Himmel und Hölle
Reinhard wusste genau, dass er sterben musste. Immer müder wurde er, und schliesslich schlief er ein. Reinhard wusste ganz genau, dass er in dieser Welt nicht mehr aufwachen würde. Dieses Leben war ganz einfach vorbei.
Reinhard hatte keine Angst. Sein ganzes Leben lang hatte er sich im stillen vor diesem Ereignis gefürchtet, aber nun, als es soweit war, empfand er nur eine nie gefühlte Freude.
Ihm war, als flöge er in eine Ferne, die er nur zu gut kannte. Und richtig, da war die-ses Etwas, von dem er immer einmal wieder geträumt hatte. In unserer menschlichen Sprache ist es am ehesten mit einem Tunnel zu beschreiben, ein endlos scheinender dunkler Tunnel.
Mit irrwitziger Geschwindigkeit raste Reinhard dahin und vergass Zeit und Raum.
Schliesslich konnte Reinhard einen winzigen Lichtfleck wahrnehmen, der ständig grö-sser wurde. Und schliesslich schwebte er in einem Meer aus Licht.
Hier gab es keine Wände, kein Oben und auch kein Unten. Und Reinhard fühlte, hier und sonst nirgends war er zu Hause, nach langer, viel zu langer Zeit.
Alles hier war ihm schon immer bekannt.
Ein Wesen kam auf ihn zu, das nur aus Licht bestand und ihm grossen Respekt ein-flösste. Und obwohl es keinen Mund hatte, sprach es zu ihm.
„Da bist du ja. Komm mit mir.“
Und das Wesen nahm Reinhard an der Hand und schwebte mit ihm aus diesem Ozean von Licht.
Reinhard glaubte seinen Augen nicht trauen zu können, als sie an einem grossen gol-denen Tor anlangten. Ganz genauso hatte er sich schon als Kind das Himmelstor ge-dacht. Das Wesen war verschwunden, wohl, um andere Verstorbene aus dem Licht-meer abzuholen. Doch seltsamerweise wusste Reinhard genau, was er zu tun hatte.
Er nahm den grossen goldenen Klopfring in die Faust und klopfte.
Ein kleiner Junge öffnete ihm. Einige Zentimeter über seinem Kopf trug er einen Ring aus Licht, an seinen Schulterblättern entsprangen Flügel, die fast bis zum Boden reichten.
„Halleluja, das bist du ja. Hosiana in der Höhe. Komm rein.“
Reden die hier seltsam, dachte Reinhard und sah den Jungen zweifelnd an: Wollte der ihn vielleicht ein kleines bisschen hoch nehmen? Nein, der tut nicht so, der ist so, wusste er im selben Augenblick.
Und Reinhard schwebte neben dem seltsamen Kind, wohin es ihn führte und immer noch in einem noch seltsameren Singsang murmelte.
„Halleluja, Hosiana in der Höhe. Kyrie eleison. Halleluja.“
Reinhard fasste sich an den Kopf und fühlte, dass er keinen mehr hatte. Das kann ja heiter werden, dachte er bei sich und wunderte sich nicht einmal mehr, dass er die Kunst des Denkens sogar ohne Kopf noch beherrschte.
Nun schwebten sie, der seltsame Junge und er, vor einem weiteren Tor, das jedoch nicht golden, sondern nur aus ur-uraltem, wurmstichigem Holz war und im übrigen nur halb in seinen Angeln hing. Auf ein kurzes vorsichtiges Klopfen sprang es schauer-lich quietschend auf, und wieder stand Reinhard allein.
Doch schon kam eine Gestalt auf ihn zu, etwas älter als der Junge, doch genauso selt-sam.
„Hosiana, endlich bist du da. Komm rein und lass dich erst einmal ausmessen. Halle-luja.“
Ausmessen?, dachte Reinhard bei sich. Doch da fühlte er schon ein Stück Gummi an seinem nicht mehr vorhandenen Körper und vernahm ein geschäftig eifriges Murmeln.
„Hemd Grösse B, Ehre sei dir in der Höhe, Hose Grösse A, Halleluja, Ehre sei dem Höchsten.“
Von irgendwo und nirgends kramte der Ältere ein lichtweisses Hemd und eine eben-solche Hose hervor. Reinhard wusste nicht wie, aber plötzlich trug er diese Sachen an seinem längst nicht mehr vorhandenen Körper und stand wieder draussen.
Und da war auch der Junge wieder, der noch immer in einem fort murmelte: „Hosian-na in der Höhe. Halleluja. Kyrie eleison.“
Alle haben sie einen kleinen Stich hier, ging es ihm auf. Ich muss acht geben, dass ich nicht auch noch abhebe!
Reinhard schwebte an der Seite des murmelnden Jungen an ein weiteres Tor, das noch viel kaputter und funktionsloser schien als das letzte. Hier konnte der Junge aber nicht mehr klopfen!
„Halleluja, da bist du ja endlich“, wurde Reinhard von einem Alten mit Lichtring über dem Kopf und Flügeln begrüsst, aber das kannte er inzwischen. Er glaubte nun endlich auch mal etwas sagen zu müssen und antwortete „Hosianna“, so automatisch, wie er auf Erden „Hallo“ gesagt hätte. Und nicht ganz so tief in seinem Innern, wie er eigent-lich gehofft hatte, zerriss es ihn fast vor Lachen.
Der Junge und der Alte, die beiden sahen ihm strafend ins nicht mehr vorhandene Ge-sicht.
„Was du tust gefällt dem Herrn, Ehre sei ihm, nicht, Halleluja.“
Sie sagten das so tonlos und ohne irgend eine Regung, wie sie alles andere sagten. Reinhard staunte: Können die denn niemals wütend werden? Na, wenn sie nicht mal lachen dürfen!
„Genauso ist es“, pflichtete ihm der Junge tonlos bei. Himmel-Herrgott-Sakrament, können die sogar meine Gedanken lesen?, fuhr es Reinhard durch den nicht mehr vorhandenen Kopf.
Der Lichtring des Alten begann sich wie wild über seinem Kopf zu drehen, bis er schliesslich aufglühte.
„Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen. Der Herr wird den nicht unge-straft lassen, der seinen Namen missbraucht.“
Oh ja, natürlich. Verzeih mir bitte. Es wird auch nie mehr vorkommen!, versicherte Reinhard so schnell er konnte. Der Lichtring des Alten blieb stehen und hatte bald wieder die gewohnte goldene Färbung.
Reinhard atmete erleichtert auf, und bald war er wieder so mutig und selbstbe-wusst,dass er zu fragen wagte: Sagt mal, wo kriegt man hier was zu essen?“
„Gleich, gleich. Hier in der Nähe des Höchsten darbt keiner. Er weidet dich auf einer grünen Aue und führet dich zum frischen Wasser. Kyrie eleison“, antwortete der Jun-ge.
Und Reinhard fuhr ein Gedanke in den Kopf, so schnell, dass er ihm beim besten Wil-len nicht mehr zurück halten konnte: Wenn dieses irre Kind mein Kind wäre, hätte ich es schon längst an die Wand geklatscht!
Und der Alte meinte daraufhin, wobei sein Lichtring wieder glühte: „Nein, nein, Flügel und Schein können wir ihm noch nicht geben. Er muss sich erst läutern.“
Und damit standen Reinhard und der irre Junge wieder draussen.
„Verschliesse dein Herz nicht länger vor der Liebe unseres himmlischen Vaters. Ehre sei ihm“, riet ihm der kleine Rauschgoldengel. Ganz ehrlich, in diesem Moment be-reute Reinhard seine schrecklichen Gedanken! Er fühlte Tränen in seinen nicht mehr vorhandenen Augen und schluchzte.
Das Engelchen hob eine Hand und legte sie Reinhard auf die nicht mehr vorhandene Schulter. Und da wurde ihm so leicht und froh wie noch nie, nie, wirklich niemals vor-her.
Und du verzeihst mir wirklich?, zweifelte Reinhard.
Da sah ihm der Junge ins nicht mehr vorhandene Gesicht, mit einem Blick, so mild, so rein, so unendlich liebend, dass es Reinhard schwindlig wurde.
Und er nahm sich ganz, ganz fest vor, sich zu läutern oder läutern zu lassen. Tag und Nacht wollte er Halluluja und Hosianna und auch Kyrie eleison und Ehre sei ihm in der Höhe singen!
Und das tat Reinhard nun mit einer Inbrunst, mit einer Hingabe, wie er sie nie von sich geahnt hätte. Von irgendwo und nirgends hatte er ein Staubtuch in der Hand, und mit dem wienerte und putzte er an dem vergoldeten Stuckwerk herum. Er hatte wirk-lich allen Ernstes vor, den Himmel so zu putzen, dass der nur noch funkeln und blitzen konnte.
Er hatte auch keinen Hunger mehr, er konnte sich nicht los reissen vom Wienern und Putzen und Scheuern. Und er hörte sich singen, schön wie die drei Tenöre: Halleluja, Hosianna in der Höhe und Ehre sei dir! Und auch jeder Gedanke an irgend etwas an-deres war aus seinem nicht mehr vorhandenen Kopf verschwunden. Wie weg gebla-sen.
Und dann fühlte er wieder diese eine, diese wunderbare Hand auf seiner nicht mehr vorhandenen Schulter. Seinen nicht mehr vorhandenen Körper durchrieselte es heiss und kalt. Das Rauschgoldengelchen, Himmel (oh Verzeihung, bitte!), sowas wunder-wunder-himmlisch Hübsches und Schnuckliges hatte er noch nie gesehen – liess sein super-weiches Stimmchen hören: „Komm zum Essen. Komm mit mir.“
Ja!, jubilierte Reinhard. Ich komm mit dir, wohin immer du willst!
Das Engelchen nahm sein Händchen von Reinhards nicht mehr vorhandener Schulter.
„Bitte denk nicht solche Sachen. Halleluja und Ehre sei dem Höchsten.“
Und furchtbar erschrak Reinhard. Oh bitte, verzeih! Ich will mich ja läutern und auch läutern lassen, ich will büssen und putzen und scheuern, und alles, alles tun, was du verlangst!
Da lächelte der Junge sein mildes, reines, unendlich liebendes Lächeln und legte sein wunderschönes Händchen, so weich und zart, auf Reinhards nicht mehr vorhandene Schulter.
Und wieder durchrieselte es ihn, und er schämte sich dafür.
„Ja, so ist es recht. Halleluja, du hast es fast geschafft. Weißt du, wenn du dich schämst für solche Gedanken, bist du auf dem besten, dem wirklich allerbesten Weg. Oh, ich weiss es genau. Du wirst der beste Engel werden, den wir je hatten. Ja, schä-me dich, schäme dich, und schäme dich in Grund und Boden, du hast wirklich und wahrhaftig allen Grund dafür! Und ich schwöre dir beim Namen des Allmächtigen, noch heute Nacht wirst du mit mir im Paradiese sein!“
Reinhard stand wie versteinert. Nun konnte er weder denken noch irgend ein Wort über die nicht mehr vorhandenen Lippen bringen. So hatte er das süsse, irre Engel-chen noch nie erlebt! Nicht mehr tonlos und unbeteiligt war seine Rede, nein, nein, es legte sich so ins Zeug, für ihn, nur für ihn!!, dass es Reinhard kohlrabenschwarz vor Augen wurde.
Und noch heute Nacht würde er mit diesem göttlichen Wesen im Paradiese sein!
Reinhard wurde es so puddingweich in den nicht mehr vorhandenen Beinen, dass das Engelchen ihn stützen musste. Und Reinhard fühlte weder Boden noch Wolken noch sonstwas unter seinen nicht mehr vorhandenen Füssen. Der ganze Himmel war in ein Rosa getaucht, in ein Rosa und ein Gold und ein Silber, dass Reinhard alle Sterne sämtlicher Universen vor sich tanzen sah, und dann erreichten alle himmlischen Chöre seine nicht mehr vorhandenen Ohren.
Arm in Arm tanzte er mit dem süssesten und hübschesten und göttlichsten aller Engel durch den Himmel und sang aus voller Kehle: Halleluja und dem Herrn ein Wohlgefal-len!
Und das Engelchen freute sich so sehr über Reinhards Läuterung, dass es wohl wirk-lich nicht mehr anders konnte, als ihm einen Hauch von einem allersüssesten Kuss auf die nicht mehr vorhandene Wange zu drücken.
Und von hieran wusste, dachte, sagte Reinhard nichts mehr. Wie im Traum liess er sich an einen langen Tisch führen, setzte sich und schaufelte wie ein Automat das Manna in sich hinein, bis er beim besten Willen nicht mehr konnte. Und wie das schmeckte! Welch göttliche Himmelsspeise, welch elyssisches Engelsbrot!
Und Reinhard jauchzte und jubilierte in einem fort, während er den Tisch abräumen und putzen half: Mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Halleluja, halleluja! Und noch heute Nacht werde ich mit ihm im Paradiese sein!!!
Reinhard wuchs förmlich über sich selbst hinaus. Oh wie herrlich, wie wunderbar war es im Himmel!
Also nur schämen musste er sich, in Grund und Boden und was weiss er noch wohin schämen, und dann würde das Wunderbare, das Eine geschehen!
Und wie er sich jetzt schämte! Er wurde rot und blass, ihm wurde schlecht, so himm-lisch schlecht vor seinen eigenen schrecklichen Gedanken, dass ihm so schwindlig wie noch nie zuvor wurde. Schwarz wurde ihm vor Augen, und dann wieder golden, er sah Myriaden von Galaxien, Universen und Dimensionen tanzen und sich drehen. Und dann schlug er die Hände vors nicht mehr vorhandene Gesicht und schämte, schämte, schämte sich.
Da endlich kam das Engelchen zurück. „Komm mit mir. Du hast dein Tagewerk voll-bracht. Der Höchste wird es sehen, und es wird sehr gut vor seinem Angesicht sein.“
Meinst du wirklich?, zweifelte Reinhard.
„Ja wirklich und wahrhaftig und bei allen Heiligen. Komm nun mit mir, denn so schnell und vollkommen wie du hat sich noch kein Engel geläutert, solange Himmel und Erde stehen. Komm mit mir, denn nun bekommst du auch Flügel und Schein!“
Ja! Und dann bin ich deinesgleichen! Oh Halleluja und Hosianna in der Höhe!
„Nein, nein!“, wehrte das himmlischste Wesen von allen ab. „Du stehst weit, weit über mir. Ich will dir keine allzu grossen Hoffnungen machen, aber wahrscheinlich ernen-nen sie dich sofort zum Erzengel. Und ich bin ja nur ein kleiner, unscheinbarer Hilfsengel, wie es sie zu Myriaden gibt.“
Und da wuchs Reinhard noch mehr über sich hinaus. Er schwebte mit dem Rauschgol-dengelchen zu der funktionslosen Tür und trat mit ihm ein.
Und da war auch der andere Engel, der von irgendwo und nirgends einen riesengro-ssen, in allen Farben des Regenbogens funkelnden Ring aus Licht brachte und Flügel wie von einem riesigen, wunderbar reinweissen Schwan.
Reinhard sah diese wunderbaren Dinge, und er sah das süsseste aller Engelchen, und er wusste nicht, wie es geschah. Plötzlich hatte er es im Arm, und seine Gedanken, seine allerschlimmsten und schrecklichsten Gedanken überschlugen sich.
Und obwohl er sich so sehr schämte wie er nur konnte, ertönte plötzlich ein solcher Donnerschlag, dass Reinhard, das Engelchen und der Verwalter der Flügel und der Scheine mit der Minute zu Boden stürzten und sich die Ohren zuhielten.
Trotzdem hörten sie eine fürchterlich furchtbare Stimme von irgendwo und nirgends, sie sahen Blitze, und ein Feuerregen fiel auf sie herab, dass der Himmel an all seinen Ecken und Enden lichterloh aufloderte.
Und die furchtbare Stimme rief: „Ich bin der Herr, dein Gott! Du sollst keine Götter haben neben mir!!!“ Sie überschlug sich voller Zorn und kreischte: „Hinaus mit diesem Frevler! Hinaus, hinaus und nur hinaus! Das ist ein Greuel vor meinen göttlichen Au-gen! Ich vernichte all meine Werke, ich zerstöre alles, was meine göttlichen Hände je geschaffen haben! Dies ist nicht Bild von meinem Bilde! Hinaus und nur hinaus!!!“
Reinhard wurde von einem wahren Feuersturm so gewaltig hoch gerissen, dass sein ganzer nicht mehr vorhandener Körper genauso aufloderte und brannte wie der ganze weite Himmel. Und als er stand, sah er vor sich einen Engel stehen, einen Engel, so riesig und so blendend, funkelnd, feurig, dass Reinhard seine nicht mehr vorhandenen Augen bedecken musste und dennoch vor Schmerz laut schrie.
Gabriel – denn niemand anders war diese Feuergestalt – packte ihn hart und fuchtelte mit seinem Schwert aus purem Feuer so nah vor Reinhard herum, dass ihm Angst und Bange wurde.
Er schleppte ihn zum Himmelstor, riss es auf und verpasste Reinhard einen solchen Arschtritt, dass ihm alle Sinne schwanden und vergingen.
Als er wieder zu sich kam, stand er mutterseelenallein in einer wahrlich schaurigen Gegend. Überall lagen rot glühende Steine herum, und Reinhard musste sehr achtge-ben, dass er auf keinen von ihnen trat. Aus Ritzen im Boden schossen heisse Rauch-fontänen und auch manchmal ein grösseres oder kleineres Feuer. Es stank penetrant nach Schwefel, und ein Wimmern, Heulen und Zähneklappern war in der Luft,dass Reinhard am liebsten auf allen Vieren oder sonstwie zurück, zurück, und nur noch zurück gekrochen wäre.
Er sah sich um. Nein, von hier führte kein Weg zurück. Und er verfluchte sich, wie er sich noch nie verflucht hatte: Warum konnte ich mich auch nicht ein kleines bisschen zusammen nehmen? Die da oben hatten ja wirklich wahre Engelsgeduld mit mir. Aber ich sehe es ein, ich habe mich absolut unmöglich benommen!
Reinhard fühlte Tränen der Reue aus seinen Augen schiessen. Aber hier war nichts, wohin er sich hätte setzen können, um sich richtig auszuheulen.
Ja, dann muss es wohl sein. Oh, sie werden mich bei lebendigem Leibe in Öl sieden, sie werden mich zerstückeln, zermalmen und aufspiessen, und sie werden ihren teufli-schen Spass dabei haben! Und wie recht geschieht es mir! Oh, ich weiss es, ich weiss es: Ich bin der absolut Schlimmste und Verdorbenste von allen!!!
Und ihm kamen die Horrorbilder des Hieronymus Bosch in den Sinn, das machte alles noch viel, viel schlimmer.
Er fasste sich den kläglichen Rest seines verdorbenen Herzens und ging auf die gro-sse, rot glühend dampfende Eisentür zu und überlegte, wie er hier wohl klopfen sollte. Sein Blick fiel auf einen Stein, den er vorsichtig, erst mit einem einzigen Finger, be-rührte.
Hurra, kalt war er! Herrlich kalt. Und diesen Stein nahm Reinhard auf und warf ihn mit aller Kraft gegen diese schreckliche Tür. All seine Wut, die er auf seine dreimal ver-dammte Schlechtigkeit, Verdorbenheit und Dummheit hatte, legte er in seine Muskeln.
Und es gab einen schier höllischen Lärm. Nein, dies war nicht der Lärm von seinem Steinwurf, das war, nein, das konnte nicht sein! Reinhard hörte angestrengt hin und wirklich: Da schrie Michael Jackson einen seiner perversen Songs!
Das ist eine Falle, war sich Reinhard sicher. Sie wollen mich in Sicherheit wiegen, um mich danach erst richtig martern und quälen zu können! Und das müssen sie auch tun, oh, sie müssen mich bis in alle Ewigkeiten hinaus foltern!
Die Tür schwang auf. Sie quietschte kein kleines bisschen, so gut geölt war sie.
Na, Öl haben sie hier ja im reinen Überfluss!, dachte Reinhard und staunte über sei-nen Galgenhumor.
„Hey!“, tönte eine Stimme, die er nur zu gut kannte.
Noch eine Falle? Oh, was sind die gemein, gemein, und nur noch gemein! Oh, diese Teufel, diese bösen, gemeinen Teufel!
Reinhard fühlte schon wieder heisse Tränen im Hals. Und endlich wagte er zögernd die Augen aufzuschlagen und dem Satan ins Gesicht zu sehen.
Aber was war denn das? Konnte das denn möglich sein?
Das war nicht der Teufel! Nein, so hatte er sich den schrecklichen Höllenfürsten ganz gewiss nicht und niemals vorgestellt!
Vor ihm in der weit geöffneten Tür stand der tuntige Wirt aus der Schwulenkneipe, in der Reinhard so manche Nacht gezecht hatte! Und er grinste übers ganze Gesicht.
Reinhard stand wie versteinert.
„Was ist denn los mit dir? Brauchst du erst ´ne schriftliche Einladung? – Na, komm schon rein, hier draussen stinkt´s mir zu sehr.“
Und damit packte ihn der Wirt am Arm und zerrte ihn ins Innere des schrecklichen Ortes.
Reinhard wartete förmlich auf einen Spritzer siedenden Öles ins Gesicht, auf den Stich eines Spiesses oder Ähnliches, und er kniff die Augen zu.
Aber nichts, absolut nichts kam. Und ein Johlen und Schreien und Gröhlen war aus dem Nebenraum zu vernehmen.
Hier geht´s ja noch schlimmer zu als Hieronymus Bosch gemalt hatte, fuhr es ihm heraus.
Der tuntige Wirt lachte.
„Ja, da könntest du recht haben. Guter Vergleich, echt jetzt. Aber komm erst mal, die Anderen werden sie freuen, dass du da bist!“
Das kann ich mir vorstellen, so gemein waren die ja schon immer! – Übrigens, welche Anderen denn in Drei-Teufels-Namen?, dachte Reinhard und schwankte wie ein Auto-mat so willenlos der Tunte hinterher, wohin sie ihn auch führte.
Alles vorbei. Ade du schöne Welt.
Reinhard staunte über seinen Mut, als er, zwar noch immer schwankend und knie-schlotternd, aber sonst doch aufrecht wie ein Mann, dem Wirt folgte. Der öffnete die Tür zum Nebenraum, aus dem das Johlen und Schreien kam.
Und Reinhard glaubte zu träumen oder einer Fata Morgana zum Opfer gefallen zu sein. Er stand in einer riesen-riesengrossen Kneipe, die ihm auf Anhieb furchtbar sympathisch war. Es roch wunderbar nach Alkohol und abgestandener Geilheit. Rauchschwaden hingen wie Nebelschleier in der Luft.
„Schaut mal, wen ich hier bringe!“, übertönte die Tunte das Geschrei.
„Reinhard! Unser alter Reinhard ist da! Hey- hoo, jetzt geht´s aber rund hier!“, und „Hoch die Tassen! Ein Prosit der Gemütlichkeit! Komm setz dich, alter Junge!“ und „Jetzt geht die Party richtig los!“, brüllte es ihm lallend in die Ohren. Und die Stim-men, die kannte Reinhard alle aus den vielen, vielen feucht-fröhlichen Nächten in der Schwulenkneipe.
Ungläubig riss er die Augen auf. Ja tatsächlich, da sassen, lagen und schwankten sie alle, alle, alle! All seine Kumpane, ob hetero, schwul, bi oder sonstwas – und durstig, höllisch durstig waren sie alle.
Alle sassen sie fröhlich und guter Dinge hier, sie wurden weder gespiesst noch gebra-ten oder gesotten oder gemartert. Nein, sie hatten einen Riesenspass nach dem an-deren, sie lachten, küssten, diskutierten, stritten, liebten, schlugen und vertrugen sich und brüllten durcheinander.
Von irgendwo und nirgends hatte Reinhard plötzlich ein riesiges, lecker kühles Pils in der Hand und prostete den Anderen zu. Und dann sass er auch schon in ihrer Mitte und fühlte sich so toll wie seit langem nicht mehr.
Und auch seinen Körper hatte Reinhard wieder! Nicht den alten gebrechlichen, den er zuletzt auf Erden hatte. Nein, nein, Reinhard war jung und knusprig anzusehen! Und er fühlte sich auch entsprechend prächtig in seinem tollen Körper.
Hoppla!
Früher? Später? Gestern? Morgen? Wie konnten ihm solche Worte ins Hirn kommen? Hier musste es Zeit geben, die herrliche und kostbare Zeit, die man vergammeln, vertrinken , verreden, verbummeln konnte!!
„Wir sauf´n den Met, bis keiner mehr steht, oder wie steht das bei Werner aus´m Brösel-Verlach?“, lallten sie los, und solche Sachen hatte sich der gute Reinhard noch nie zweimal sagen lassen.
Aber dann kam ihm ein Gedanke, dass ihm kein Pils und auch kein Schnaps mehr schmeckte.
Sag doch mal, stiess der die Tunte an, und wann kommt denn jetzt der Teufel?
„Der wie bitte?“
Reinhard fasste sich an den Kopf, den er endlich wieder hatte und wunderte sich ein bisschen, dass er offensichtlich mit seinem Kopf die Kunst des Denkens nicht mehr beherrschte.
„Hört her, hört her!“, brüllte die Tunte. „Reinhard fragt, wann der Teufel endlich kommt!!“
Aus höllischem Gelächter konnte Reinhard heraus hören: „Vielleicht willst du noch eine Audienz beim Osterhasen, oder was?“
Aber ...
„Nichts Aber, du Idiot“, brachte die Tunte endlich raus. Tränen standen ihr in den Au-gen, so sehr musste sie lachen.
„Falls du es noch nicht geschnallt haben solltest, den Teufel und die Wannen mit sie-dendem Öl und die Spiesse und Gabeln und Säbel und all den Quatsch haben die da oben erfunden ...“
Nö, du. Lass mal deine Witze. Mir ist es total ernst damit. Draussen vor der Tür stinkt´s nach Schwefel und ...“
„Ja, und? Von Kulissen hast du noch nie gehört, oder wie?“
Ku-ku-ku – was? Reinhard war wie vor den endlich wieder vorhandenen Kopf geschla-gen.
„Kulissen, mein Schatz! K-U-L-I-S-S-E-N!“, half ihm die Tunte drauf. „Theater. Show. Balla balla. Häng mäng. Und jetzt geh endlich von der Leitung runter, du Süsser. Bitte verdirb uns nicht die Laune.“
Reinhard konnte richtig hören, wie es in seinem Hirn KNACK machte. Er fiel der Tunte um den Hals und weinte und lachte und konnte sich lange, lange nicht mehr beruhi-gen.
Nach dem x-ten Pils gluckste Reinhard: Stellt euch bloss vor, ich war im Himmel!
„Wissen wir bereits, nichts Neues!“, grinste die Tunte. „Aber lass mal hören: Was hast du denn so grausam Furchtbares angestellt, dass sie dich hierher an den Ort der tau-send Schrecken gebracht haben?“
Totenstille war fast mit Händen zu greifen. Alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf Reinhard, und der schämte sich in Grund und Boden. Die Tunte stiess ihn an.
„Na, zier dich nicht, erzähl schon. Hier wird niemand auf die Folter gespannt!“
Und Reinhard griff sich die Dreiliter-Schnapsflasche und trank, bis er den Mut hatte das Schreckliche auszusprechen.
Ich hab mich in ein kleines, süsses, aber total irres Engelchen verknallt ...
Und noch immer war Totenstille. Reinhard senkte den Kopf und schämte sich so grau-sam, dass er sich ganz, ganz weit weg wünschte.
Die Tunte nahm ihn in den Arm und sah ihm ziemlich sauer in die endlich wieder vor-handenen Augen.
„Verarsch uns nicht, du Idiot. Alles, bloss das nicht. Das nehmen wir dir niemals ab. Du doch nicht.“
Doch, flüsterte Reinhard mit krampfhaft zugekniffenen Augen, legte den Kopf an die Schulter der Tunte und wollte bloss noch heulen.
Aber da brach ein wahrer Höllensturm in der Hölle los, Flaschen und Gläser flogen durch die Gegend, und der grosse Tisch fiel um.
Reinhard sah hoch.
Nein, das gibt´s nicht, das könnt ihr doch nicht tun, überlegt mal, ihr Idioten, was gibt´s denn da zu Lachen?
Aber er konnte schreien so laut er konnte, beim besten Willen konnte er diesen Lärm nicht übertönen. Reinhard war gewiss noch niemals ein Kind von Traurigkeit, aber Leute, die so lachen, hatte er noch nie erlebt. Sie wälzten sich auf dem Boden, stöhnten und gingen im wahrsten Sinne des Wortes die Wände hoch.
Und schliesslich japsten sie nur noch: „Reinhard, Reinhard, wir sterben, wir sterben!“
Doch da sie ja längst schon gestorben waren, sassen sie noch bis in alle Ewigkeiten and had a very, very good time.