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Himmlische Früchte
Über dem Glasdach trieben Wolken wie aus Zuckerwatte.
Drinnen war es warm und die Blüten in den Vasen auf den Tischen begannen sich zu öffnen. Bäume marschierten in strengen Alleen. In der windlosen Halle standen die Blätter still.
Mein Vater erklärte, dass es sich um Züchtungen handelte, die niemals unter freiem Himmel gewachsen waren. Äpfel rot wie Paradiesäpfel steckten in ihrem Laub wie festgeschraubt.
Ich war durstig, aber die weißbeschürzten Kellnerinnen standen tablettlos am Rand.
Niemand kümmerte sich um uns. Ich bereute schon, meinen Vater auf den Messeball begleitet zu haben, als er an einem der hinteren Tische einen Kollegen entdeckte. Mein Vater winkte und wir eilten zwischen weißgedeckten Stehtischen auf ihn zu. Der Kollege war nicht allein.
Neben ihm stand seine Tochter, ebenso gelangweilt wie ich. Ihre dunklen Augen lächelten mich unter schwarzen Locken schüchtern an. Sie war jünger als ich, vielleicht zwölf. Vielleicht könnten wir zusammen etwas Spaß haben. Aber bevor ich sie ansprechen konnte, näherte sich eine Kellnerin.
Unsere Väter bestellten Bier.
„Und was möchtet ihr beiden?“ wurden wir Mädchen gefragt. Mir fiel nichts ein.
„Soll ich euch einen Apfelsaft bringen?“, schlug die Kellnerin vor, worauf wir wortlos nickten.
Ich schaute ihr nach, wie sie sich von unserem Tisch entfernte und einem der Bäume näherte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und fasste ins Laub.
Der Apfel, den sie mir reichte, schien aus Plastik zu sein. Der Stiel war ein Strohhalm, wie ich erst jetzt entdeckte, und ich schob ihn zwischen meine Lippen. Welch köstlicher Geschmack auf der Zunge!
Die Äpfel klangen beim Anstoßen dunkler als die Biergläser. Das andere Mädchen hieß Hannah und ich beneidete sie um ihre Locken. Ihr Apfel hatte grüne Wangen und sie hielt ihn vorsichtig in ihren weißen, weichen Händen.
Wir lächelten uns verstohlen an, während wir uns aufs Trinken konzentrierten. Unsere Väter unterhielten sich über Dinge, von denen wir nichts verstanden. Nach dem Austrinken stellte ich meinen Apfel auf den Tisch. Aber er blieb nicht liegen, sondern schwebte davon.
Ich versuchte ihn zu fangen und stolperte hinter ihm her. Aber raffiniert entzog er sich meinen ausgestreckten Händen und hob sich in die Lüfte, leicht wie ein Luftballon. Auf seinem taumelnden Weg zur Decke tanzten weitere Früchte um ihn herum: Orangen, Pfirsiche, schwerfällige Bananen. Völlig außer Atem näherte ich mich wieder unserem Tisch.
Hannah hatte ihren Kopf verträumt in den Nacken gelegt und während sie nach oben schaute, starrte ich auf die zarte Wölbung ihrer Brüste.
Hannahs angetrunkener Vater schüttelte einen Baum, aber kein Apfel purzelte heraus. Ich fand lustig, dass auf einmal jeder Apfelsaft trinken wollte. Selbst mein Vater. Kellnerinnen stocherten mit langen Kirschpflückern im Laub, um die oberen Baumhälften zu ernten und mühten sich die Durstigen zu versorgen, die staunend zur Decke schauten.
Es fiel niemandem auf, wie sich um einen der Bäume der Boden senkte. Ein kreisrundes Loch tat sich auf, in dem zunächst der Stamm versank. Äste und Krone folgten, bis der ganze Baum verschwunden war. Das Loch im Boden schloss sich langsam, wie die Blende meiner Kamera und es war, als hätte dort nie ein Baum gestanden. Wie es unten wohl aussah? Ich hatte versucht, in der Tiefe etwas zu entdecken, aber es war zu dunkel gewesen.
Glocken tönten plötzlich hell aus der Ferne, in die sich lauter werdendes Hundegebell mischte. Huskies zogen einen Schlitten mit einem riesigen Tablett, auf dem sich ein Dessert befand: eine Eislandschaft mit Eisbären und Pinguinen, ein großzügiger Vanilletraum, miniaturisierte Schneeskulpturen. Ein Künstler musste dem Koch beratend zur Seite gestanden haben. Mit winzigen Gabeln versuchten die Ersten etwas Eis von den Bergen abzutragen. Ich fand das unhygienisch und verstand nicht, warum niemand einschritt. Hannah und ich bewunderten die filigrane Schlittschuhläuferin, die auf dem zugefrorenen Wassereis-See ihre Pirouetten drehte, überzuckerte Waldmeisterbäume standen um sie herum.
„Hannah, bück dich mal tiefer und schau dir die Tänzerin genauer an!“, forderte ich meine neue Freundin begeistert auf, nachdem ich entdeckt hatte, dass der Künstler sich einen Scherz erlaubt hatte: die Tänzerin war unter ihrem Eisröckchen nackt. Man konnte bei näherem Hinsehen alles erkennen, die winzige Teilung ihres Pos, sogar den Haarflaum zwischen ihren Beinen.
Weitere Landschaftspanoramen wurden hereingefahren. Ausgehöhlte Paprikaboote schwammen auf brodelnder Suppe, Teelichter leuchteten in ihrem Inneren. Wunderkerzen-Berge wetteiferten mit fein ziselierten Butterpferden. Ich hätte nie gedacht, wie gierig Erwachsene sein konnten. Anzüge, rückenfreie Abendkleider verstellten uns den Weg zu den Büffets. Immerhin gelang es Hannah, ein paar Weintrauben zu ergattern. Frustriert wandten wir uns ab, als wir zufällig bemerkten, wie erneut ein Baum seine unterirdische Reise antrat.
Die Rasenscheibe war schon einen halben Meter abgesunken und bewegte sich langsam tiefer, als ich ohne nachzudenken über die Umrandung stieg.
„Komm, schnell,“ rief ich Hannah von meinem schwankenden Ort zu.
Ihre dunklen Augen schauten ängstlich zögernd auf mich hinab, da setzte sie sich auf den Rand der Öffnung. Ihre Beine schwebten über mir und ich bekam selbst Angst, dass sie beim Sprung in die Tiefe daneben zielen könnte. Das Podest war mittlerweile schon einen Meter gesunken, randlos in der Schwärze unter dem Boden. Es wackelte ganz schön, als Hannah neben mir landete. Wir hielten uns am Baumstamm fest. Ich spürte ihren zitternden Körper, ihre andere Hand fasste schutzsuchend nach meinem Bauch, sie war kalt, es war, als berührte mich die Eistänzerin auf dem Büffet hoch über uns.
„Was wird unten sein?“, flüsterte Hannah in mein Ohr. Ich wusste es selbst nicht. Ein kühler Luftzug wehte uns entgegen. Eine Reise in eine grüne, dunkle Tiefe. Ich genoss, wie Hannah mir vertraute, obwohl ich langsam selbst Angst bekam. Ein ziemlich unüberlegter Einfall. Schon bald würden unsere Väter uns vermissen. Und kämen wir überhaupt wieder nach oben?
Allmählich wurde es heller, aber vielleicht hatten sich nur unsere Augen an das grüne Licht gewöhnt. Es war, als würde man durch gefärbtes Bonbonpapier schauen. Die Ankunft unten war sanft. Unsere Plattform versank in einer Aussparung, so dass wir auf ebenerdigem Boden landeten. Ich musste an Frau Holle denken. Als würden wir auf einer geheimnisvollen Wiese erwachen, nur dass hier unten keine Blumen blühten. Der Kunstrasen dehnte sich vor unseren Füssen wie ein riesiges, unterirdisches Fußballfeld. Und mittendrin ein Wald aus Metallmasten, die bis zur Decke reichten. Um jeden Mast ein Loch. Als hätte jemand mit einem überdimensionierten Plätzchenausstecher Kreise aus dem Rasen ausgestochen. Landeplätze für abgeerntete Bäume.
Jetzt war es Hannah, die voller Begeisterung losrannte, um die neue Welt zu entdecken. Sie versteckte sich zwischen den Metallbaumstämmen, rollte kichernd über den Rasen, beinahe sah es aus, als wollte sie ein Rad schlagen.
„Was ist, du stehst so komisch in der Gegend rum“, sagte sie und knuffte mich in die Seite. Vergnügt rannte sie vor mir weg und als ich sie einholte, fielen wir beide auf den Boden, lachend. Es war aufregend, sie so dicht neben mir zu spüren. Ihr Haar duftete, das Weiß ihrer Augen schimmerte grünlich und ich konnte mich in ihren Pupillen spiegeln. Wenn sie lachte, leuchteten ihre Zähne im Dämmerlicht und ich bekam Lust sie zu küssen.
„Warum schaust du mich so ernst an?“ fragte sie, aber nicht beunruhigt, eher belustigt, mit einem neugierigen Unterton. Aber bevor ich etwas antworten musste, öffnete sich über uns die Decke. Eine Plattform sank an einem der Metallmasten hinab und bald erkannten wir Äste und Laub. Und ehe sich die Decke wieder schloss, erhaschten wir ein Stück vom Himmel, in dem Tausende von Früchten schwebten.