Hin und zurück.
'Jeder Gewitterregen hat sein nahes Ende. Man kann sich darauf verlassen, denn es ist ein Naturgesetz. Auch wenn ich Angst habe, wird sie daran nichts ändern. Ich werde auch nicht sterben, falls ich nicht sehr großes Pech habe und alles andere kann ich doch wohl ertragen. Es ist ja nicht einmal kalt.'
Er hat es nötig, sich Mut zu machen, denn er hat wirklich Angst. Er kennt sich hier nicht aus und er kommt hier nicht weg. Eigentlich ist er zum Vergnügen hier. Er hat Urlaub und er fährt zum Spaß mit dem Fahrrad in die Berge, die er nicht kennt, um etwas zu erleben. Er ist nicht einmal allein, seine Freundin steht neben ihm. Und er wird etwas zu erzählen haben, wenn er wieder Zuhause ist, kann seine Fotos präsentieren und ganz entspannt von der Gefahr reden, die so eine Bergfahrt mit sich bringt.
Der Regen lässt nach, der Donner zieht in die Ferne. Sie verlassen den Schutz der dichten Bäume. Sie radeln weiter den körnigen Schotterweg entlang, wie seit einer Stunde schon. Sie fahren immer noch bergauf, langsam, in einem kleinen Gang. Sie machen das zum ersten Mal, aber er fühlt sich fit. Sie ist sicher auch in Ordnung. Die nasse Luft lässt sich sehr gut atmen, der helle, weiße Nebel, der die Hänge heraufkriecht, ist ein Spektakel für sich. Er macht ein paar Fotos davon. Jetzt kommt eine Baustelle. Sie ist verwaist, bis auf ein paar große Maschinen, kein Wunder bei dem Wetter. Hier asphaltieren sie eine richtige Straße.
Die Fahrt geht weiter, immer bergauf. Nasse Baumstämme liegen gefällt am Straßenrand, hier ist schließlich alles wirtschaftlich erschlossen. Sie fahren durch ein kleines Dorf, nichts aufregendes, wofür man anhalte müsste. Der Name sagt ihm nichts, auf seiner Karte sind kleinere Ortschaften nicht verzeichnet. Er schaut nicht auf die Karte, denn es gibt keine Abzweige, nur diese Straße. Es geht weiter an der Kante einer Höhenalm entlangt. Der Blick hinab ist beeindruckend, hunderte Meter tiefer liegt sogar ein See. Er schaut auf die Uhr. Vier Stunden noch bis zur Dämmerung. Das ist viel Zeit. Sie sind gerade einmal zwei Stunden unterwegs und das Gewitter kommt nicht wieder. Jetzt kommt ein kurzer Tunnel. In der Röhre ist es dunkel. Sein Licht flackert, ihres strahlt hell. Dann scheint wieder die Sonne.
"Wollen wir was essen?"
"Ja."
"Machst du ein Foto von mir?"
"Ja."
"Hier?"
"Ja."
Sie nimmt ihre eigene Kamera dafür. Seine ist besser, mit Autofokus und allen Schikanen. Aber es ist nur ein Schnappschuss und dafür langt es. Danach trinken sie ihr Wasser und essen ihre Riegel. Sie hat einen Mückenstich, den er gut versorgt.
"Weiter?"
"Ja."
Es geht weiter. Beide haben ihre Regensachen jetzt im Rucksack verstaut. Der Weg ist immer noch asphaltiert. Hier und da liegen kleinere Zweige darauf, vom Wind. Das lässt sich nicht vermeiden und den tiefen Profilen ihrer Mountainbike-Reifen können sie nichts anhaben. Er schaut wieder auf die Uhr, noch drei Stunden. Mittlerweile fühlt er sich unwohl. Sie fahren ja immer noch bergauf. 'Wer baut nur solche Straßen?', fragt er sich. Die letzte Ortschaft liegt jetzt eine Dreiviertelstunde zurück, ab und zu fahren sie an einem Warnschild vorbei, das eine Baustelle anzeigt. Arbeiter sehen sie keine, Maschinen auch nicht mehr, nur ab und zu Reste von Baumaterial. Jetzt ist er genervt. Nach der nächsten Kurve hält er an und schaut auf die Karte. Ein paar rote Linien, ein paar beschriftete Punkte. Nichts davon kommt ihm bekannt vor.
"Mein Fehler. Man muss sich orientieren können, wo man fremd ist. Es ist eine schlechte Karte."
Sie schaut ihn an, trinkt einen Schluck Wasser.
"Lass uns weiterfahren, es ist der richtige Weg."
"Ok.", sagt sie.
Sie fahren weiter, alles wie gehabt. Er hat seine Freude verloren, will nur an ein Ziel kommen. Er hasst diesen Weg. Die Straße windet sich weiter hinauf und hinter jeder Kurve folgt eine neue.
"Es wird bald dunkel. Scheiße!"
Sie nickt.
Er versucht an etwas anderes zu denken, als an Weg und Ziel, nimmt das Tempo heraus, fährt wieder schneller. Es ist ein schöner Tag, er ist nicht allein. Aber er hat es nicht geschafft, keine Angst zu haben.
Etwas reißt ihn aus dem Trott. Sie sind an einem Wendepunkt. Er hat es immer gewusst, jetzt hat er die Gewissheit.
"Wir sind falsch, total falsch."
Sie schaut ihn an.
"Ich habe auch angefangen, mir Sorgen zu machen. Schon vor einer Weile."
"Wir sind nicht allein."
Ein Auto steht auf dem Platz. Es hat ein ausländisches Kennzeichen. Im niedrigen Unterholz stehen gebückt zwei Frauen. Sie tragen Kopftücher und sammeln Beeren in einen Eimer.
"Wir müssen ganz zurück."
Er ist wütend - und erleichtert.