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Hinten rechts im Taxi
Hinten rechts im Taxi
Die Frau gegenüber von mir trägt dunkelroten Lippenstift und liest die Zeitung. Eine ähnliche Farbe trägt meine Freundin auch immer, also wirklich immer, zu jedem Anlass. Manchmal wünsche ich mir, sie würde mal eine andere Farbe tragen. Es ist nicht die Farbe selber, die mich stört, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie nie etwas ändert. Ich muss zugeben, dass der Lippenstift an ihr immerhin schöner aussieht als bei der Frau gegenüber von mir. Sie versucht gerade, eine Seite weiter zu blättern, hat aber Schwierigkeiten mit ihren hässlichen Plastiknägeln die Seiten auseinander zu bekommen und macht unnötig lange und laute Papierraschel-Geräusche. Ich rutsche unruhig auf meinem Sitz hin und her und seufze hörbar aus, um ihr zu zeigen, dass der ganze Zug genervt ist. Ihr Lippenstift sieht abgenutzt aus, als wäre sie gestern damit schlafen gegangen und heute zu faul gewesen, ihn abzuschminken oder zumindest neu aufzutragen. Ihre Lippen haben ungewöhnlich viele Falten, da sieht die Farbe noch bröckeliger und ekliger aus als ohnehin schon. Ich nehme mir vor, meiner Freundin morgen einen neuen Lippenstift zu kaufen. Bis Weihnachten sind es zwar noch zwei Monate hin, aber vielleicht würde ich ihr den auch einfach nur so schenken.
Die Frau hat fertig gelesen und faltet die Zeitung nun zusammen und ich ärgere mich über das unnötige Umblättern der letzten Seite, die sie ohnehin nicht gelesen hatte. Das Falten raschelt noch viel lauter und länger als das Umblättern und ich stehe abrupt auf, um mir in der Zugtoilette eine Zigarette anzuzünden. Ich muss nicht mehr lange fahren und entscheide mich dazu, für die nächsten Haltestellen dort zu bleiben.
Draußen ist es schon dunkel und ich habe plötzlich das dringende Verlangen, mir ein Hotelzimmer zu suchen, anstatt bei meinem Freund Zentner zu übernachten. Wir hatten zusammen studiert und hielten uns hin und wieder mal auf dem Laufenden. Zentner tut mir ein wenig Leid. Letztes Jahr hatte er versucht, sich das Leben zu nehmen, ist dabei jedoch gescheitert und musste für mehrere Monate in der Klinik bleiben. Ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass er es absichtlich nicht richtig durchgezogen hatte. Jedenfalls geht es ihm mittlerweile wieder ganz gut, denke ich. Bevor ich aussteige, blicke ich rüber zu der Frau und sehe, wie sie sich eine neue Schicht Lippenstift über die alte, bröckelige schmiert und das macht mich echt baff.
Die Luft draußen ist kühl und angenehm. Ich fröstele ein wenig und freue mich darüber.
Am Vorderausgang des Bahnhofs rufe ich mir ein Taxi und entscheide mich dazu, doch zu Zentner zu fahren. Er hatte sich schließlich schon darauf eingestellt, dass ich komme und ich möchte ihn ja nicht unnötig enttäuschen. Seine Adresse hatte ich mir tatsächlich gemerkt und ich nenne sie dem Fahrer. Im Taxi steige ich immer hinten rechts ein. Ich verstehe die Leute nicht, die sich vorne neben den Fahrer setzen und am besten noch oberflächliche Konversation führen, so was lächerliches. Ich habe Glück, dass dieser genauso wenig daran interessiert ist, sich zu unterhalten. Ich kurbele das Fenster runter und zünde mir eine Zigarette an. Zentner hatte schon vor zwei Stunden mit mir gerechnet, aber ich hatte einen kurzen Zwischenstopp in Bremen eingelegt, um mich mit meiner alten Schulfreundin Kathi zu treffen. Das war ziemlich spontan, sonst hätte ich ja Zentner Bescheid gegeben. Wir trafen uns zuerst in einem Café und gingen dann ins Kino, um einen Film zu schauen. Es war ein dänischer Film mit englischen Untertiteln. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie den nur ausgesucht hatte, um intellektuell zu wirken. Jedenfalls hatte ich während des Films hin und wieder mal zu ihr rüber gesehen und festgestellt, dass sie mit den Gedanken woanders war. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass sie mich danach noch zu sich einladen würde, da wir uns ziemlich amüsiert haben, jetzt mal abgesehen von dem langweiligen Film, meine ich, aber sie verabschiedete sich noch vor dem Kino und bat mich, Bescheid zu geben, wenn ich erneut in Bremen sei.
Sie trug ihre blonden, lockigen Haare offen und die vorderen Strähnen klemmte sie mit einer Spange nach hinten, das sah wirklich hübsch aus. Vor allem, weil sie ihre Haare in der Schulzeit immer im Pferdeschwanz trug, da erinnere ich mich noch ganz genau dran. Ohnehin hatte sie sich sehr verändert, so vom äußerlichen meine ich. Die Art, wie sie redete, ist nämlich gleich geblieben. Sie hat eine ziemlich hohe Stimme und redet viel und schnell. Das meiste davon ist unwichtig und langweilig und ich bin mir sicher, dass sie vieles davon nur erzählte, weil sie keine Stille ertragen könnte. Mir hingegen macht Schweigen nicht besonders viel aus und zurückblickend bin ich eigentlich ziemlich erleichtert, dass sie mich nicht mehr zu sich eingeladen hatte, weil ihr vieles Reden mich müde machte und mir Kopfschmerzen bereitete. Ich wette, sie ist eine der Personen, die im Taxi vorne rechts einsteigen.
Ich erwische den Fahrer dabei, wie er mich im Rückspiegel beobachtet und ich schmeiße meine Zigarette aus dem Fenster und kurbele es wieder hoch. Ich nehme mein Telefon und wähle die Nummer von Kathi. Sie geht erst ran, als ich gerade wieder auflegen möchte und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie extra so lange gewartet hatte. Ich lad sie ein, mich morgen hier zu treffen und schlage vor, zusammen im Transit zu Abend zu essen. Sie scheint überrascht, aber sagt zu und ich lege mit dem Vorwand auf, dass ich jetzt da sei.
Ich bezahle den Taxifahrer mit einem großzügigen Trinkgeld und klingele ganze vier Mal bis die Freisprechanlage endlich ertönt und die Tür summend aufgeht. Ich war bisher nur einmal bei Zentner zuhause und ich erinnere mich nicht mehr, in welchem Stock er wohnt. Das ist jedoch nicht schwer, herauszufinden, da aus der dritten Etage laute Musik ertönt. Oben angekommen nehme ich mir einige Sekunden Zeit, um nicht vollkommen aus der Puste einzutreten. Anstatt an der Tür auf mich zu warten, hatte er diese einen Spalt aufgelassen und ist wieder reingegangen.
Ich höre andere Stimmen und bereue es, nicht doch in ein Hotel gegangen zu sein. Als ich eintrete, schauen nur zwei von insgesamt fünf Leuten hoch. Die anderen sind in hitzig scheinenden Gesprächen verwickelt und Zentner selber dreht sich gerade eine Zigarette. Als er mich bemerkt, springt er auf und kommt lachend und mit offenen Armen auf mich zu und drückt mich an sich. Abgesehen von hübschen Frauen wie Kathi umarme ich nicht wirklich gerne Menschen und ich stehe einfach nur starr da und warte bis er wieder ein Schritt zurück tritt.
Mir fällt ein, dass Kathi und ich uns gar nicht umarmt hatten, ich ihr sondern nur ein Kuss links und rechts gegeben habe. Dabei hatte ich ihr Parfüm gerochen, welches ich noch nicht kannte. Ich bin schlecht darin, Gerüche zu beschreiben und wenn jemand ein Frauenparfüm mit Zedernholz und Hibiskusblüte beschreibt, find ich das ehrlich gesagt ein wenig lächerlich. Zum Abschied gab ich ihr einen kurzen Kuss auf den Mund und als ich ihr danach noch einen weiteren auf die Wange gab, war das Parfüm schon verflogen.
Zentner redet gerade davon, dass er mir zum Schlafen auf dem Sofa alles zurecht gemacht hatte. Ich bedanke mich, auch wenn ich ehrlich gesagt davon ausgegangen bin, dass ich sein Bett bekäme und er auf dem Sofa schlafen würde. Aber das macht mir nicht sonderlich viel aus. Ich setze mich auf den einzigen Sessel, der noch frei ist, während Zentner mir in der Küche einen Drink macht. Ich stelle mich den anderen Leuten vor und sie sich mir. Ich muss jedoch zugeben, dass ich mir keinen einzigen Namen gemerkt hatte. Die Frau, die sich rechts von mir mit einem ziemlich jung aussehendem Mann das Sofa teilt, fragt mich ununterbrochen nach Zentner aus. Wo wir uns kennengelernt hätten, wie er so in der Uni war und ob ich ihn öfter besuchen würde. Während ich ihre Fragen kurz beantworte, zünde ich mir die Zigarette an, die Zentner fertig gedreht hatte und vor mir auf dem Holztisch liegt. Ich habe plötzlich das dringende Bedürfnis, mich zu duschen oder mich zumindest etwas aufzufrischen und ich stehe auf und entschuldige mich.
Das Badezimmer ist sehr klein und dreckig. Die Dusche hat keinen Vorhang und die Fliesen sind nass und haben schwarzen Schimmel an den Rändern. Mir wird schlecht bei der Vorstellung, wie Zentner dort jeden Tag nackt steht und seinen Körper abduscht, obwohl ich mir eigentlich ziemlich sicher bin, dass er keine tägliche Dusche nimmt.
Ich öffne das kleine Fenster über der Toilette und betrachte mich so lange im Spiegel, bis ich meine Zigarette zu Ende geraucht habe. Dafür, dass ich dachte, ich hätte dringend eine Auffrischung nötig, sehe ich eigentlich noch ziemlich gut aus. Ich gele mir lediglich erneut meine Haare zurück und wasche meine Hände mit Seife, die Zentner anscheinend aus Wasser und Duschgel zusammengemischt hatte. Zurück im Wohnzimmer hat Zentner sich auf meinen Sessel gesetzt und dreht sich eine neue Kippe. Die aufdringliche Frau und einer der Männer waren wohl schon gegangen und ich setze mich neben dem Jungen auf das Sofa. Er scheint gerade mal siebzehn oder achtzehn Jahre alt zu sein. Seine Haare sind ebenfalls wie meine etwas länger und zurück gegelt, mit dem Unterschied, dass seine lockig sind und eine einzelne Strähne die Stirn runter hängt.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass viele Frauen auf ihn stehen. Seine Nase ist etwas zu groß, wenn man ihn von vorne anschaut, aber von der Seite ist sie absolut gerade und nahezu makellos. Er hat bisher nicht viel gesprochen, aber scheint jedes Gespräch aufmerksam zu verfolgen. Zentner redet gerade über die Arbeit. Er ist Immobilienmakler in einem fürchterlichen Unternehmen und jedes Mal, wenn wir uns unsere regelmäßigen Updates geben, beschwert er sich über seinen Job und seinen Chef, den er absolut nicht ausstehen kann und nimmt sich wiederholend vor, zu kündigen und sich was Neues zu suchen. Mir fällt auf, dass Zentner meistens ausschließlich nur über Arbeit redet und unsere Gespräche nie um etwas anderes gehen. Über Beziehungen oder sonstiges hatten wir schon lange nicht mehr geredet. Ich glaube, dass Zentner ein wenig zu oberflächlich ist, um sich über solche Themen zu unterhalten und ich bin mir sicher, dass er es ins Lächerliche ziehen würde, wenn man es denn täte. Ich scherze, dass er doch endlich Mal kündigen solle und er winkt nur ab und murmelt, dass er das nächste Woche ohnehin vor hat. Er habe sogar schon neue Jobangebote markiert und sucht nun im Schlafzimmer nach der Zeitung, als müsste er uns irgendetwas beweisen. Die Frau, die die ganze Zeit gegenüber von Zentner sitzt und sich fürchterlich offensichtlich jung zu schminken versucht hatte, und sich bei den Gesprächen bisher eher zurück hielt, solange sie in der ganzen Gruppe geführt wurden, steht nun auf und folgt ihm ins Schlafzimmer. Ich höre sie leise reden und vernehme einige Kussgeräusche. Ich erkundige mich bei dem Jungen, ob die beiden eine Beziehung führen und er erzählt mir, dass Zentner und sie seit mittlerweile fünf Jahren verheiratet sind.
Da er und ich nun die einzig Verbleibenden im Wohnzimmer sind, fühle ich mich gezwungen, Konversation zu betreiben und stelle überraschend fest, dass er keine Anstalten macht, diese am laufen zu halten. Deswegen schweigen wir manchmal auch und ich bemerke zufrieden, dass es keine unangenehme Stille ist. Ich mache mir einen neuen Drink und zünde mir eine Zigarette an. Er greift nach meiner Schachtel und nimmt sich ebenfalls eine. In seinem Alter hatte ich auch schon geraucht, deswegen sage ich nichts. Ich meine, ich hätte ohnehin nichts gesagt, das ist ja schließlich nicht meine Aufgabe. Während wir rauchen, erzählt er mir von seinem Architektur-Studium und dass er eigentlich Schauspieler werden möchte. Zentner und seine Frau haben im Schlafzimmer Sex, aber dem Jungen scheint das nichts auszumachen. Ich sage ihm, dass er es mit seinem Aussehen sicherlich weit bringen würde. Er bedankt sich, aber es macht den Eindruck, dass er das ziemlich häufig zu hören bekommt. Er erzählt mir, dass seine Eltern wollen, dass er das Architektur Studium abschließt, sie ihm danach jedoch alle Freiheiten geben würden und ich frage nach, ob er schon Erfahrungen im Schauspiel hat. Er schüttelt mit dem Kopf und nimmt sich eine zweite Zigarette aus meiner Schachtel. Es macht mir jedoch nicht sonderlich viel aus. Er zündet sie an und sagt ein paar Zeilen von James Joyce Die Toten, während die Zigarette im Mundwinkel auf und ab wippt. Dabei ascht er mehrmals auf seine schwarze Leinenhose. Ich hatte Die Toten in meinem Studium lesen müssen, deswegen erkenne ich sogar einige Textstellen wieder und empfinde es als gar nicht unangenehm, dass er mir jetzt schon seit mehreren Minuten die Kurzgeschichte vorspielt. Dabei bleibt er sitzen und zur Wand schauend, als sei ich gar nicht mehr im Raum. Im Hintergrund stöhnen Zentner und seine Frau. Sie hatten die Türe nicht einmal richtig zugemacht. Was für eine groteske Situation. Ich nehme einen großen, letzten Schluck meines Drinks und stelle das Glas vor mir auf dem Holztisch ab. Ich fühle mich plötzlich ziemlich gut. Ganz leicht und irgendwie unbeschwert, ich kann es nicht so gut beschreiben. Endlich nimmt der Junge die Zigarette aus dem Mundwinkel und nuschelt nun auch nicht mehr so stark. Ich mag die Art und Weise wie er spricht und höre ihm gerne zu. Er erzählt die Kurzgeschichte nicht ganz zu Ende, sondern endet mit der Rede von Gabriel und blickt nun lachend zu mir rüber.
Ich beuge mich runter zu seinen Oberschenkeln, um die Asche von seiner Hose wegzupusten. Ich sage ihm, dass es wichtig sei, zu pusten, ansonsten würde es Flecken geben. Ein Teil der Asche landet jedoch nur auf seinem anderen Oberschenkel und er wischt sie weg, was offensichtlich einen grauen Fleck hinterlässt. Ich versuche nochmal zu pusten, was natürlich nichts mehr bringt und er nimmt mein Gesicht in seine Hand. Er zieht mich an meinem Kinn hoch zu sich und küsst mich auf den Mund. Wir küssen uns mehrere Sekunden lang. Der Geruch seines Aftershaves schießt mir in die Nase und ich muss an den bröckeligen Lippenstift von der Frau im Zug denken und an den Schimmel an Zentner Duschfliesen.
Mir wird schlecht und ich stehe abrupt auf. Dem Junge scheint das nichts auszumachen, er wischt sich über seine Lippen und nimmt eine dritte Zigarette aus meiner Schachtel. Es sind nur noch vier übrig. Ich reiße ihm die Schachtel aus den Händen und schlage ihm mit meiner Faust drei Mal ins Gesicht. Er fängt an zu heulen und vergräbt seine blutende Nase schutzsuchend in seinen zitternden Händen. Ich bleibe wie erstarrt stehen und bemerke, dass ich meine Zigarettenschachtel zerdrückt hatte. Ich vernehme eine plötzliche Ruhe im Schlafzimmer und kurz darauf mehrere Schritte und ich greife nach meinem Koffer und renne das Treppenhaus runter wie ein Verrückter.
Draußen renne ich eine halbe Stunde weiter, obwohl mir niemand folgt, bis meine Lunge mich zwingt, aufzuhören und ich hustend und röchelnd auf die Knie gehe. Ich nehme eine zerquetschte Zigarette aus der Schachtel, aber meine Finger zittern zu sehr, um das kleine Rädchen am Feuerzeug zu betätigen. Ich fluche und schmeiße es so gewaltig auf den Boden, dass ich anfange zu heulen. Ich schreie so laut ich kann und merke, dass ich der einzige auf der Straße zu sein scheine. Jedenfalls stehe ich eine ganze Weile da und schreie, ohne dass etwas passiert. Ich hebe das Feuerzeug wieder auf, zünde eine Zigarette an und rufe mir ein Taxi.