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Hinnerk und die Deichgleiche
Gewidmet meinem Freund Richard Stahl aus Berlin
An einem der ersten Oktobertage des Jahres 1634 stand ein Mann mittleren Alters auf dem Seedeich des Hersbüller Kooges ganz im Süden der Insel Strand.
Von dem Kirchspiel Hersbüll existiert heute in Jahre 2010 nur noch das Nordstrander Watt , das in der gleichen Nacht entstand, als die große Insel Strand von der Oktoberflut des Jahres 1634 zerrissen wurde und nur noch die heutigen Inseln Pellworm und Nordstrand übrig blieben.
Für alle, die auch mit den obigen Angaben noch nichts anfangen können, sei gesagt, daß es sich um die Nordseeküste des Bundeslandes Schleswig-Holstein handelt.
Hinnerk Friedrichsen war ein schweigsamer, aber fleissiger Arbeiter, der sich vom Salzbauern und als Salzsieder zum Salzhändler hochgearbeitet hatte und gute Geschäfte mit dem Festland machte.
Fleissig und sparsam hatte er eine Summe Geldes angespart, die ihm den Bau eines großen Hauses im südlichsten Dorf der Insel Strand im Kirchspiel Hersbüll ermöglichte.
Nachdenklich schaute Hinnerk den Seedeich entlang und dann wanderte sein Blick auf die von einem der ersten Herbststürme dieses Jahres aufgewühlte See.
Wird der Deich halten ?
Seit der großen Mandränke im Jahre 1362, als Rungholt unterging , hatte man diesen Deich nur ein einziges Mal um zwei Ellen erhöht. Am Deichprofil hatte man nichts geändert, um Zeit und Arbeit und Erde zu sparen. Das hatte Hinnerk heftig kritisiert, aber der Deichgraf ließ ihn kalt abblitzen.
Seit Beginn seines Hausbaus in diesem Sommer in Hersbüll galt Hinnerk als Sonderling und er tat , als berührte es ihn nicht. Alle Bewohner des Dorfes ließen ihn spüren, daß sie gegen ihn waren, nur seine Grete, die er hier in Hersbüll kennen gelernt und dann geheiratet hatte, hielt zu ihm.
Sein Haus, das am weitesten von allen Häusern des Dorfes vom Seedeich entfernt lag, sah aber auch zu merkwürdig aus, als daß nur ein einziger Hersbüller oder andere Inselbewohner sich an den Anblick hätten gewöhnen können.
Es begann damit , daß er wochenlang die große Insel Strand von Ort zu Ort durchstreifte, bis er fand , was er suchte. Er machte einen alten ehemaligen Kapitän eines Walfängers ausfindig, der ihm sein Fernrohr für wenig Geld verkaufte, denn Hinnerk war wie gesagt über die Maßen sparsam.
Dann war er tagelang dabei, in einen schmalen langen Balken eine ganz gleichmäßig tiefe Rinne von vielleicht daumenbreiter Tiefe zu stemmen .Seine liebreizende blonde langhaarige Grete hatte diesem Treiben kopfschüttelnd zugesehen, aber Hinnerk verschloß ihr jedes Mal mit einem Kuß den Mund, wenn sie ihn fragte, was er da machte.
Auch Nachbarn, die sich neugierig nach dem Baubeginn des neuen Hauses erkundigten, erfuhren von ihm nur, daß er ein Haus bauen werde, wie es die Welt noch nicht gesehen hätte.
In den darauf folgenden Sommermonaten des Jahres 1634 , als Rohbau und Balkenwerk empor wuchsen, wurden sie nicht enttäuscht.
Zunächst vermutete das ganz Dorf, daß Hinnerk wohl ein zweistöckiges Haus bauen werde, so hoch, wie das Rathaus in Gaikebüll.
Als er dann aber noch ein drittes und dann gar ein viertes Stockwerk oben drauf setzte, schauten sich alle, die das sahen, ziemlich ratlos an.
Das ganze glich eher einem Turmbau zu Babel, als einem Bauernhaus. Oder wollte Hinnerk aus seinem Haus vielleicht eine Kirche machen ? Das ganze sah aus wie ein Wehrturm, aber nicht wie ein Wohnhaus.
Schließlich kam der Amtmann der Insel Strand nach Hersbüll und nahm dieses Ungetüm eines Wohnhauses persönlich in Augenschein.
„Hinnerk, bist du ganz verrückt geworden“, fuhr er ihn wütend an.
„ Du bist mit deinem 4. Stockwerk ja schon höher als das Kirchendach der Hersbüller Kirche und du hast noch nicht einmal den Dachstuhl aufgesetzt.“
Hinnerk schwieg.
„ Das kann so nicht stehen bleiben. Das mußt du abreißen. Wie sieht das aus ? Du verschandelst mit deinem Turmhaus die ganze Gegend.“
„Warten sie bitte ein paar Minuten, Herr Amtmann. Ich möchte ihnen etwas zeigen.“
Hinnerk verschwand und kam nach einigen Minuten mit einem sehr langen schmalen Balken mit einer merkwürdigen Einkerbung und einem aufgeschraubten Fernrohr zurück.
„ Was soll das denn ?“, blaffte ihn der Amtmann an.
„Wollen sich der Herr Amtmann mal bitte für einige Minuten auf den Bauch legen“, sagte Hinnerk ungerührt mit einem stoischen Gesichtsausdruck.
„Wie komme ich dazu ?“ zischte der Amtmann und wurde immer wütender.
Hinnerk blieb ganz ruhig, öffnete eine Tür und legte den Balken der Länge nach in dieser Richtung auf den Dielenboden und legte sich gemütlich dazu. Dann schaute er interessiert durch das aufgeschraubte Fernrohr.
Ohne aufzublicken fragte er: „ Wollen der Herr Amtmann so freundlich sein und einen Blick durch dieses Fernrohr werfen ?“
Unwillig kniete sich der Amtmann hin, merkte jedoch sogleich, daß er nur bäuchlings liegend einen Blick durch das Fernrohr werfen konnte.
„ Was sehen der Herr Amtmann jetzt ?“ fragte Hinnerk mit einem scheinheiligen Unterton.
„Gar nichts“, bellte der Amtmann, „ ich sehe gar nichts außer Himmel und einen schwarzen Strich.“
„Exakt“, freute sich Hinnerk, „sie sehen die Deichlinie des Hersbüller Seedeiches gegen den Himmel.“
„Ja und ?“, fragte der Amtmann unwirsch.
„ Was passiert, wenn es eines fernen oder nahen Tages eine Sturmflut gibt, die über den Deich läuft ?“ fragte Hinnerk.
„Das ist seit 1362 nicht mehr passiert und seitdem haben wir den Deich noch erhöht,“ knurrte der Amtmann.
„Wenn es nun aber doch passiert und das Wasser über den Deich läuft“, beharrte Hinnerk hartnäckig.
Dann läuft der ganze Koog voll, aber das wird nicht passieren, denn das Wasser ist seit fast 300 Jahren nicht mehr so hoch aufgelaufen.“
Jetzt war Hinnerk in seinem Element.
„ Ich kann ihnen genau sagen, was passiert, wenn das Wasser über den Deich läuft, den sie jetzt im Fernrohr sehen. Die Oberkante des Seedeiches liegt auf gleicher Höhe mit dem Dielenboden des zweiten Stockwerks auf dem wir jetzt liegen. Das zweite Stockwerk ist mein Keller und das über den Deich laufende Wasser wird vielleicht in meinen Keller eindringen, aber niemals in die darüber liegende Wohnstube im 4. Stock gelangen.
Ich habe , „ sagte Hinnerk betont langsam und bedeutungsvoll, „ mein Haus auf dem Niveau der Deichgleiche gebaut.“
„Deichgleiche, was ist das ? „ fragte der Amtmann verblüfft.
„Deichgleiche ist das, was sie im Fernrohr sehen. Die lange Kerbe in diesem absolut geraden schmalen Balken zeigt mir, wenn ich sie mit Wasser fülle, das nicht auslaufen darf, die absolute Waagerechte, die ich mittels Fernrohr auf die Oberkante des Seedeiches justiere. Ich hole mir mit dieser einfachen Anordnung die Deichoberkante in mein Haus oder sagen wir, ich hole mir die Deichgleiche ins Haus.
Beide schwiegen.
„ Wir liegen hier beide auf der Oberkante des Seedeiches „, brach Hinnerk das Schweigen.
„ Und was machst du mit dem Balkenwerk der beiden unteren Stockwerke?“, fragte der Amtmann.
„Die schütte ich im Laufe der nächsten zwei Jahre mit luftdichtem Lehm aus dem Watt auf, so daß sie mir nicht verfaulen.“, antwortete Hinnerk.
Der Amtmann schwieg nachdenklich und wurde sich wegen seines dicken Bauches seiner lächerlichen Lage bewußt, wie er bäuchlings auf dem Boden liegend mit Hinnerk diskutierte.
Er versuchte sich zu erheben, aber Hinnerk mußte ihn hochziehen, denn er war zu dick, um allein auf die Beine zu kommen.
„ Bis du sicher, daß der Holzboden, auf dem wir hier stehen, genau die Höhe des Seedeiches hat ?“
Hinnerk holte einen Teekessel und goß Wasser in die Rinne, bis sie gestrichen voll war. Nicht ein einziger Tropfen lief über.
„ Sehen sie, Herr Amtmann, der Boden hier ist absolut waagerecht“, sagte Hinnerk mit Überzeugung, „ und die gedachte Linie bis zur Oberkante des Seedeiches ist es auch.“
Der Amtmann nickte zögernd.
„ Wenn man statt des Balkens einen viel kürzeren Vierkantstab nehmen würde, dann hätte man eine Art mit Wasser betriebener Waage, mit der man in der Lage wäre , Bauwerke genau in die Waagerechte zu bringen“, begeisterte sich Hinnerk.
Der Amtmann gab sich geschlagen.
„ Du bis ein plietscher Junge „ sagte er anerkennend. „Meinetwegen kann dein Turmbau so stehen bleiben, aber sieh zu, daß du den unteren Teil deines Kolossalbaues mit Erde verfüllst, daß es so aussieht, als stände dein Haus auf einer steilen Warft.“
Dieses Gespräch hatte im Sommer statt gefunden.
Hinnerk schritt langsam den Deich entlang. Dunkelheit und Kälte krochen langsam über das weite Land. Unter sich sah er den fahlen Schein von Kienspanlampen , die mit Tranfett in einigen Fenstern von Hersbüll brannten. Im zunehmenden Brausen des Sturmes meinte er die dröhnende Stimme des Strander Amtmannes zu hören.
Er hatte sein Haus vor Behördenwillkür retten können, aber würde es auch gegen eine brüllende überschäumende See standhalten ?
Mit Bedacht hatte er die Standbalken seines Hauses tief in den weichen Marschenboden eingegraben und sie dann mit dem schweren saugenden Schlamm aus dem Watt eingeschlämmt.
„Gegen meine Standbalken kann die See nichts ausrichten“, sprach er zu sich selbst. Sie bieten der See zuwenig Widerstand. Sie werden halten,“ beruhigte er sich.
Er schüttelte den Kopf. Fast 300 Jahre hielten die erhöhten Deiche jetzt schon seit der vernichtenden Flut von 1362 , als Rungholt unterging. Warum sollte ausgerechnet dieses Jahr etwas passieren ?
Dann packte ihn plötzlich eine seltsame Wut.
„Nächsten Herbst habe ich eine Warft,“ schrie er in die schwarzen Wogen der stürmischen See.
„Trutz, blanke Hans“ brüllte er und die See brüllte zurück.
Am 10. Oktober 1634 stürmte es den ganzen Tag und die ganze Nacht. Aber der Sturm tat ihnen nichts, denn er kam aus dem Norden und zwischen ihm und Hersbüll liegt die große Insel Strand.
Allerdings wußte er nicht , wie es im Norden der Insel aussah. Vielleicht hatte die See schon einen der Norddeiche eingerissen und kostbares Marschenland überflutet.
Aber landeinwärts nördlich von Hersbüll lag ein Geestrücken wie ein Bollwerk gegen den Nordsturm. Der würde sicher nicht überflutet werden.
Wie gut, daß wir keinen Weststurm haben, dachte Hinnerk. Die Hersbüller Marschen waren bis 1362 Uthlande gewesen , wo zwar im Sommer die Kühe friedlich grasten, aber bei jedem Sommergewitter die Bauern ängstlich ihre Kühe heimwärts trieben.
Dann hatte man, wie in einer Trotzreaktion auf die Katastrophe von 1362, als mehr als 100 000 Menschen ertranken, die Uthlande von Hersbüll Ende der 60er Jahre eingedeicht und damit den Hersbüller Koog geschaffen.
Ein bescheidenes Dorf mit einer Kirche entstand. Aber es blieb flaches Marschenland, aus dem nur die Kirche und neuerdings Hinnerks Kolossalbau herausragten. Alle anderen Häuser duckten sich schutzsuchend hinter dem Seedeich.
Der Sturm hatte auch heute am 11. Oktober 1634 nicht nachgelassen. Es war bereits schwarze Nacht, als er gegen 22.00 Uhr von Nord auf Nord-West drehte.
„Jetzt drück er das ganze Wasser des Süder -Heverstromes gegen unseren Deich.“, sagte Hinnerk tonlos zu seiner Grete. „Schlimmer noch,“ fuhr er fort, „das ganze Wasser, das er zwei Tage lang hochgepeitscht hat, treibt er jetzt in unsere Richtung.“
Auch Stine, die Magd, begriff, daß etwas Bedrohliches in der Luft lag.
Nervös suchte Hinnerk in seiner Kommode nach dem Mondkalender.
„ Haben wir Nipptide oder Springtide“, fragte er seine Frau.
Sie zuckte die Achseln.
„Weiß ich nicht“, sagte sie.
„ Und du , liebe Stine, weißt es natürlich auch nicht,“, knurrte Hinnerk seine junge Magd an.
Da sagte Stine: „ Wir haben Springtide.“
Erstaunt blickte Hinnerk auf. Sieh an, die einfältige Stine wußte was.
Aber da war er der Stine auf den Leim gegangen. Sie hatte in weiblicher Schläue und im Vollbesitz ihrer Unwissenheit, so getan, als wüßte sie genau, daß es die schlimmere Springtide war. Sollte das falsch sein, würde man Stine ihren Fehler umso lieber verzeihen, als die Nipptide ja doch ungefährlicher war.
Endlich fand Hinnerk, was er suchte. Der Mondkalender starrte ihn mit einer Fratze an, denn natürlich hatten sie jetzt zunehmenden Mond und also die gefährlichere Springtide.
Hinnerk ließ den Kopf sinken.
Draußen heulte der Sturm und jaulte an den Balkenkanten. Natürlich war der Sturm hier oben im 4. Stockwerk viel stärker , als da unten bei den Bauernhäusern hinter dem schützenden Seedeich. Das Balkenwerk ächzte und stöhnte, aber Hinnerk fühlte sich sicher in seiner soliden Handwerksarbeit.
Als aber das Brüllen der entfernten Nordsee bis zu ihnen drang, erfaßte sie ein Schauder und sie rückten unwillkürlich zusammen.
„Hoffentlich hält die Schleuse am Schluth“, sagte Hinnerk mit leiser Stimme in die Stille einer Sturmpause.
Die Schluth war ein riesiger Entwässerungspriel, der die Insel Strand umschloß. Bei schönem Wetter und im Sommer entwässerte er große Teile der Insel Strand und war unverzichtbar.
Wenn aber jetzt die wilde See die Schleuse am Schluth überrannte, dann wurde aus dem segensreichen Priel ein willkommenes offenes Tor für die hungrige See.
Mitten im Heulen des Sturmes hörten die drei ein Klopfen. Erst dachte Hinnerk, daß sich eines der provisorischen Dachbretter gelöst hätte und gegen das Haus schlagen würde. Aber es waren Leute aus dem Dorf, die um Einlaß klopften.
Eine Familie nach der anderen kam die hölzerne Rampe zum 4. Stock hinauf gestiegen.
„Wir haben Angst“, sagten sie, „dein Haus ist soviel höher als unsere Häuser und wenn das Wasser kommt“, ..........sie verstummten angesichts dieser grauenvollen Vorstellung.
Gegen Mitternacht drängten sich an die 50 Dorfbewohner in der Diele von Hinnerks Haus. Die letzte Familie, die gekommen war, sah furchtbar aus. Sie waren völlig durchnäßt und froren erbärmlich.
Plötzlich schrien einige Frauen, die an den Fenstern gestanden hatten, auf.
„ Das Wasser ist da.“
Entsetzen breitete sich unter den Anwesenden aus. Sie wußten nun, daß ihr aller Leben nur noch an der Handwerkskunst des von ihnen so abweisend behandelten Hinnerk hing. Wenn seine Balkenkonstruktion unter den Schlägen der See, die nun das Land unter ihnen überrollte, zusammenbrach, dann waren sie alle verloren.
Nachdem sie die nächsten zwei Stunden im schauerlichen Stöhnen des Sturmes und des Hauses wieder etwas Zuversicht gefaßt hatten, würde das bedrückende Schweigen der vielen Leute von einem gellenden Schrei einer Frau, die an einem der Fenster stand, unterbrochen.
Mit einem vor Entsetzen verzerrten Gesicht hob sie ihren Arm wie zu einer ungeheuerlichen Anklage.
„ Das Kirchendach“, stammelte sie.
„ Es hat sich losgerissen und treibt auf uns zu.“
Alle stürzten an die Fenster und sahen, wie das haushohe Kirchendach im fahlen Mondlicht auf sie zu schwankte. Ein fürchterliches Krachen folgte und mit einem Aufschrei zerbarst das solide Balkenhaus des Hinnerk Friedrichsen.
So furchtbar schreien nur Häuser, die leben.
Von der Deichgleiche des Hinnerk Friedrichsen hat man bis vor kurzem nie wieder etwas gehört.
Die Idee war verschwunden, bis vor einigen Tagen der große Schöpfer, den viele auch Gott nennen, einem Menschen statt eines grausamen Gesichts ein lächelnd sich erinnerndes Gesicht lieh.
Wohlgemerkt eine Leihgabe Gottes nur für wenige Tage.
Aber diese kurze Zeitspanne reichte, daß die Menschen sich wieder an die Deichgleiche des Hinnerk Friedrichsen erinnerten.