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Hinter den Worten
Peinlich. Was ist die Steigerung von peinlich? Zum in den Boden versinken peinlich? Oder einfach nur abgrundtief peinlich? Manchmal liegen wir nachts wach und denken über die Dinge nach, die uns bewegen, Dinge die uns peinlich sind. Das Glas Rotwein, was wir uns in aller Öffentlichkeit überschütten, der falsche Satz zum falschen Zeitpunkt, den Namen eines wichtigen Kunden vergessen, beim referieren den roten Faden verloren und verdammt noch mal nicht mehr wiedergefunden.
Doch manches trifft uns mitten ins Herz, gegen manche Ereignisse ist ein Glas Rotwein wahrlich nur ein Klacks, ein vergessener Name nur eine Fußnote, gegen manches ist der verlorene rote Faden nur die Nuance einer Peinlichkeit – und allzu oft liegt die Ursache für unsere Fehler in unseren Träumen und Wünschen verborgen – manchmal ist unser Waterloo vorprogrammiert.
Es war einer jener Hundstage. Es regnete, die Temperatur war deutlich unter Null gefallen, auf den Strassen bildete sich eben jener gefrierende Schnee- und Wassermatsch, der mit Sicherheit zu einem Blechschaden nach dem anderen am laufenden Band führt. Der Angestellte zog seinen Mantel mit der linken fester zu, in der rechten seine braune Ledertasche. In der Tasche seine Unterlagen, im Schädel die Leere, die wahnsinnig macht. Seine Gedanken kreisten um die Leere. War das nun das Leben? Alle Träume verloren oder vielleicht gar weggeworfen, verpasst, um die entscheidenden Chancen betrogen? Ein guter Job, das schon, zwei Kinder, auch, eine gute und liebe Frau an seiner Seite, ja auch das – dennoch: eine schier unendliche Leere, die ihn zu umgeben schien. Wo blieb nur der Sinn? Das Ziel?
Mit sechzehn hatte er geglaubt, es lohne sich zu sterben dafür, einmal ein Mädchen zu küssen, er bekam, was er wollte. Dann wünschte er sich, mit einem Mädchen zu schlafen. Es gelang. Er wünschte sich beruflichen Erfolg, wünschte sich Kinder und Familie – alle diese Wünsche gingen in Erfüllung. Und nun? Nun war er niemals am Ziel angekommen. Er war seiner Familie nicht nahe. Der Alltag hatte ihn und seine Frau auseinandergelebt. Seine Kinder. Seine Kinder nahmen Abstand von ihm, sie brauchten ihn nicht. Wer brauchte ihn schon? Er selbst konnte sich diese Frage nicht beantworten. Der Angestellte atmete durch. Seine Gedanken kreisten um das junge Mädchen in der Nachbarschaft. Sie mochte wohl 18, 19 Jahre alt sein. Wie gerne wäre er in ihrem Alter, würde noch einmal von vorne anfangen, sie an sich reißen, mit ihr seine Jugend ausleben und je näher er dem Gedanken kann wie es wohl sein mochte, mit diesem Mädchen zu schlafen, wie ein Tier über sie herzufallen, je näher er diesem Gedanken kam, desto mehr schämte er sich vor sich selbst. Dennoch, der Gedanke wollte ihn nicht loslassen. Und da waren noch mehr, mehr Gedanken an Dinge, für die er sich schämte und die ihn nicht loslassen wollten.
Und so lief er durch die Strasse auf seine Wohnung zu, wurde nass und es begann ihn zu frieren, von außen und innen. Es schüttelte ihn kurz, als die Kälte durch sein Genick kroch und es schüttelte ihn noch einmal und stärker, als sie durch seine Seele kroch, kurz, kalt. Auf der Strasse lag Papier, mit dem Fuß schob er es verächtlich beiseite. Wie praktisch, das nasse, schmutzige Stück Papier, das war wohl noch erbärmlicher als er selbst – seine Chance Verachtung zu fühlen, und sei es nur gegenüber so etwas banalem wie schmutzigem Papier. Er hielt kurz inne, war wohl Papier, genauer noch ein Brief, er hob ihn auf, klebrig, nass... doch irgendwas fesselte ihn. Es sah nicht nach einer Rechnung aus, kein Werbebrief, etwas persönliches, die Schrift einer jungen Frau zeichnete sich auf dem Umschlag ab, zumindest auf dem, was vom Umschlag übrig geblieben war. Die Schrift des Mädchens aus der Nachbarschaft? Er lies den Brief in seine Tasche gleiten. Er konnte ihn nachher noch wegwerfen, wenn er ihn gelesen hatte. Wieder schämte er sich ob seiner selbst, aber wenn schon, es spielte ohnehin keine Rolle – er hatte das Gefühl, nicht tiefer sinken zu können irgendwie, was konnte es dann schon für eine Rolle spielen, im Dreck zu wühlen und anderer Leute Gedanken zu lesen. Als er das Haus betrat und in seinen Alltag eintauchte ging der Brief zunächst verloren, in seinen Gedanken und seiner Tasche.
Der nächste Arbeitstag wäre einer wie viele gewesen, hätte der Angestellte nicht in seiner Tasche gewühlt, ein Formular gesucht und den Brief gefunden. Ah ja, der Brief?! Erst wollte er ihn achtlos in den Mülleimer werfen... doch zwei Dinge hinderten ihn daran. Die Frage, was sich jemand denken würde, der eben diesen Brief in seinem Papierkorb finden sollte, abgesehen von der Frage, ob sich jemand für diesen seinen Papierkorb interessieren würde. Noch mehr jedoch hinderte ihn die Neugier die ihn beim Anblick des Briefs mit der Schrift eines Mädchens überkam; war ein Voyeur? Keiner sah ihm über die Schulter. Er öffnete den Brief und begann zu lesen.
„Du erhältst diesen Brief plötzlich und unerwartet. Und er hat nur einen einzigen Inhalt. Ich muss dir schreiben, ich liebe dich! Ich liebe dich schon geraume Zeit, ich liebe dich. Du kennst mich nicht, vielleicht weißt du, wer ich bin, doch du kennst mich nicht. Ob ich dich kenne? Ich weiß es nicht, doch ich liebe dich! Ich wünsche mir, dass du mir schreibst, doch nur, wenn du mich kennen lernen möchtest. Maile mir, ich liebe dich.“
Kein Absender, kein Adressat. Nur eine Mailadresse. Der Angestellte kannte das, er selbst hatte ein Mailaccount, dienstlich wohl, aber immerhin. Er lächelte, ein Liebesbrief. Ein junges Ding war verliebt, bereit, sich hinzugeben mit all ihrer Jugend, ihren frischen Körper und wenn für die erste Liebe vielleicht gar ihre Seele. Es war kein Brief der an ihn gerichtet war, dennoch: er versprach die Erfüllung seiner Wünsche, kein Brief für ihn, doch in seinen Händen. Der Brief landete erneut in seiner Tasche. Diesmal ging er jedoch nicht ohne weiteres verloren. Er haftete in seinen Gedanken und grub einen Wunsch frei, der vorher noch in der Chancenlosigkeit eingebuddelt war.
Es war Irrsinn – konnte nur ins Unglück führen. Aber es waren seine Wünsche. Der Angestellte lag wach in der Nacht. Wälzte sich von einer Seite auf die andere. Seine Gedanken waren erfüllt von der Möglichkeit, Jahre in die Vergangenheit zu reisen und seine verlorene Jugend nachzuholen. Er würde seine trostlose Gegenwart zurücklassen und Trost finden... in den Armen eines Mädchens? Nein, welch ein Unsinn?! Welches Mädchen wollte wohl einen im verwelken begriffenen grauen Mann?
Und dennoch antwortete der Angestellte auf den Brief mit einer Mail. Er hatte sich sogar eine anonyme Mailadresse besorgt. Mit feuchten Händen saß er im Büro und wartete bis die letzten nach Hause gingen. Dann war es soweit. Die Worte flossen ihm einfach davon.
„Es tut mir leid, unendlich leid – aber ich habe deinen Brief gelesen. Habe ihn auf der Strasse gefunden, den Liebesbrief. Er ist sicher nicht an mich gerichtet, aber in meine Hände gefallen und er ist so unendlich bewegend. Ich wünschte mir, er würde mir gelten und ich wünsche dir, dass dein Traum in Erfüllung geht.“
Es dauerte zwei Tage, dann erreichte den Angestellten eine Antwort.
„Manchmal ist es verrückt – was man niemals mitteilen will sucht seinen Weg, was man als Papier nicht verlieren würde, geht als Brief verloren. Es ist mir peinlich und unangenehm. Der Brief galt einem Jungen – aber ich denke, er interessiert sich nicht für den Brief, weniger noch für mich. Bitte wirf ihn weg; er hat keinen Wert“
Hier wäre es an der Zeit gewesen genau das zu tun, was das Mädchen ihm riet, doch der Angestellte konnte nicht von ihr ablassen.
„Ich kann ihn nicht wegwerfen, auch wenn er keinem mehr gilt, er ist so schön. Wer bist du?“
„Danke, das ist lieb. Vielleicht gilt er ja einmal dir J?. Wer ich bin ist doch egal. Was ich bin spielt wohl eher eine Rolle. Wahrscheinlich bin ich ein kleines dummes verliebtes Mädchen. Gelangweilt. Von meinen Eltern und der Welt genervt, allein.“
„Ich glaube nicht, dass er mir jeweils gelten würde.“
„Warum nicht? Was ist mit dir“
„Im Vergleich zu dir, bin ich ein alter Mann, denke ich.“
„Glaubst du, es spielt eine Rolle?“
Die letzte Mail legte einen Schalter um. Der Angestellte witterte eine Chance, spürte, dass ein kein Zurück mehr gab. Geduld, er brauchte unbedingt Geduld. Wie ein Raubtier formulierte er seine nächsten Mails. Bedacht, ruhig, langsam, kurz, aber immer mit dem Ansatzpunkt, das Spiel noch weiter zu treiben. Sorgsam vermied er, seine Identität preiszugeben. Ansonsten beschrieb er sein tristes Dasein in voller Gänze. Seine Frau, die ohne Liebe neben ihm vor sich hin lebte. Seine Tochter, sein Sohn, die den Bezug zu ihm verloren hatten. Und je mehr er schilderte, desto inniger wurden die Gespräche mit dem Mädchen. Sie sprach über ihre Träume, Wünsche und Ängste und er über seine verlorenen Träume und vergangenen Wünsche.
Der Austausch fand täglich statt. Mal war er philosophisch, mal lustig, mal kurz, mal länger. Und dennoch, sie waren nicht mehr als Worte füreinander. Sie waren sich so nahe, dennoch so nahe.
„Ich möchte dich sehen!“ schrieb sie ihm. „Ich weiß nicht, ob das gut ist. Ich bin nicht gut für dich. Ich könnte dich jetzt nicht mehr als Mädchen sehen; nach alldem bist du eine Frau für mich... es wäre nicht gut!“ antwortete er.
„Doch,“ schrieb sie, „es wäre gut, gerade wenn du mich als Frau sähest.“
Die Falle schnappte zu. Es folgten noch einige Mails hin und her. Doch die Sachlage war eindeutig. Sie wollte ihn sehen, wer auch immer er war und sie würde ihm geben, was er sich wünschte.
„Wir treffen und im Hotel. Ich warte dort auf dich. Bitte! Ich will es so.“ schrieb sie ihm in einer der letzten Mails und er lies sich treiben.
Die Sonne schien hell an jenem Morgen. Er ging nicht zur Arbeit, sie würde die Schule schwänzen. Sein Herz schlug höher, er fuhr los und erreichte nach etwa einer Stunde das vereinbarte Hotel. Heiß und kalt lief es ihm über den Rücken. Wenigstens einmal noch in seinem Leben würde er Erfüllung finden, wenigstens einmal noch.
Er betrat das Hotel, fragte nach dem Zimmer – sie hatten einen erfundenen Namen vereinbart unter dem sie einchecken würden. Sie war schon da. Sie war da!
Langsam und bedächtig ging er die Treppe hinauf, verzichtete auf den Fahrstuhl. Er war aufgeregt wie ein Schuljunge und erregt dazu. Dann betrat er das Zimmer.
Da stand es endlich, ein junges unverbrauchtes Mädchen, so wie er es sich tief in seinem Innern gewünscht hatte. Jung, hübsch, elektrisierend. Er hatte das Gefühl, dass seine Energie wieder da war, das Leben kehrte zu ihm zurück. Er würde mit ihr schlafen, so intensiv, wie er schon lange nicht mehr mit einer Frau geschlafen hatte. Er würde sie küssen, überall, jedes Körperteil würde er einsaugen und er würde sich wieder jung fühlen, er hatte wieder ein Ziel, er war wieder dabei. Und dann begriff er, er begriff wie sehr er gescheitert war. Er begriff es in einer einzigen Sekunde, jener, in welcher er seiner eigenen Tochter in die Augen blickte.