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Hinter den Spiegeln
Anna lehnte sich zurück und schaute in die Sonne. Tief atmete sie die kalte Luft ein, konnte die frische Erde riechen und den Duft der Schneeglöckchen, die sich allmählich aus der Erde hervorwagten. Einen Moment lang gelang es Anna, nicht zu blinzeln.
„Nicht“, sagte Sam und legte ihr eine Hand auf die Schulter, „Das ist nicht gut für deine Augen. Das weißt du doch.“
Anna wandte den Blick vom Himmel ab und betrachtete ihren inzwischen erwachsenen Sohn, ohne dass das Lächeln von ihrem Gesicht wich. Und Sam erwiderte es. Wie er es immer tat.
Inzwischen konnte sie eigentlich kaum noch anders, als zu lächeln. vielleicht brauchte sie es, um den Menschen um sich herum zu zeigen, wie dankbar sie doch war für alles, was sie taten. Und vielleicht, um dahinter den Kummer zu verbergen, den niemand außer sie selbst kannte. Und wahrscheinlich brauchte es auch Sam, damit er es erwidern konnte, damit er so tun konnte, als wäre alles in Ordnung.
„Magst du was trinken?“, fragte Sam. „Wie wär’s mit Orangensaft?“
Sie nickte.
„Bin gleich wieder da.“
Außer ihr und Sam war keiner im Garten als der alte Mann, der wie immer auf der Bank am Teich saß. Die Tüte mit altem Brot hielt er eisern umklammert, als würde jemand sie ihm wegnehmen wollen. Misstrauisch beäugte er Anna, dann wandte er den Blick ab. Sie interessierte ihn nicht, niemand interessierte ihn. Er verbrachte nur jeden einzelnen Tag allein auf seiner Bank, auch im Winter, wenn es minus zehn Grad hatte und schneite. Er würde es so lange tun, bis er das Brot an die Enten verfüttert hatte. Doch hier gab es keine Enten, hier würde es nie welche geben, da der Teich zu klein war. Zu gern wäre Anna zu ihm gegangen und hätte es ihm gesagt.
„Hier.“ Sam hielt ihr das Glas hin.
Anna nickte und nahm einen Schluck, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Neunzehn Jahre alt war er. Und er sah gut aus. Er würde bald heiraten, Elena hieß sie. Ein nettes Mädchen, er hatte sie schon mal mitgebracht.
Aber würde er sie selbst dann vergessen?
„Ich vergesse Dich nicht, Mama.“, flüsterte er und legte ihr beruhigend eine Hand auf den Schoß, als wäre sie eine alte, verwirrte Frau. Und auch wenn Anna noch nicht einmal fünfzig war, begann sie immer mehr, sich so zu fühlen.
Sie glaubte nicht an sein Versprechen. Vielleicht, weil sie ihm nicht glauben wollte, weil sie das alles hier insgeheim nicht wollte. Er würde nicht ewig da bleiben, nur um mit ihr auf der Terrasse des Heims zu sitzen, Orangensaft zu trinken und sie durch den kleinen Park spazieren zu fahren. Er würde gehen, und das war gut so. Er würde seine Vergangenheit zurücklassen, und damit auch sie. Er würde das schaffen, was sie niemals mehr schaffen würde - den Schmerz zurücklassen, die Sorgen, die schlaflosen Nächte.
„Ich muss gehen“, meinte Sam und stand langsam auf. Er hatte keine Ahnung, was diese Worte für Anna bedeuteten. Dass sie diese Worte herbeisehnte und zugleich mehr als alles andere fürchtete. „Soll ich dich reinbringen?“
Sie schüttelte den Kopf. Nein, nicht ins Zimmer. Noch nicht. Noch wollte sie hier bleiben.
„Ich gehe jetzt“, wiederholte er, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf.
Ja, geh., hätte Anna am liebsten gesagt. Geh und komm nicht zurück.
Doch sie nickte nur. Und lächelte.
„Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“
Anna schüttelte den Kopf.
„Zur Not einfach klingeln.“
Anna nickte.
„Bis morgen.“ Damit schloss Frau Seifert die Tür.
Es war das gleiche wie jeden Abend. Das gleiche Frage-und-Antwort-Spielchen, das gleiche „Bis morgen!“. Fast hätte Anna in der Pflegerin eine Freundin gesehen, doch eine Freundin wäre für die Nacht dageblieben und nicht um Punkt acht Uhr gegangen.
Sie fuhr ihren Rollstuhl zum Spiegel, der vom Boden bis zur Decke ging. Sein Rahmen war rot mit silbernen Rosenblüten – wunderschön, wie sie fand.
Sam hatte ihn ihr zum Geburtstag geschenkt, kurz nachdem sie ins Heim gekommen war. Noch immer sah der Spiegel sehr neu aus und unagetastet, doch irgendetwas hatte sich verändert, das spürte Anna. Denn seit einiger Zeit ging von ihm etwas Magisches aus, eine gewisse Lebendigkeit, die sie anzog wie ein Magnet und sie nicht mehr losließ.
Seitdem sie diese Kraft spüren konnte, stellte sie sich immer wieder Fragen, die sie Nachts nicht mehr schlafen ließen. Was waren Spiegel? Waren es bloß Dinge, die sich eitle Frauen ins Zimmer hängten, um sich selbst zu bewundern? Zeigten sie einem wirklich nur die äußere Hülle, an die man gebunden war, oder waren sie mehr?
Konnten sie vielleicht ganz Neues zeigen, außerhalb von allem, was sie kannte?
Vor einer Woche hatte Anna den Spiegel extra von Sam abnehmen lassen, um einen Blick hinter dahinter zu werfen. Aber dort war nur eine strahlend weiße Wand gewesen, und fast hätte sie bei dem Anblick geweint. Sie wusste selbst nicht, was sie genau hatte vorfinden wollen, etwa ein großes Tor in eine andere Welt, das nur auf sie gewartet hatte.
Doch sie hatte sie gesehen, die andere Welt. Daran glaubte sie fest, oder besser: Sie versuchte, daran zu Glauben.
Anna streckte langsam den Arm aus, bis ihre Finger den Spiegel berührten und über die glatte Oberfläche strichen. Er war kalt. Leblos. Warum?
Ihr Blick wanderte durch den Raum und fiel auf die Fotos, die auf der schmalen, hölzernen Kommode aufgestellt waren – eines der wenigen persönliche Dinge, die sie offen für ihre Besucher preisgab. Sie nahm eines davon auf den Schoß und legte die Hände darum, um es zu betrachten.
James.
In England hatten sie sich kennengelernt, sie eine junge Touristin, er Kellner in einem Restaurant. Sein Lächeln und sein Akzent hatten sie fasziniert, und noch heute sah sie ihn klar vor sich, so, als wäre er hier. Die Hochzeit war in London gewesen, nach einiger Zeit waren sie dann nach Deutschland gegangen. Anna hatte zwei Kinder bekommen, und sie und James waren so glücklich gewesen wie nie zuvor.
Dann der Unfall.
Er war Schuld, das konnte sie nicht vergessen.
Er allein. Das Lenkrad verrissen.
Er hatte getrunken, das wusste sie.
Marisol.
Genauso wie du, Anna., hatten sie immer gesagt.
Und erst jetzt war ihr klar, wie Recht sie immer gehabt hatten.
Denn Marisol hatte nie gelogen.
Jedes Wort war die Wahrheit gewesen, jede Geschichte, jeder Name, jede Träne.
Und sie hatte ihr nicht glauben wollen, hatte es auf ihre Fantasie geschoben.
Hatte nicht verstanden, was Spiegel sein konnten.
Es tat ihr so Leid.
Sam.
Der letzte, der ihr geblieben war.
Es war unmöglich für ihn, sie zu ersetzen.
Doch er würde als einziger von ihnen allen weitergehen.
Und das war es, was ihr einen gewissen inneren Frieden schenkte.
Sie hatte begonnen zu weinen, aber sie wollte nicht weinen. Rasch stellte sie das Bild wieder an seinen alten Platz und wischte die Tränen ab, als würde jeden Moment eine Pflegerin hereinkommen. Aber es kam um diese Zeit keine Pflegerin.
Ein Klirren, und Anna zuckte erschrocken zusammen.
Als sie sich umdrehte, lag die Vase am Boden, zerbrochen. Die Sonnenblumen lagen am Boden, eine Pfütze auf den grauen Fliesen. So hatte alles angefangen, ganz genau so. Anna sah sich hektisch um. Jemand beobachtete sie, das spürte sie ganz deutlich. Aber da war niemand, der sie hätte beobachten können, zumindetst nicht sichtbar. Sie fuhr zum Spiegel und sah hinein. Da war etwas, jemand, der sie anstarrte. Doch Anna vermochte ihn nicht zu erkennen, sie sah nur sich selbst und das Zimmer um sie herum. Ihre Hände krallten sich zitternd am Rollstuhl fest, ihr Atem ging stoßweise und ihr Herz pochte so laut, dass sie den Wiederhall im ganzen Haus zu hören glaubte.
Da war sie - sie fühlte sie klar und deutlich, die Magie, die Anziehungskraft des Spiegels ihr gegenüber. Anna hörte eine Stimme vor sich, konnte aber nicht verstehen, was sie sagte.
"Wer ist da?", rief sie. "Wer ist da?!"
Sie wusste, wer da war. Sie wusste wieder, was Spiegel waren.
Und ganz plötzlich wurde es schwarz um sie herum.
Anna schrie, sie wollte kein Schwarz.
Irgendwann sah sie Licht.
„Warum konnte ich nicht zurück?“, fragte Anna leise. Ihre Stimme klang hell und schön wie der Wind an einem Frühlingstag, und sie genoss es, sich selbst hören zu dürfen.
„Du bist doch zurück“, erwiderte Myron. Nach einer Weile erklärte er: „Über manches entscheidet allein unser Herz. Und das hat es bei dir getan.“
Sie sagte nichts, ihr Alltagslächeln war verschwunden. Es war ersetzt worden durch etwas Lebendiges in ihr.
"Es war der Spiegel.", meinte sie überzeugt.
"Spiegel sind Wege, Anna, nichts weiter. Ob wir diese Wege betreten, entscheidet die Kraft, sie uns leitet und tief in uns verborgen liegt. Es war dein Herz, das sich für diesen Weg entschieden hat."
„Dann hat es sich für Marisol entschieden“, sagte Anna leise und erhob sich von dem Baumstamm, auf dem die beiden Rast gemacht hatten. „Bring mich zu meiner Tochter, bitte.“
Myron scharrte geduldig mit dem Vorderhuf im Sand. Er ließ sich Zeit mit der Antwort, aber das machte ihr nichts aus. Für nichts hätte sie mehr Zeit.
„Woher weißt du, dass sie hier war?“, wollte er schließlich wissen. Er stellte sich neben sie, gemeinsam blickten sie über das weite Land. Felder, Dörfer, Wälder.
„Sie hat es mir erzählt. Zum ersten Mal, da war sie sieben“, sagt Anna. In ihren Augen schimmerten Tränen und ihre Stimme wurde tonlos. „Ich habe ihr kein Wort geglaubt. Niemals. Ich habe sie nicht ein einziges Mal ernst genommen!“
Myrons Blick war beinahe spöttisch. „Du bist ein Mensch. Hättest du anders gehandelt, wärst du keiner.“
"Was soll das heißen?", fragte Anna energisch, aber Myron antwortete nicht, da er keinen Streit wollte. Sie verstand nun einmal nichts von der Unbedeutsamkeit von Zeit und Raum, von der Naivität der Menschen und dem, was Grenzenlosigkeit bedeutete. In ihrer Welt konnte das niemand verstehen, auch nicht die, die sich Gelehrte nannten. Sie war anders. Sie alle waren anders, die jenseits der Wege lebten, die die Spiegel preisgaben. Anders als er, anders als alles hier, und doch war gerade Anna dafür bestimmt, jetzt hier zu sein.
„Sie ist gegangen. Marisol hat uns verlassen, weil sie hier nicht bleiben wollte“, gab er schließlich zu und senkte den Kopf. „In die Welt der Toten kann ich Dich nicht bringen.“
Anna drehte sich zu ihm um. „Warum wollte sie nicht bleiben?“
„Weil sie hier nur eine unter vielen war. Weil sie hier nicht das Ende erreichen konnte. Weil sie sich selbst finden wollte, nicht ihre Träume. Sie wollte mehr.“
„Du hast Zugang zu dieser Welt, nicht wahr?“, fragte Anna.
Myron schüttelte den Kopf.
„Du hast sie hingebracht!“
Er sah sie an. Und von da an war es ein Gespräch ohne Worte.
Sie saß auf seinem Rücken, die Haare wehten in ihrem Gesicht und seine Hufe donnern über den harten Steinboden. Ein Adler zog über sie hinweg und warf einen riesigen Schatten, so als wollte er Unheil verkünden.
„Wohin bringst du mich?“ rief Anna.
Aber er antwortete nicht.
Es gab keine Zeit. Folglich konnte Anna nicht sagen, wie lange der Ritt gedauert hatte, aber irgendwann standen sie in der Höhle. Es war dunkel, nur die Fackel in Myrons Hand spendete fahles Licht.
„Was ist das?“, fragte sie und sah sich um.
„Der Ausgang.“ Seine tiefe Stimme hallte zwischen den Felsen wieder und wirkt beinahe bedrohlich. „Es gibt für Dich nur einen Ausgang.“
„Wohin führt der?“
„Dein Herz wird es entscheiden, wie es immer entschieden hat. Dich an diesen Punkt zu bringen, ist das letzte, was ich tun kann.“ Er blickte sie ernst an.
Sie zögerte, wagte es kaum, etwas zu sagen. „Letztes Mal bin ich von allein zurückgekehrt. Du musstest mich nicht hierher bringern.“
Er ignorierte ihren Einwand. „Ich verspreche dir, dass du Marisol finden wirst. Doch du wirst nicht mehr hier her zurückkehren können, vergiss es nicht."
„Warum nicht?“
Ein Blick, mehr nicht.
Dann nichts als leere Dunkelheit.
Die Stimmen neben ihr ließen Anna aufschrecken, doch ein Mann legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und drückte sie zurück ins Kissen.
„Es ist alles okay.“
Sie war an einen Tropf angeschlossen, ein EKG meldete ihre Herztöne.
Und plötzlich verstand Anna, was Myron gemeint hatte. Marisol war da.
Mit jedem einzelnen Piepen vernahm sie erneut ihren Namen.