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Himmel und Hölle
Seit über zwei Stunden gingen wir steil bergauf. Blauer Dunst lag über den niedrigen Bergrücken, aber der Feldberg strahlte in der Junisonne. Ein schmaler Pfad schlängelte sich durch die Wiesen. Es roch nach geschnittenem Gras. Ein alter Mann mit einer Sense schaute kurz zu uns herüber, dann mähte er weiter. Meine Mutter trug neben ihrem Rucksack links eine Stofftasche, rechts einen Stecken, den sie unten im Waldstück aufgelesen hatte.
„Für dich“, sagte sie, nach Luft schnappend, „da kannst du deinen Beutel dranhängen.“
„Ich brauch aber keinen Stock“, sagte ich, sprang drei Schritte vor und einen zurück, wie bei den Hüpffeldern, die wir mit Kreide auf den Pausenhof in der Schule gemalt hatten.
„Du wirst ihn schon noch brauchen. Am besten machst du gleichmäßig langsame Schritte, das strengt nicht so an.“
„Ist es noch weit?“
Mutter deutete in die Ferne.
„Siehst du die zwei Kirchtürme? Sie gehören zum Kloster. Von dort aus geht es wieder abwärts zum Finkenhof. Eine Stunde noch, allerhöchstens. Aber jetzt machen wir erstmal Pause.“
Wir setzten uns auf den höher gelegenen Wegrand ins Gras und streckten die Beine aus.
Unten im Tal verschwand die Eisenbahn mit drei gellenden Pfiffen im Tunnel. Ich wusste, dass sie jetzt nach „Höllental“ fuhr. Die Station vorher hieß „Himmelreich“, und da waren wir gegen Mittag ausgestiegen.
Mama streckte mir die zerbeulte Wasserflasche hin.
„Trink“, sagte sie streng, „der Doktor hat gesagt, du musst viel trinken. Vor allem Milch. Ich werd's der Rosel nochmals ans Herz legen, mindestens einen Liter am Tag.“
Ich biss einen großen Happen vom Vesperbrot ab. Margarine und Kunsthonig, das mochte ich nicht besonders. Aber ich war hungrig.
„Was sind Kavernen, Mama?“
„Wie bitte? Ich kann dich so schlecht verstehen.“ Mama schaute streng.
Ich schluckte hastig.
„Kavernen, Mama, der Arzt hat doch gesagt, es seien noch Kavernen da.“
„Na ja, in deiner Lunge sind noch ganz kleine Hohlräume. Die müssen ausheilen, deswegen sollst du ja auch auf einen Bauernhof. Frische Luft und gute Ernährung. Und auf keinen Fall darfst du deine Medizin vergessen, hörst du? Rosel wird sie dir geben. Du musst ihr folgen. Immer. Und jetzt komm.“
Meine Tante Rosel, Mamas Kusine, kam gerade mit einem voll beladenen Wäschekorb aus dem Garten, als wir in den Hof stolperten. Sie stellte ihn ab und musterte mich von oben bis unten. Sie gab mir nicht die Hand, umarmte mich auch nicht. Da wusste ich gleich, dass ich Mama schwer vermissen würde.
„Du bist also die Monika. Jetzt kommt rein, ihr werdet Hunger und Durst haben.“
In der Stube war es schön kühl, aber ziemlich düster. Ich musste nach dem grellen Sonnenlicht draußen erst einmal blinzeln. Tante Rosel blieb in der Tür stehen und sah uns abwartend an.
„Ist es recht, Milch und Butterbrot? Kaffee gibt’s später. Und Monika, dann zeig ich dir, wo du schlafen wirst. Wenn du willst, gehen wir später einmal durch den Stall. Aber das hat auch bis morgen Zeit.“
„Rosel, wir haben ja das meiste schon besprochen. Ich kann nachher den Bus zum Bahnhof nehmen und möchte deshalb nur noch wegen der Nachbarskinder ..."
Meine Mutter ging Tante Rosel in die Küche hinterher. Wahrscheinlich wollte sie ein paar Dinge bereden, die ich nicht unbedingt hören sollte. So hatte ich Zeit, mich umzuschauen.
Mir war sofort klar: Das hier war ein sehr alter Bauernhof, mit Kachelofen und Herrgottswinkel, genau wie in dem Buch über Schwarzwaldsagen, das ich zum zehnten Geburtstag bekommen hatte. Die gute Stube. Ich hatte gelesen, dass sie nur sonntags, oder wenn Besuch kam, benutzt wurde.
Eine Uhr tickte laut in die Stille. Sie hatte ein bunt bemaltes Ziffernblatt mit einem Türchen und Ketten zum Aufziehen. Bestimmt war es eine Kuckucksuhr. Über dem Tisch baumelte ein Fliegenfänger von der Lampe herab. Wahrscheinlich hing er schon lange da, mindestens fünfzig fette Fliegen klebten an der braunen Spirale. Ekelhaft. Und wenn sie nun in den Milchtopf oder auf mein Butterbrot fallen würde? Zwei Wespen flogen zornig gegen die winzigen Fensterscheiben. Ich hockte mich auf den Rand der Sitzbank, bereit, jederzeit aufzuspringen, wenn mich eines dieser Ungeheuer angreifen würde. Als die Uhr viermal schlug, öffnete sich das Türchen, aber ein Kuckuck erschien nicht. Eine kaputte Kuckucksuhr. Wie blöd. Und hier sollte ich es sechs Wochen aushalten? Mama hatte mir keinen Besuch zwischendurch versprochen. Nur im Notfall, hatte sie gesagt, der Doktor findet es besser so.
Der Rundgang im Haus beschränkte sich auf die Küche und die Schlafräume darüber. Mama blieb noch bis in die frühen Abendstunden. Dann fuhr sie mit dem Postbus davon und ich saß heulend auf dem schmalen Bett in einer Dachkammer, aus der ich gerade mal den Gemüsegarten und ein Stück Weg sehen konnte.
Tante Rosel schüttelte das dicke Federkissen auf.
„Aber, aber“, sagte sie und hob kurz die Hand, als wolle sie mir über die Haare streichen. „Das wird schon. Schau mal her, vielleicht liegt da was drin, das du brauchen kannst.“ Sie seufzte und schob mir eine kleine, mit Rosen bemalte Holztruhe vor die Füße. „Sie hat einem Kind gehört …Wenn du deine Sachen in den Schrank geräumt hast, komm wieder runter. Der Bauer und Eugen wollen dich auch kennenlernen. Das wird schon, Maidli.“
Ich starrte eine halbe Stunde zum Fenster hinaus, dann raffte ich mich auf. Es half ja nichts. Zuerst legte ich meine wenigen Kleidersachen in die beiden untersten Fächer. Die oberen waren vollgestopft mit Bettwäsche und Wolldecken. Alles roch nach Mottenkugeln. An einer Stange hingen dicke Jacken und schwere, dunkle Trachtenkleider, eins auch in Kindergröße. Morgen vielleicht würde ich es mir genauer ansehen.
Meine drei Bücher legte ich auf den Stuhl neben dem Bett. Zu der weißen Schüssel und dem mit Wasser gefüllten Krug auf der Kommode kam der Kulturbeutel mit der Zahnbürste, der Speickseife, dem Kamm und den Gummiringen für die Zöpfe. Mama hatte ihn extra genäht und mir noch einen Taschenspiegel spendiert.
„Halt deine Sachen beieinander. Lass nichts rumliegen“, hatte sie mich beim Abschied ermahnt und gleichzeitig heftig gedrückt. „Ach Gott, hoffentlich geht alles gut.“
Ich war noch nie von zuhause weg ohne meine Mutter.
„Warum hab ich nur so wenig Bücher mitnehmen dürfen?“
„Du sollst ja nicht im Haus rumhocken, sondern an die Luft gehen. Vielleicht nimmt dich der Eugen mit zum Viehhüten.“
„Wie bei der Heidi und dem Geißenpeter?“
„So ähnlich. Aber zum Eugen muss ich dir noch was sagen. Der Eugen ist ein wenig merkwürdig. Der spricht nicht so viel. Und er sieht auch ein bisschen komisch aus.“
„Was heißt 'komisch'?"
„Halt um die Augen herum. Schon als er auf die Welt gekommen ist, sind die ganz schräg gewesen. Es ist eine Krankheit. Aber Tante Rosel sagt, er ist ganz lieb. Und er hilft ihr sehr im Stall, wo doch Onkel Franz immer noch als vermisst gilt. Vierzehn ist er jetzt und ganz schön stark. Ach, und dass ich's nicht vergesse, auf dem Moosbachhof gibt's zwei Kinder in deinem Alter. Mit denen könntest du spielen und in den Gumpen baden, wenn das Wasser nicht zu kalt ist. Der Hof ist ganz in der Nähe. Man kann ihn sogar von hier aus sehen. Das sind reiche Bauern. Ich kenn' die noch vom Hamstern. Da gehörten sie zu den Großzügigen.“
Wenn die reich sind, überlegte ich, haben die bestimmt nicht nur ein Plumpsklo draußen und eine Waschschüssel im Schlafzimmer. Was mach ich bloß, wenn ich nachts aufs Klo muss? Über den Hof gehen? Ohne Licht?
Schließlich traute ich mich auch an die Holztruhe heran. Sie war nicht verschlossen. Als erstes fiel mir ein Körbchen mit Tierfiguren in die Augen, alle aus Holz geschnitzt, die größte ungefähr so lang wie meine Handfläche und manche bemalt. Es gab zwei Kühe, die eine schwarz-weiß gefleckt, die andere braun, einige Gänse, Enten und Hühner, auch einen Hund. Dazu mehrere zerbrochene Teile, bestimmt waren es Bruchstücke von einem Stall oder einem Gatter. Eine Ziege hatte sich darin verfangen.
Ich stellte die Figürchen auf dem Boden auf. Die braune Kuh hielt sich nur mühsam auf ihren drei Beinen. Überhaupt sahen die Tiere reichlich mitgenommen aus. Ob Eugen so sorglos mit ihnen umgegangen war?
Jetzt war meine Neugierde geweckt. Ich legte einen Stoß alte Leinentücher auf die Seite. Aha, eine Schiefertafel und ein Griffelkästchen. So was hatte ich auch noch zuhause. Seit langem schon schrieben wir aber auf Papier, meistens mit Blei. Im Herbst sollte ich aufs Gymnasium gehen und ich würde einen Füller bekommen, einen Pelikan. Ich freute mich schon darauf.
Auf der Tafel stand etwas, leicht verwischt:
Wir basteln ein Spiel: Himmel und Hölle. Nimm dazu …
Der Rest war nicht mehr lesbar, aber das war auch gar nicht nötig. Ich wusste, wie man das Spiel bastelte. Man brauchte dazu lediglich ein Blatt Papier, es musste quadratisch sein, und zwei verschiedene Farbstifte, rot für die Hölle, blau für den Himmel. Zum Glück hatte ich ein Ringbuch dabei, von dem man die Blätter abreißen konnte. Und Buntstifte fand ich auch ein paar in meinem Rucksack.
Ich packte die Tierchen wieder in die Kiste und machte mich ans Werk.
Erst nach mehreren Versuchen klappte es mit dem Falten und ich begann, die Fächer auszumalen. Ich war so vertieft, dass ich ordentlich zusammenfuhr, als neben mir jemand etwas auf den Boden stellte.
„Du bist ganz schön schreckhaft, Moni, wovor hast du denn Angst?“
„Keine Angst, es ist nur … ich hab halt die Zeit vergessen.“
„Ja, wie meine Marianne, die musste man auch immer mehrmals rufen.“
„Marianne?“
„Der gehörten die Sachen da. Aber das erzähl ich dir ein andermal. Wie ist das mit dem Hunger oder Durst? Kommst du noch nach unten?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Der Topf da ist ein Nachttopf. Elektrisches Licht haben wir nicht. Auf der Treppe steht nachts eine Stalllaterne. Aber die muss da stehen bleiben. Wenn was ist, kannst du mit dem Besenstiel dort auf den Boden klopfen. Ich schlaf direkt unter dir. Also dann, b'hüt dich Gott.“ Sie schlug das Kreuz und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
Wie anders sie doch war als meine Mutter! Strenge schwarze Augen. Noch kein einziges Mal hatte sie gelacht, nicht einmal, als ich sie nach dem ausgeflogenen Kuckuck gefragt hatte. Konnte sie mich vielleicht nicht leiden?
Ich vergrub mich in den Kissen, versuchte, in der Dämmerung noch ein paar Seiten zu lesen. Unten aus dem Stall kam dumpfes Muhen, zwei Katzen kreischten und fauchten, schließlich fielen mir die Augen zu.
Es war nicht leicht, mich einzugewöhnen. Der alte Bauer, Rosels Schwiegervater, redete nicht viel. Und wenn er etwas sagte, stieß er die Worte aus seinem zahnlosen Mund, so dass die Spucke umherflog. Immerhin erklärte er mir, wie man Speck richtig schneidet.
„Die Stadtleut' verstehn nix davon“, zischte er und schnitt eine dicke Scheibe davon bedächtig in kartondünne, rotweiße Streifen. Die raffte er mit schwarzgeränderten Fingern zusammen, häufte sie auf ein Stück Bauernbrot und schob es mir über den Tisch zu. Nur beim ersten Mal musste ich mich überwinden, danach trieb ich mich immer in seiner Nähe herum, wenn er ein Brett und sein scharfes Messer auf den Tisch legte. Milch, Honig und Butter gab es reichlich. Auch Gemüse und Kartoffeln, Mama hätte nichts zu klagen gehabt.
Mein größtes Problem war Eugen, der schweigsame Junge mit den merkwürdigen Augen. Ich hatte Angst vor ihm. Abends am Küchentisch starrte er mich an und grinste, drehte schnell den Kopf weg, sobald ich etwas zu ihm sagte. Manchmal schlich er hinter mir her, vor allem, wenn ich meinen Nachttopf zum Plumpsklo über den Hof tragen musste. Schaute ich mich um, sprang er davon. Ich hasste den Topf und schwor jeden Abend, ihn nicht zu benutzen. Aber ich musste ja ganz viel trinken.
Morgens trieb Eugen die Kühe auf die Weide oder half dem Bauern beim Misten. Der Gestank war überall. Gestank und erst recht die großen, schwarzen Spinnen. In jedem Winkel saßen sie und glotzten mich an. Ich konnte mich nicht daran gewöhnen. Um den Stall machte ich einen großen Bogen. Nicht einmal die gerade geborenen Kälbchen lockten mich. Am liebsten hielt ich mich im Garten auf, wo ich Tante Rosel beim Bohnenpflücken oder Gießen half.
„Und vergiss die Geranien an den Fenstern nicht, so üppig blühen sie nicht jedes Jahr.“ Die Geranien waren Tante Rosels ganzer Stolz.
„Es ist eine neue Sorte, aus dem Elsass, die gibt es noch nicht lange in Deutschland.“
Meine drei Bücher von Erich Kästner, meinem Lieblingsschriftsteller, waren im Nu ausgelesen. Ich dachte an das Schwimmbad zu Hause und vermisste meine Freundin Lore.
„Mama hat gesagt, ich kann in den Gumpen baden. Wo sind die eigentlich?“, fragte ich nach einigen Tagen, als die Sonne schon um elf Uhr vom Himmel stach.
Tante Rosel ließ die Hände in den Brotteig sinken.
„Bei den Gumpen hast du nichts verloren. Niemand von uns geht dahin.“
„Aber Mama hat gesagt ...“
„Egal was deine Mama gesagt hat, zu den Gumpen geht niemand von uns.“
So schroff hatte ich sie noch nie erlebt, ganz weiß um die Nase, die Lippen zu einem Strich zusammengepresst. Ich spürte, wie der Kloß in meinem Hals wuchs und der Zorn. Jetzt würde ich erst recht nach den Gumpen schauen. Am Moosbach, hatte Mama gesagt. Sie hatte aber auch gesagt, dass ich Tante Rosel gehorchen müsse.
Den Rest des Tages verkroch ich mich in meiner Kammer mit einem Stapel Bauernkalender, den ich in der guten Stube gefunden hatte. Tante Rosel stellte mir einen Teller Pfannkuchen mit Zimt und Zucker vor die verschlossene Tür.
„Ich hab dir im Hof einen Zuber mit Wasser aufgestellt, da kannst du baden.“ Ich gab keine Antwort, aber die Pfannkuchen ließ ich mir doch schmecken.
Eugen kam nie herauf in meine Kammer. Einmal erwischte ich ihn dabei, wie er auf der untersten Treppenstufe saß, einen Beutel neben sich, in dem etwas zappelte. Als er mich sah, warf er ihn zwei Stufen höher und stapfte pfeifend davon. Nie im Leben hätte ich nachgeschaut, was sich in dem Beutel befand. Er hing später am Gartenzaun. Da zappelte nichts mehr.
Im Bauernkalender kreuzte ich die Tage seit meiner Ankunft an. Jedes Kreuzchen brachte mich ein Stückchen näher nach Hause. Aber die Zeit dehnte und dehnte sich. Abends im Bett weinte ich manchmal.
Eines Morgens lief Eugen nicht vor mir weg, als ich mit dem Nachttopf aus der Haustüre trat. Er stellte sich vor mich hin und streckte mir eine schmutzige Hand entgegen.
„Gib!“ Seine Stimme klang hoch und dünn, in seinem Hals kletterte etwas rauf und runter, als ob er einen kleinen Apfel verschluckt hätte.
„Gib her!“ Plötzlich war seine Stimme so tief wie die seines Opas.
Ich drückte den Hafen gegen die Brust.
„Geh weg, lass mich in Ruhe!“
Eugen riss den Mund auf und lachte lautlos. Er breitete die Arme aus und versperrte mir den Weg.
Seine Stimme schoss wieder in die Höhe, klang schrill und aufgeregt.
„Du musst aber! Eugen muss auch. Eugen will ..“
„Hau ab, du blöder Depp! Ich sag's deiner Mama!“, schrie ich in höchster Not und versuchte, unter seinen Armen durchzurutschen.
Eugen stellte mir ein Bein und riss mir den Topf aus den Händen. Der knallte scheppernd auf den Boden. Sein Inhalt versickerte zwischen den Pflastersteinen. Meine Backen glühten, ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte.
Eugen hob den Topf auf, besah ihn von allen Seiten und klopfte auf die Beule, wo das Emaille abgesprungen war. Seine schwarzen Augenbrauen bildeten einen waagrechten Strich.
„Kein blöder Depp. Kein blöder Depp!“ Er stellte den Topf auf die Bank neben der Haustür und schlurfte in den Stall.
Von da an goss ich Tantes Geranien mit meinem Pipi. Heimlich. Schließlich wusste ich ja, dass man Gülle auch auf die Felder fuhr. Eugen bekam keine Gelegenheit mehr, mich abzupassen. Im Garten gab es eine kleine Hütte, dort schuf ich mir mit Strohballen und dem Zuber eine kleine Zuflucht. Die Tante ließ mich gewähren. Auf sie wartete genug Arbeit. Ich sammelte Butterblumen, Vergissmeinnicht und Rosenblätter. Zum Pressen legte ich sie zwischen die Bauernkalender und beschwerte das Ganze mit Steinen. Wenn sie trocken waren, kamen sie in meine drei Bücher.
Im Zuber badete ich, wenn niemand in der Nähe war. An manchen Tagen sprach ich höchstens drei Sätze. Zum Moosbach traute ich mich nicht mehr, ich hatte Angst vor Tante Rosels strengen Blicken. Mein Heimweh wuchs und wuchs. Und trotzdem bekam ich allmählich runde Backen und braune Waden.
„Ich möcht' bloß wissen, was mit den Geranien los ist. Die Erde ist feucht und Dünger haben sie auch genug.“
Tante Rosel zupfte die welken Blüten und Blätter ab, lockerte mit einem Stöckchen den Boden und roch daran. „Weißt du vielleicht, woran es liegt, Monika?“
Ich wich ihrem Blick aus und schnappte Besen und Kehrschaufel.
„Monika, schau mich an. Kann es sein, dass du den Nachttopf in die Blumen gegossen hast?“
Ich schwieg. Jetzt kam alles heraus! Ich merkte, wie sich mein Magen zusammenzog.
„Los emol, Maidli, du muesch nit schwindle“, sagte Tante Rosel nach einer längeren Pause, in der sie weiter in den Geranien herumstocherte, aber es klang überhaupt nicht böse, fast wie bei Mama, wenn ich was zu beichten hatte. Da brach der Ring, den das Heimweh um mein Herz gelegt hatte, und ich sprudelte allen Kummer heraus: Der blöde Nachttopf, Eugens Angriff, das Verbot, in den Gumpen zu baden, obwohl Mama mir es doch versprochen hatte.
Tante Rosel zog mich neben sich auf die Gartenbank.
„Der Eugen meint es nicht böse. Er wollte dir bloß helfen. Er kann es halt nicht so sagen. Du wirst es ja gemerkt haben.“
Sie musste erst einmal durchatmen, bevor sie weitersprach.
„Und das mit den Gumpen ...", Tante Rosel hielt inne und wischte ein paar Erdkrümel von der Schürze, "weißt du, er vermisst seine Schwester. Sie ... sie ist mit sieben in der tiefen Gumpe ertrunken, beim Spielen. Marianne wäre heut so alt wie du, Kind. Eugen hat sie damals retten wollen. Der Bauer und ich wissen nicht genau, wie es passiert ist. Eugen kann es uns nicht sagen. Nicht mal unser Herr Pfarrer hat etwas aus ihm herausgebracht.“
Tantel Rosel stand auf und strich ihren Rock glatt. „Ich werd' mit Eugen reden. Aber Angst musst du wirklich nicht vor ihm haben.“
So war das also. Eine traurige Geschichte, nun verstand ich den Kummer und auch das strenge Verbot. Und der Eugen sah in mir seine kleine Schwester? Das musste ich erst einmal verdauen. Und ich hatte ihn 'blöden Depp' genannt. Gemein von mir. Ich musste mir was einfallen lassen.
An einem verregneten Sonntagnachmittag setzte ich mich mit meinen Farbstiften und dem Schreibblock in die gute Stube und bastelte ein weiteres, stabiles Himmel-und-Hölle-Spiel. Eugen saß auf der Ofenbank und äugte zu mir herüber. Ich stülpte das fertig gefaltete und bemalte Ding über Daumen und Zeigefinger. Klappte es bei blau auf, sagte ich „Himmel“, bei rot „Hölle“. Das ging eine ganze Weile so, Eugen rührte sich nicht vom Fleck, schaute nur.
„Himmel, Hölle, Himmel, Hölle, Eugen, spiel doch mit!“ Eugen schluckte und rutschte hin und her.
„Eugen, schau doch, blau heißt Marianne, die ist im Himmel, rot heißt ...“
„Nein“, schrie Eugen, „nein! Eugen kommt nicht in die Hölle, Eugen wollte nur helfen. Rot heißt Teufel.“
„Aber das wollte ich doch nicht sagen. Bitte, Eugen, das weiß ich doch.“
Ich setzte mich neben ihn und sagte: „Es ist nur ein Spaß, komm, mach du mal. Du kannst es auch behalten.“
Und so brach das Eis. Eugen streckte einen Zeigefinger aus und strich vorsichtig über über das gefaltete Papierkreuz. Ich öffnete es und Eugen hatte den blauen Trichter erwischt. Er strahlte.
"Himmel ", gluckste er und seine Stimme sprang rauf und runter, "Eugen auch im Himmel."
Von da an wollte Eugen jeden Tag Himmel und Hölle spielen, mit mir, mit seiner Mutter und sogar mit dem Opa.
Eugen sagte nie etwas anderes als „Marianne!“ bei blau und „Nicht Eugen!“ bei rot.
Ich wiederum lernte barfuß laufen, Bienenstiche aushalten, ging, fünfzig Meter hinter den Kühen, mit Eugen auf die Weide, half Tante Rosel abends, Eier einzusammeln und natürlich, die Geranien zu gießen, die nach einer Woche schöner blühten als je zuvor. Dann waren die sechs Wochen vorbei.
„Kommt wieder“, sagte Tante Rosel und packte noch ein mächtiges Stück Speck in Mamas Rucksack, „der Eugen würd' sich freuen. Und natürlich ich auch. Ich brauch dich ja für die Geranien.“ Dabei zwinkerte sie Mama zu, die zurückzwinkerte.