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Hinter der grünen Tür
„Atropos, Liebes?“, fragte mein Vater erneut, nahm einen Bissen von seiner Gabel und wartete auf eine Antwort.
„Nenn mich nicht so“, zischte ich durch meine aufeinandergepressten Zähne und rührte auf meinem Teller herum.
Meine beiden jüngeren Schwestern verstummten und sahen erst mich an, dann betreten zu meinem Vater. Der Blick, den sie wechselten, sprach Bände. Mein Vater legte das Besteck beiseite und faltete die Hände. Sie zeugten von jahrelanger, harter Arbeit. Obwohl seine Stimme ruhig klang, zeigte die tiefe Falte auf seiner Stirn die Mischung aus Besorgnis und Wut.
„Du kannst dein Erbe nicht länger verleugnen. Es ist Zeit, es anzunehmen.“
Da ich weiterhin starr mein Essen fixierte, sprach er nun zu meinen Schwestern.
„Es ist eine Ehre.“
Alle nickten und aßen beruhigt weiter. Als wäre alles gesagt.
„Und was genau ist die Ehre?“, löste ich mich aus meiner Starre und hob herausfordernd den Kopf.
„Was meinst du?“, fragte Klotho und schaute mich verständnislos an.
„Halt dich da raus, Klotho!“ Aber als meine andere Schwester Lachesis beruhigend ihre Hand auf meine legen wollte, war ich nicht mehr zu stoppen. „Ihr beide! Nur weil ihr nicht mal einen Gedanken daran verschwendet habt, woraus dieses Erbe besteht, muss ich lange nicht das selbe tun!“
„Aber ohne dich geht es nicht mehr lange gut! Wir beide können deine Aufgabe nicht ewig übernehmen. So war es nicht vorhergesagt! Wir müssen zusammenhalten, denn wir kommen gegen das Schicksal nicht an“, rief Lachesis und ergriff meine Hand nun doch. Ihre Finger packten fest zu. „Wir drei“, lächelte sie in die Runde.
Klotho sah mich fragend an, wartete auf meine Zustimmung.
„Ihr habt es doch bisher gut alleine hinbekommen. Warum könnt ihr mich nicht raushalten …“, fragte ich zum wahrscheinlich tausendsten Mal. Und obwohl ich die Antwort kannte, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.
„Das Schicksal will es so. Drei Schwestern“, sagte mein Vater.
Der Satz klang endgültig und das war er auch. Denn war das Los einmal gezogen, konnte man es nicht mehr abwenden. Ich sah auf unsere verschränkten Hände und musste gegen die Tränen kämpfen. Schicksal. Ein einziges Wort, das mein gesamtes Leben prägte. Doch so war es nicht immer gewesen. Meine Kindheit lebte von Hoffnungen, Träumen von einem freien Leben, losgelöst von meiner Familie. Träume, die sich niemals werden erfüllen können, das wusste ich jetzt. Denn meine Schwestern wurden geboren und es kam der eine Tag, an dem mein Leben in einen Käfig gesperrt wurde. Es war der Tag, an dem wir unsere Aufgabe erhielten. Unser Erbe, wie es meine Familie so schön sagte. Als das Orakel erschien, ich geblendet war von dieser Gestalt aus Licht und Verheißung und die Zeit für einen endlosen Moment stehenblieb, spürte ich die Veränderung. Die Luft sirrte, als sie die sanfte Stimme trug, die uns verkündete, dass wir die Nächsten sein würden. Erst verstand ich nicht, was sie uns sagen wollte. Die Worte schienen auf eine Wand zu treffen und abzuprallen, sodass ich sie nicht hören konnte. Wie in Trance stand ich dort bis das Orakel verschwand und sich die Sätze langsam ihren Weg in meinen Verstand bahnten. Wir wurden erwählt, hieß es. Als die Moiren, die Schicksalsgöttinnen. Drei Schwestern, deren eigenes Schicksal es war, über das Schicksal Anderer zu richten. Über den Tod zu richten. Als meine Schwestern alt genug waren, nahmen sie ihre Pflicht sofort an, samt den Namen, die mit der Aufgabe weitergegeben wurden. Sie stellten die Voraussagung des Orakels nie infrage. Ihnen fiel es leicht, denn ihr Teil war einfach. Spinnen und messen sollten sie jeden einzelnen Lebensfaden. Doch ich konnte nicht ein Teil davon sein, von all dem. Denn waren die Fäden einmal gesponnen, waren ihr Ende und das des Lebens, welches daran hing, bereits beschlossen. Sie mussten zerschnitten werden. Mir wurde übel. Wieso ich?, fragte ich mich immer, immer wieder. Wieso wurde ausgerechnet ich erwählt, als die Eine, die über das Ende aller entschied? Wie könnte ich diese Bürde ertragen - die Last, wenn irgendwann der Tag kam, an dem ich über das Leben eines jeden würde richten müssen, auch über das meines Vaters? Wie könnte ich je mit der Schuld leben ... . Mir wurde schwarz vor Augen. Nie wollte ich in dieses Leben gezwängt werden, aus dem ich nie wieder würde herauskommen können. Doch war der Pakt einmal besiegelt, waren wir gefangen, bis Andere an unsere Stelle treten sollten. Meine Stimme klang wie aus weiter Ferne.
„Darf ich aufstehen?“, fragte ich heiser, doch war schon zur Tür hinaus.
Ich hörte noch, wie mein Vater erschöpft etwas murmelte, aber ich konnte es nicht mehr verstehen. Draußen lehnte ich mich gegen die Tür und hätte am liebsten geschrien. Ich trat gegen einen großen Stein und fluchte, als der Schmerz mein Bein hochschoss und spürte nun, wie meine Verzweiflung brach und tiefe Schluchzer aus mir sprudelten. Und so stand ich da und weinte. Um mein eigenes Leben, das ich nie würde leben können, und die Verantwortung, die ich nie haben wollte. Weinte vor blinder Wut gegen die Welt, die mich zu erdrücken drohte.
In der Nacht träumte ich. Es war derselbe Traum, der mich immer wieder überkam. Nachts, wenn ich am verwundbarsten war, krochen seine Finger lautlos zu mir hinauf. Lockten mich zu sich heran, um dann fest zuzupacken. Jede Nacht stand ich in dem grau gestrichenen Flur und nahm den ratternden Ton hinter einer der Türen wahr. Ich lehnte mich sachte mit dem Ohr an das grün lackierte Holz und lauschte den Stimmen.
„Nein, nein, nicht da hinlegen, Klotho. Und wo ist denn nun die Schere?“, schimpfte Lachesis und ließ scheppernd etwas fallen.
Klotho schnaufte und das stetige Klappern verstummte für einen Moment.
„Du bist einfach zu langsam. Das Messen der Fäden ist doch lange nicht so schwer wie das Spinnen!“
„Wie bitte?!“, rief Lachesis wiederum. „Du bist ja nur so schnell mit deiner Spinnerei, weil mein Messen wesentlich wichtiger ist und auch mehr Zeit braucht.“
Es folgte Stille und ich presste mein Ohr fester an das Holz. Als Lachesis weitersprach, klang ihre Stimme leise und brüchig.
„Es ist einfach nicht richtig ohne sie …“
Mein Körper versteifte sich. Ich löste mich und wollte weitergehen, wie jedes Mal.
Doch etwas war anders. Plötzlich nahm ich das scharfe Zischen einer Schere wahr. Sie rief nach mir, flüsterte meinen Namen. Erinnerte mich daran, dass sie auf mich wartete. Das Metall rauschte durch die Luft und die Welt hielt ihren Atem für einen Moment an. Es hatte etwas Endgültiges. Als sie zuschnappte, stellten sich mit einem Mal alle feinen Härchen an meinem Körper auf und ich rannte.
Am nächsten Morgen fiel es mir schwer, den Traum, der sich mit aller Macht an mich klammerte, abzuschütteln. Ich ignorierte das Tuscheln meiner Schwestern, das sofort verstummte, wenn ich den Raum betrat. Aber vor allem ignorierte ich die Sorgenfalten auf der Stirn meines Vaters, die sich seit langem dort eingegraben hatten. Als ich gefrühstückt und mich fertig gemacht hatte, ging ich zur Tür hinaus. Ich musste raus. Einfach weg aus diesem Haus, das ich schon seit zu langer Zeit nicht mehr Zuhause nennen konnte, das mich mit seinen Wänden aus Erwartungen erdrückte, um die ich nie gebeten hatte. Und auch ohne mich umzudrehen wusste ich, dass Klotho und Lachesis bereits in dem Zimmer saßen. Hinter der grünen Tür, die mir jede Nacht in meinen Träumen erschien. Meine Schwestern hatten von einer alten Frau gesprochen, das hatte ich noch gehört. Kurz bevor ich hinausging, hatte ich diese nebensächliche Information gehört, die sich dennoch tief in mein Gedächtnis einprägte. Ich schlenderte hin und her, doch innerlich wusste ich, dass ich zu dem Ort wollte. Und so stand ich nun dort vor einem weiß gestrichenen Zaun. Sah der alten Frau zu, die erschöpft von der Arbeit ihren Korb abstellte und sich auf einen Baumstumpf fallen ließ. Es wird nicht mehr lang dauern, dachte ich und spürte wieder diesen Kloß in meinem Hals aufkommen. Vor meinem inneren Auge sah ich die Tür von gestern Abend.
Klotho, an ihrem Spinnrad, wie sich das Rad stetig drehte und sie einen Faden zog, der so zart war, dass er davonflöge, würde man ihn nicht festhalten. Der Faden war lang, zeugte von den vielen Jahren, die gelebt wurden. Die alte Frau stützte die Hände auf die Knie und zog sich mühsam wieder hoch. Lachesis nahm den Faden und maß ihn. Sah das Leben, das sich in ihm fand. Die Hoffnungen und Träume, die sich erfüllt hatten und diejenigen, die unerfüllt und vergessen bleiben würden.
Ich hatte die Schritte hinter mir nicht bemerkt. Dass da noch jemand war und die alte Frau beobachtete. Und so erschrak ich, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte. Es waren dieselben schlanken Finger von damals. Mir war schon lange bewusst, dass das Orakel ungeduldig wartete - forderte, dass ich mich fügen würde. Der Kampf tobte in mir, versuchte immer noch, abzublocken, doch nun war der Tag gekommen. Wo mir die Gestalt damals sanft und verständnisvoll erschien, stand sie nun hinter mir und packte mich fest und entschlossen an den eingezogenen Schultern. Zwang meinen sich windenden Körper dazu, sich dem Schicksal zu fügen. Die Tränen strömten mir mittlerweile in Bächen über das Gesicht, doch ich hatte keine Kraft mehr, sie aufzuhalten. Ich spürte, wie mein Wille brach - dass ich nicht mehr kämpfen konnte. Das kühle Metall der Schere war wie ein Schock auf meiner heißen Haut, als ich sie zitternd und ohne hinunterzusehen in die Finger nahm. Aus dem Augenwinkel nahm ich Lachesis und Klotho wahr, die ebenfalls gekommen waren. Sie standen dicht hinter mir und sahen mich mit steinerner Mine an. Doch ich konnte ihnen nicht ins Gesicht sehen. Eine von ihnen legte etwas in meine Handfläche. Nun senkte sich mein Blick und fing sich unmittelbar in dem satten, verführerischen Gold des hauchdünnen Fadens. Er wickelte sich um meine Finger und wand sich immer wieder um die eigene Achse, als wolle er sich in sich selbst verstecken. Doch ich wusste, was meine Aufgabe war.
Ich blickte wieder hoch, zu der alten Frau, davorn im hohen Gras. Eine Stimme rief aus weiter Ferne nach ihr, doch sie drehte sich nicht um. Sie stand einfach da, die Hände in die Hüfte gestemmt und blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne. Die letzten Strahlen strichen sanft über ihr Gesicht und ihre Lippen verzogen sich langsam zu einem seligen Lächeln. Und mit einem Mal war es da. Das Zischen der Schere, ganz vorn in meinem Kopf. Für immer dort eingebrannt. Und das Auftreffen des Metalls auf dem harten Stein, als meine steifen Finger die Schere nicht mehr halten konnten. Ich blickte mich nicht mehr um, als ich ging. Stapfte einfach mit starren Schritten in irgendeine Richtung und warf keinen Blick mehr auf die alte Frau im Gras, die da lag wie eine Marionette, der ich die Fäden durchgeschnitten hatte.