Himmelsstürmer
Stell dir vor, du bist ein Bergsteiger. Keiner dieser Hobbyalpinisten, die hin und wieder einen dieser kleinen dreitausender in den Alpen bezwingen. Nein, nicht so einer, sondern ein wirklicher Profi der das Bergsteigen zu seinem Lebensinhalt gemacht hat. Sagen wir: Einer von den wenigen Tausenden die schon den Mt. Everest bestiegen haben. Nicht nur einmal, sondern schon so oft, dass du die Zahl deiner Gipfelsiege am Everest schon längstens vergessen hast. Stell dir vor, du warst auch schon auf allen anderen der vierzehn achttausender. Einmal sogar auf dem K 2, dem zweithöchsten Berg der Erde. Dort warst du jedoch nur einmal, danach hattest du Angst vor diesem Berg. Natürlich wusstest du schon vorher, dass es der mit Abstand schwierigste, gefährlichste und tödlichste Gipfel auf der Erde ist, und du hast auch die Statistiken gekannt, die dir sagten, dass jeder vierte Gipfelstürmer für immer auf diesem Berg bleiben wird. Doch du warst sehr ehrgeizig und hast trotzdem versucht diesen Beg zu bezwingen. Am Ende hattest du Erfolg und konntest den Gipfel erreichen. Was für ein unbeschreibliches Glück hast du in deinem Körper gefühlt, als du dort oben am Gipfel die Aussicht über die Schneeweisen Gipfel des Karakorum betrachten konntest. Als du oben am Berg standest dachtest du nicht daran, dass das Unglück beim Abstieg passieren wird. Alles machte einen so sicheren Eindruck, du hattest die Gefahr nicht herbeikommen sehen. Plötzlich fühltest du dich, als ob du durch die Luft schweben würdest. Der Fall dauerte nicht lange, aber lange genug damit du mit deinem Leben abschließen konntest. Dann wurde alles schwarz vor deinen Augen und du wurdest von einem Licht geblendet. In dem Moment dachtest du schon, dass du im Paradies bist. Doch das Licht kam nur von der Sonne, die dich blendete. Im selben Moment erschütterten diese schrecklichen Schmerzen deinen Körper. Du schriest dir die Seele aus dem Leib und dein einziger Wunsch war zu sterben, nur damit du endlich von diesen entsetzlichen Qualen erlöst wirst. Aber aus irgendeinem Grund war dein Leben, nicht dazu bestimmt, dort oben am K 2 zu enden. Als du so dalagst, versuchtest du deine Arme zu bewegen, aber du hattest keine Kontrolle mehr über sie. Du warst gelähmt.
Nehmen wir an, dass du das alles noch einmal erlebst. Wieder fällst du unaufhaltsam dem Boden entgegen. Du kannst den Felsvorsprung sehen, auf dem dein Körper landen und sterben wird. Du weißt, diesmal wirst du keine Schmerzen wie damals im Karakorumgebirge spüren. Irgendwie macht dich dieser Gedanke glücklicht. Du weißt: Etwas ist diesmal merkwürdig und ganz anders als am K 2. Du kannst nicht sagen, was es ist. Es scheint dir, dass die Zeit diesmal in Zeitlupe vergeht.
Der freie Fall erinnert dich an deinen letzten Fallschirmsprung. Damals glaubtest du wie ein Vogel über die Landschaft fliegen zu können, alles war so klar und schien in Zeitlupe zu vergehen. Du fühltest dich wie erleuchtet und warst fasziniert von diesem Gefühl. Plötzlich hattest du die Kontrolle über deinen Körper verloren, ähnlich wie am K2. Nur diesmal nicht weil deine Wirbelsäule zerschmettert war, sondern weil du es innerlich so wolltest. Du wusstest, dass es Zeit war den Schirm zu öffnen, aber du wolltest nicht, dass dieses unbeschreiblich schöne Gefühl der Freiheit endet. In einem kurzen Augenblick der Vernunft versuchtest du noch an der Reißleine deines Fallschirms zu ziehen, aber deine Hände gehorchten dir nicht. Du hattest schon längstens jegliche Kontrolle über dich selbst aufgegeben. Vielleicht glaubtest du in diesen Momenten, dass du ewig so weiter fliegen könntest. Du konntest den Boden auf dich zurasen sehen, so wie du jetzt diesen Felsvorsprung siehst der immer näher kommt. Damals beim Fallschirmsprung warst du dir sicher, dass du nicht sterben wirst, und du hattest Recht, denn im letzten Moment öffnete sich das automatische Öffnungssystem deines Reserveschirms. Nach diesem Vorfall bist du nie wieder aus einem Flugzeug gesprungen, aber eine Zeitlang träumtest du fast täglich von diesem unbeschreiblichen Gefühl der Erleuchtung. Du erlebtest es noch einmal kurz beim Absturz am K2 und du dachtest dir wie schön es gewesen wäre, mit diesem Gefühl zu sterben.
Danach träumtest du nur noch davon wieder gehen zu können. Du hast versucht jeden Tag Fortschritte zu machen, wie klein und unbedeutend sie auf den ersten Blick auch sein mochten. Du warst glücklich als du wieder deine Finger bewegen konntest, bald konntest du wieder deine Hände kontrollieren, und nach langem Training lerntest du wieder zu gehen. Anfangs machtest du nur kleine Schritte, aber nach Monaten hattest du wieder, die Kontrolle über deinen Körper zurückerlangt. Jetzt siehst du deine Genesung noch einmal in Zeitlupe vor dir. Fast in Zeitlupe siehst du auch die Felswände neben dir vorbeiziehen und du wunderst dich darüber. Eigentlich hättest du schon längstens auf diesem Felsvorsprung aufprallen müssen und noch etwas anderes ist komisch. Du kannst zwar die Kälte spüren die an diesem Ort herrscht, auch wenn du durch deinen dicken Schutzanzug vor ihr geschützt bist, aber du siehst kein Eis oder Gletscher, wie am Himalaja oder im Karakorum, sondern nur rötliche Felsen.
Jetzt erinnerst du dich an deinen neuen Traum, den du nach deiner Genesung hattest. Du hast davon geträumt, wieder einen Berg zu besteigen, aber keinen von diesen kleinen in den Alpen, sondern einen richtigen Giganten im Himalaja. Du siehst jetzt wieder die Szene vor dir, als dich deine Frau anflehte, das Bergsteigen doch aufzugeben. Doch du ignoriertest sie, dein Ehrgeiz war damals einfach zu groß und du versprachst ihr nur, nicht wieder zum K2 zurückzukehren. Wahrscheinlich weil du selbst zu große Angst vor diesem Berg hattest. Trotzdem wolltest du noch einmal am Gipfel des Everest stehen. Nach langem hartem Training konntest du dir auch diesen Traum erfüllen und plötzlich warst du berühmt. Deine Frau hoffte sehnsüchtig, dass jetzt alles vorbei sei, und auch du wolltest mit dem Himmelstürmen aufhören, doch dann bekamst du dieses Angebot, welches du nicht ausschlagen konntest. Es war dir bewusst, dass dich diese Expedition unsterblich machen würde und du stimmtest zu. Natürlich versuchte deine Frau alles um dich davon abzuhalten, aber deine Leidenschaft war stärker, denn wo sonst hättest du noch eine Möglichkeit, als einer der ersten Menschen, einen weit höheren Gipfel als den Mt. Everest zu besteigen.
Jetzt beginnst du langsam zu verstehen, warum der Absturz diesmal viel länger dauert, als damals am K 2.
Angenommen du bist dieser Bergsteiger, wird dir in diesem Moment einfallen, dass alleine die Felswand von der du dich abseilen wolltest acht Kilometer hoch ist, und dass an diesem Ort eine weit niedrigere Schwerkraft als auf der Erde herrscht. Das letzte was du siehst, ist dieser Felsvorsprung auf dem du im nächsten Moment aufprallen wirst und du weißt, dass es diesmal keine Schmerzen und auch keine Genesung geben wird. Dann kommt dir dein letzter Gedanke, du siehst deine Frau wie sie dich anfleht und anschreit: „Geh nicht! Besteige nicht den Olympus Moons, du wirst am Mars sterben!“ Danach folgt nur noch Dunkelheit.