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Hinter dem Spiegel
Es waren einmal, vor langer, langer Zeit Conte Rudolfo und seine wunderschöne Contessa Rosalba, die lebten in großer Liebe und Wohlstand. Sie waren noch in der Blüte ihres Lebens, so machten sie sich keine Sorgen um das Morgen, und wenn Rosalbas Amme ihnen immer wieder sagte, sie sollten doch bald einmal sich um Nachfolger für ihr Erbe kümmern, lachten sie nur und gingen wieder auf den nächsten Ball.
Eines Tages aber geschah es, dass Rudolfo zur Jagd ausritt und den ganzen Tag fortblieb bis in die Nacht. Mitten in der Nacht klopfte es laut an der Tür, die Amme öffnete – und da standen die Männer von Rudolfo und trugen ihn leblos auf ihren Armen. „Madonna mia, was habt ihr getan, was ist geschehen?“ schrie die Amme, und Rosalba rannte schlaftrunken hinzu und stürzte sich schluchzend über den Leichnam ihres geliebten Ehemannes.
Die Männer erzählten ihnen, dass sie die Spur eines Bären verfolgt hätten, der ihnen jedoch immer wieder entkam, da sei Rudolfo alleine vorausgaloppiert. Dann hätten sie aus der Ferne einen Schuss und einen furchtbaren Schrei gehört und dann beim Hinzueilen ihn leblos mit einer großen Schusswunde in der Brust vorgefunden. Der Geruch von Pulver hing noch in der Luft, im Dunkel des Waldes sahen sie jemanden davongaloppieren, aber sie konnten ihn nicht mehr einholen. „Das müssen die Bandidos gewesen sein,“ stöhnte die Amme entsetzt. Und sogleich bahrte sie den Leichnam auf, wusch ihn und salbte ihn, zog ihm das Totenhemd an und hielt mit der ständig weinenden Rosalba die Totenwache. Rudolfo war sehr beliebt und so nahm der Strom an Beileidsgästen an seinem Totenbett kein Ende. Nach einer Woche wurde er bei strömendem Regen in der Anwesenheit von 400 Trauergästen auf dem kleinen Bergfriedhof beigesetzt. Pater Constantino las aus Paulus, aus dem 1. Korintherbrief 13:
„Jetzt blicke ich wie in einen Spiegel durch einen dunklen Schleier und sehe nur verschwommen, dann aber werde ich dich schauen von Angesicht zu Angesicht und dich erkennen, wie du mich erkannt hast!“
Die Amme trug diese Predigt weiter in ihrem Inneren. Rosalba aber, zog sich von allen zurück, blieb nur im Hause oder ging zum Gottesdienst und jede Woche zu Pater Constantino zur Beichte. Sie magerte ab, hatte dunkle Augenringe, wanderte oft nachts schlaflos im Haus herum und berührte die Möbel, in denen sie mit Rudolfo gelebt hatte. Immer wieder betrachtete sie dabei im Mondschein sehnsüchtig ihr eigenes Spiegelbild in dem großen Barockspiegel mit dem Goldrand im Salon. Eines Nachts stand auf einmal die Amme hinter ihr, nahm sie beim Arm und flüsterte ihr zu: „Rosalba, ich kann das nicht mehr mit ansehen. Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis. Wenn du es befolgst, kannst du deinen Rudolfo wieder sehen.“ „Was? Wirklich? Wie soll das gehen?“ rief Rosalba aufgeregt aus. Die Amme legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. Sie flüsterte weiter: „Hör gut zu: du musst die nächste Neumondnacht abwarten, dann stellst du dich mit zwei Kerzen in den Händen vor den großen Spiegel und blickst unentwegt hinein und betest zu Gott, dass Rudolfo erscheine. Dann wirst du ihn wiedersehen. Aber kein Wort zu niemandem!“ Und Rosalba versprach es und ging eilig zu Bett, um sich auf diese Nacht vorzubereiten.
Endlich war die Neumondnacht gekommen. Rosalba zog ihr schönstes Ballkleid an, nahm zwei brennende Kerzen in beide Hände und stellte sich sehr wachsam vor den Spiegel. Lange sah sie nur das Spiegelbild ihrer selbst und der Kerzen. Doch auf einmal, nachdem sie schon sehr lange so gestanden und gewartet hatte, verschwand es und es näherte sich aus der Tiefe des Spiegels ein Mann der Oberfläche. Er kam näher und näher – und sie stieß einen rasch unterdrückten Schrei aus – es war Rudolfo – der sie anlächelte und sprach: „Meine geliebte Rosalba, ich wusste, dass du eine kluge Amme hast, und dass du eines Tages kommen und mich rufen würdest. Willst du mir auf die andere Seite des Spiegels folgen?“ „“Aber wie soll das gehen?“ stöhnte Rosalba verwirrt.
„Du musst alles so machen, wie ich es dir sage: halte weiter die Kerzen in deinen Händen hoch, schließe die Augen fest – du darfst sie auf keinen Fall öffnen! – und tritt ganz nah an den Spiegel heran, dann mach einen Schritt weiter und reiche mir deine Hand – du wirst sehen, du kannst durch den Spiegel hindurchgehen. Aber du darfst auch auf der anderen Seite nie die Augen öffnen, bis ich es dir sage.“
Rosalba schloss die Augen, hielt die Kerzen fest umklammert und trat mit pochendem Herzen immer näher und näher an den Spiegel heran, bis sie einen kühlen Hauch spürte, die zarte Berührung von Rudolfos Hand und sich von ihm durch die Dunkelheit führen ließ. Nach einer langen Weile drückte Rudolfo ihre Hand und sagte: „So, du kannst die Augen jetzt aufmachen, aber blicke nicht zurück. Und gehe durch diese Tür hier.“ Und schon stand sie vor einer Tür aus dunklem Marmor, hinter deren Ritzen es hell leuchtete. Er stieß sie auf und sie traten Hand in Hand hindurch.
Auf einmal war alles erfüllt von lichtem Sonnenschein, sie befanden sich in einem riesigen, blühenden Park, die Vögel zwitscherten und es duftete herrlich. Am Ende des Parks lag ein goldenes Schloss, vor dem zwei Löwen lagen, einträchtig neben ihnen zwei Lämmer. „Wo bin ich hier?“ wunderte sich Rosalba. „Das ist das Totenreich“, antwortete Rudolfo. „Es ist ganz anders, als es bei den Menschen erzählt wird.“ „Wunderschön ist es hier, rief Rosalba aus, „ich möchte immer hier bei dir bleiben!“ „das geht nicht, du musst beim nächsten Neumond zurück kehren, sonst wirst du auch sterben. Aber zunächst möchte ich dich in mein Schloss einladen. Das Gastmahl ist schon bereitet.“ Und ihre Totenreich-Diener tischten ihnen die köstlichsten Speisen auf. Danach schliefen sie glücklich Arm in Arm in riesigen, weichen Betten ein, bis sie am Morgen wieder vom Zwitschern der Vögel geweckt wurden. Den ganzen Tag ergingen sie sich in dem Park, abends tafelten sie in dem großen Saal, tanzten engumschlungen einen Tango nach dem anderen und fielen nachts glücklich in ihren Kissenberg.
Es hätte nach Rosalbas Wunsch ewig so weiter gehen können, doch eines Tages ging es ihr nicht gut, sie konnte das köstliche Essen nicht bei sich behalten und sie musste sich hinlegen, weil ihr schwarz vor Augen wurde. Rudolfo wischte ihre Stirn mit einem kühlen Tuch und sah sie prüfend an: „geliebte Rosalba, ich freue mich sehr, aber ich bin auch sehr traurig. Denn du bekommst ein Kind von mir, was immer mein größter Wunsch war, aber das heißt auch, dass du mich verlassen musst. Hier im Totenreich können keine Kinder geboren werden.“ Mit Tränen in den Augen umarmte Rosalba ihn – voller Freude, aber auch voll unermesslichem Kummer.
In der nächsten Neumondnacht zog sie wieder das Ballkleid an, nahm zwei Kerzen in die Hände und ließ sich von Rudolfo durch die Marmortür und die Dunkelheit mit geschlossenen Augen führen, bis sie spürte, dass er sie auf die Lippen küsste und ihre Hand losließ. „Lebewohl, meine Geliebte, ich wünsche dir alles Glück und Gottes Segen für die Geburt unseres Kindes – erzähle niemandem davon!“ leidenschaftlich küsste sie ihn ein letztes Mal, dann trat sie einen Schritt voran, öffnete die Augen und schon stand sie wieder auf dem blanken Parkettboden des Salons. Rasch blickte sie zurück – da sah sie, wie Rudolfo langsam wieder in der Dunkelheit des Spiegels verschwand.
Lächelnd strich sie sich über ihren bereits deutlich sichtbaren Bauch und legte sich ins Bett.
Als die Amme ihr am Morgen den Kaffee ans Bett brachte, schlug diese die Hand vor den Mund: „Madonna mia, du bekommst ein Kind von ihm!“ Aber Rosalba lachte so glücklich, dass sie ihr keine Vorhaltungen machte. Rosalba blieb bis zur Geburt zu Hause, nur der Pater war eingeweiht, da er regelmäßig mit ihr das Abendmahl feierte.
Als das Kind gesund und wohlauf geboren war, betrachtete es Rosalba aufmerksam – tatsächlich, am Hals trug das Mädchen ein kleines, herzförmiges Muttermal wie sein Vater Rudolfo! Überglücklich blickte sie zu Pater Constantin auf, dieser sprach zu ihr:
„Rosalba, du kannst dein Kind nicht immer einschließen und verstecken, es muss ja auch getauft werden in der Kapelle. Wir müssen den Leuten erzählen, was wirklich passiert ist, und erklären, das sei ein Wunder der heiligen Madonna von Belaire, das glauben sie sicher auch, weil du ja immer so fromm gewesen bist.“
Rosalba nickte erschöpft von der Geburt und blickte dem Pater in seine jadegrünen, hellen Augen. Und hielt ihr Kind auf dem Arm.
„Wie willst du das Mädchen nennen?“ fragte am nächsten Tag die Amme.
„Luna Candela“, lächelte Rosalba, „denn Luna heißt Mond und Candela Kerze, und wenn man es genau nimmt, waren das ja die Geburtshelfer und Paten des Kindes...“
Sie lachten und küssten das Mädchen. Rosalba trat mit ihr vor den Spiegel im Salon und zeigte darauf: „Dort lebt dein Vater, Luna“. Da fiel ihr auf, dass Luna helle, jadegrüne Augen hatte. Wo hatte sie diese noch letztens gesehen? Und ganz weit hinten im Spiegel sah sie etwas leuchten wie einen Kerzenschein...