessen deckten sich scheinbar weitgehend mit meinen. Elvis, klassische Filme und gute Bücher waren Themen, über welche sie oft sprach.
Noch vor der Tür stehend spielte ich das Szenario in meinen Gedanken nach. Mit zittriger Hand würde ich die Tür öffnen und den Geruch von massenproduzierten Kaffee wahrnehmen. Daraufhin würde ich Nina sehen und ihr unverwechselbares Lächeln, das mir jedes mal den Atem stocken ließ. Ich würde auf sie hinzugehen und dieses mal mehr als nur ein flüchtiges „Hallo“ herausbringen. Doch die ersten Zweifel ließen nicht lange auf sich warten: „Hat sie überhaupt Interesse an einer Person wie mir? Was werde ich ihr sagen? Weiß sie, dass ich existiere und extra ihretwegen dreimal pro Woche komme und einen überteuerten Kaffee kaufe?“
Trotz dieser Zweifel nahm ich allen Mut zusammen und öffnete, wie vorhergesagt, mit zittriger Hand die Tür. Ich war fest entschlossen, wenigstens ein kurzes Gespräch mit ihr zu führen. Doch als ich zu der Theke sah, war sie nicht da.